Die Sowjetunion unter Stalin war ein Ort, an dem Terror und Gewalt herrschten, in der öffentlichen Propaganda aber wurde sie zeitgleich als Hort der 'Brüderlichkeit' und 'Völkerfreundschaft' inszeniert. Die Kulturpolitik jener Jahre zielte auf eine sowjetweite Repräsentation der nationalen Kulturen und die Etablierung einer 'multinationalen' Sowjetliteratur bzw. Sowjetkultur. Ungeachtet der ideologischen Gleichschaltung war das Arsenal von Figuren des Nationalen keineswegs für alle gleich, sondern hing von den jeweiligen geschichtlichen und (religions-)kulturellen Traditionen der einzelnen Völker ab.
Am Beispiel Georgiens lassen sich kulturelle Phänomene - wie etwa die Kolchis, das georgische Pantheon nationaler Heroen oder die Figur des mittelalterlichen Dichters Sota Rust'aveli - als 'Figuren des Nationalen im Sowjetimperium' untersuchen. Georgien ist nicht nur deshalb ein interessantes Beispiel, weil Stalins Heimat in den offiziellen Diskursen viel Aufmerksamkeit erhielt.
Die georgische Kultur - und damit gleichsam die Sowjetkultur generell - ließ sich auch durch ihre weit in die Vergangenheit zurückreichende kulturelle Tradition als eine besonders alte Kultur inszenieren.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Am Beispiel Georgiens lassen sich kulturelle Phänomene - wie etwa die Kolchis, das georgische Pantheon nationaler Heroen oder die Figur des mittelalterlichen Dichters Sota Rust'aveli - als 'Figuren des Nationalen im Sowjetimperium' untersuchen. Georgien ist nicht nur deshalb ein interessantes Beispiel, weil Stalins Heimat in den offiziellen Diskursen viel Aufmerksamkeit erhielt.
Die georgische Kultur - und damit gleichsam die Sowjetkultur generell - ließ sich auch durch ihre weit in die Vergangenheit zurückreichende kulturelle Tradition als eine besonders alte Kultur inszenieren.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.05.2015Die lebensgefährliche Formel Stalins
Es kann jederzeit wieder geschehen: Das alte Kulturland schaut nach Europa, lebt aber in dem bedrohlichen Schatten des übermächtigen russischen Nachbarn. Ein Blick auf das fragile Schicksal Georgiens.
Das Fortleben der Nation war eines der zahlreichen Paradoxe, aus denen die stalinistische Sowjetunion bestand. Das sozialistische Imperium sah sich einerseits als Modell und Keimzelle eines proletarischen Weltstaats; andererseits aber setzte es sich zusammen aus fünfzehn nationalen Republiken, der politischen Organisationsform des besiegten Bürgertums.
Wo nationale Kulturen existierten, wie in der Ukraine oder Armenien, wurden sie aufwendig gepflegt. Wo es sie nicht gab, wie in den mittelasiatischen Unionsrepubliken, wurden sie erfunden. "Es mag sonderbar erscheinen", sagte Stalin auf dem sechzehnten Parteitag der KPdSU 1930, "dass wir Anhänger des Aufblühens der nationalen Kulturen im gegenwärtigen Augenblick, in der Periode der Diktatur des Proletariats, sind. Aber daran ist nichts Sonderbares." Vielmehr verfolgte das "dialektische Wesen des Leninschen Herantretens an die Fragen der nationalen Kultur" die Logik einer kulturellen Schwitzkur.
Bevor das Nationale überwunden werden und eine globale kommunistische Weltkultur entstehen konnte, mussten die verschiedenen Nationalkulturen alle ihre Möglichkeiten vollständig entfalten. Unter streng zentralstaatlich-kommunistischer Lenkung, versteht sich.
Das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL), eines der drei Berliner Geisteswissenschaftlichen Zentren, erforscht "die Prägung der Moderne durch vormoderne, insbesondere religiöse Begriffe, Praktiken und Deutungsmuster". In Kooperation mit der Ilia-Universität Tiflis beschäftigt sich das ZfL zum Beispiel mit den "kulturellen Semantiken" der Schwarzmeerregion und besonders Georgiens zwischen Europa und Orient. Von 2008 bis 2010 lief das Forschungsprogramm "Aporien forcierter Modernisierung: Figurationen des Nationalen im Sowjetimperium", dessen Ergebnisse jetzt in Gestalt eines originellen und wissenschaftlich gediegenen Buchs von Giorgi Maisuradze und Franziska Thun-Hohenstein vorliegen.
Für die Erforschung der sowjetischen Nationalitätenparadoxie bietet Georgien einen günstigen Beobachtungsstandpunkt. Die georgische Kultur ist viel älter als zum Beispiel die russische. Sie durchlief ihre Phase bürgerlich-nationaler Selbstfindung zwar spät, aber vollständig und vorschriftsgemäß - inklusive der Erfindung einer Nationalliteratur, der Idealisierung der nationalen Landschaft, Geschichte und Sprache, der Verehrung des Schriftstellers als eines nationalen Propheten und der Frau aus dem Volk als dessen Muse sowie der Inthronisation nationalkultureller Stifterfiguren aus der Vergangenheit.
Die kurze Periode menschewistisch-sozialdemokratischer Herrschaft in Georgien von der Oktoberrevolution bis zur Eroberung durch die Rote Armee 1921 brachte es mit sich, dass lebendige symbolistische und sogar suprematistische Künstler- und Schriftstellermilieus hier bis in die frühen dreißiger Jahre mit der stalinistischen Kulturpolitik koexistierten. Und vor allem war Stalin, der die bolschewistische Nationalitätenpolitik vor der Revolution konzipiert hatte und sie inzwischen als Alleinherrscher exekutierte, nicht nur georgischer Herkunft, sondern auch ein enthusiastischer Leser und ein intimer Kenner der georgischen Literatur und Kultur.
In Georgien kannte man Josif Dschugaschwili vor seiner kriminellen und politischen Karriere als Lyriker. Seine national-sentimentalen Gedichte hatte Ilia Chavchavadze (die wichtigste kulturelle Figur jener Selbstfindung georgischer Nationalität) in seiner Zeitschrift "Iweria" gedruckt, was einem literarischen Ritterschlag gleichkam. In den frühen dreißiger Jahren erfand Stalin die bekannte Kompromissformel des sowjetischen Nationalitätenparadoxes: "Sozialistisch im Inhalt, national in der Form" sollten Architektur, Kunst, Literatur, Volkstanz, Theater und Mode in den assoziierten sozialistischen Republiken werden. Giorgi Maisuradze und Franziska Thun-Hohenstein zeichnen mit klug ausgewählten farbigen Illustrationen und prägnanten Textbeispielen nach, wie die georgischen "Ingenieure der menschlichen Seele" mit dieser staatlich gestellten Aufgabe zurechtkamen.
Den meisten von ihnen ist sie sehr schlecht bekommen. Paolo Iaschwili, ein begabter Symbolist, der die Rote Armee 1921 enthusiastisch an den Tifliser Stadtgrenzen empfangen hatte und 1934 auf dem Allunions-Schriftstellerkongress eine begeistert kommunistische Rede hielt, erschoss sich im Tifliser Schriftstellerhaus, um Schlimmerem zuvorzukommen. Sein Freund, der geniale Lyriker Tician Tabidze, fiel der GPU zum Opfer. Dessen Cousin Galaktion Tabidze überlebte als Alkoholiker, Museumsgründer und Staatsschriftsteller, bis er sich 1959 tief deprimiert in einem psychiatrischen Hospital umbrachte. Der Essayist Grigol Robakidze starb im Exil.
Andere aber, wie der Romancier Konstantine Gamsachurdia, Vater des ersten postkommunistischen Präsidenten Georgiens, oder der Historiker Simon Janashia drehten die Stalinsche Kompromissformel subtil und subversiv um. "Stalins Formel ... wird hier abgewandelt bzw. sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Das Sozialistische wird zur Form und dem Nationalen untergeordnet." In dieser listig halboppositionellen Gestalt überlebten die sowjetisch neukodierten romantischen Pathosformeln des "Sonnigen Georgien", des antiken "Kolchis", der "ältesten Nationalität auf sowjetischem Boden" und des "sowjetischen Italien" die Breschnew-Jahre - die vielleicht glücklichsten, prosperierendsten und friedlichsten des georgischen zwanzigsten Jahrhunderts.
Nach 1991 standen sie dem erneuten nationalen Aufschwung und Exzess bruchlos zur Verfügung. Das Georgien der Gegenwart befindet sich prekär und chancenreich zwischen sowjetischer Vergangenheit und westlicher Moderne, zwischen reaktionärer Orthodoxie und einer Orientierung an Europäischer Union und Amerika, die in der Saakashwili-Ära oft genug als Modernisierungstyrannei auftrat. In dieser zukunftsträchtigen, aber auch gefährlichen Gemengelage des Landes bietet das Buch eine instruktiv und spannend zu lesende Navigationshilfe. Es ist ihm eine Übersetzung ins Georgische sehr zu wünschen.
STEPHAN WACKWITZ
Giorgi Maisuradze, Franziska Thun-Hohenstein: "Sonniges Georgien". Figuren des Nationalen im Sowjetimperium.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2015. 376 S., Abb., br., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Es kann jederzeit wieder geschehen: Das alte Kulturland schaut nach Europa, lebt aber in dem bedrohlichen Schatten des übermächtigen russischen Nachbarn. Ein Blick auf das fragile Schicksal Georgiens.
Das Fortleben der Nation war eines der zahlreichen Paradoxe, aus denen die stalinistische Sowjetunion bestand. Das sozialistische Imperium sah sich einerseits als Modell und Keimzelle eines proletarischen Weltstaats; andererseits aber setzte es sich zusammen aus fünfzehn nationalen Republiken, der politischen Organisationsform des besiegten Bürgertums.
Wo nationale Kulturen existierten, wie in der Ukraine oder Armenien, wurden sie aufwendig gepflegt. Wo es sie nicht gab, wie in den mittelasiatischen Unionsrepubliken, wurden sie erfunden. "Es mag sonderbar erscheinen", sagte Stalin auf dem sechzehnten Parteitag der KPdSU 1930, "dass wir Anhänger des Aufblühens der nationalen Kulturen im gegenwärtigen Augenblick, in der Periode der Diktatur des Proletariats, sind. Aber daran ist nichts Sonderbares." Vielmehr verfolgte das "dialektische Wesen des Leninschen Herantretens an die Fragen der nationalen Kultur" die Logik einer kulturellen Schwitzkur.
Bevor das Nationale überwunden werden und eine globale kommunistische Weltkultur entstehen konnte, mussten die verschiedenen Nationalkulturen alle ihre Möglichkeiten vollständig entfalten. Unter streng zentralstaatlich-kommunistischer Lenkung, versteht sich.
Das Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL), eines der drei Berliner Geisteswissenschaftlichen Zentren, erforscht "die Prägung der Moderne durch vormoderne, insbesondere religiöse Begriffe, Praktiken und Deutungsmuster". In Kooperation mit der Ilia-Universität Tiflis beschäftigt sich das ZfL zum Beispiel mit den "kulturellen Semantiken" der Schwarzmeerregion und besonders Georgiens zwischen Europa und Orient. Von 2008 bis 2010 lief das Forschungsprogramm "Aporien forcierter Modernisierung: Figurationen des Nationalen im Sowjetimperium", dessen Ergebnisse jetzt in Gestalt eines originellen und wissenschaftlich gediegenen Buchs von Giorgi Maisuradze und Franziska Thun-Hohenstein vorliegen.
Für die Erforschung der sowjetischen Nationalitätenparadoxie bietet Georgien einen günstigen Beobachtungsstandpunkt. Die georgische Kultur ist viel älter als zum Beispiel die russische. Sie durchlief ihre Phase bürgerlich-nationaler Selbstfindung zwar spät, aber vollständig und vorschriftsgemäß - inklusive der Erfindung einer Nationalliteratur, der Idealisierung der nationalen Landschaft, Geschichte und Sprache, der Verehrung des Schriftstellers als eines nationalen Propheten und der Frau aus dem Volk als dessen Muse sowie der Inthronisation nationalkultureller Stifterfiguren aus der Vergangenheit.
Die kurze Periode menschewistisch-sozialdemokratischer Herrschaft in Georgien von der Oktoberrevolution bis zur Eroberung durch die Rote Armee 1921 brachte es mit sich, dass lebendige symbolistische und sogar suprematistische Künstler- und Schriftstellermilieus hier bis in die frühen dreißiger Jahre mit der stalinistischen Kulturpolitik koexistierten. Und vor allem war Stalin, der die bolschewistische Nationalitätenpolitik vor der Revolution konzipiert hatte und sie inzwischen als Alleinherrscher exekutierte, nicht nur georgischer Herkunft, sondern auch ein enthusiastischer Leser und ein intimer Kenner der georgischen Literatur und Kultur.
In Georgien kannte man Josif Dschugaschwili vor seiner kriminellen und politischen Karriere als Lyriker. Seine national-sentimentalen Gedichte hatte Ilia Chavchavadze (die wichtigste kulturelle Figur jener Selbstfindung georgischer Nationalität) in seiner Zeitschrift "Iweria" gedruckt, was einem literarischen Ritterschlag gleichkam. In den frühen dreißiger Jahren erfand Stalin die bekannte Kompromissformel des sowjetischen Nationalitätenparadoxes: "Sozialistisch im Inhalt, national in der Form" sollten Architektur, Kunst, Literatur, Volkstanz, Theater und Mode in den assoziierten sozialistischen Republiken werden. Giorgi Maisuradze und Franziska Thun-Hohenstein zeichnen mit klug ausgewählten farbigen Illustrationen und prägnanten Textbeispielen nach, wie die georgischen "Ingenieure der menschlichen Seele" mit dieser staatlich gestellten Aufgabe zurechtkamen.
Den meisten von ihnen ist sie sehr schlecht bekommen. Paolo Iaschwili, ein begabter Symbolist, der die Rote Armee 1921 enthusiastisch an den Tifliser Stadtgrenzen empfangen hatte und 1934 auf dem Allunions-Schriftstellerkongress eine begeistert kommunistische Rede hielt, erschoss sich im Tifliser Schriftstellerhaus, um Schlimmerem zuvorzukommen. Sein Freund, der geniale Lyriker Tician Tabidze, fiel der GPU zum Opfer. Dessen Cousin Galaktion Tabidze überlebte als Alkoholiker, Museumsgründer und Staatsschriftsteller, bis er sich 1959 tief deprimiert in einem psychiatrischen Hospital umbrachte. Der Essayist Grigol Robakidze starb im Exil.
Andere aber, wie der Romancier Konstantine Gamsachurdia, Vater des ersten postkommunistischen Präsidenten Georgiens, oder der Historiker Simon Janashia drehten die Stalinsche Kompromissformel subtil und subversiv um. "Stalins Formel ... wird hier abgewandelt bzw. sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Das Sozialistische wird zur Form und dem Nationalen untergeordnet." In dieser listig halboppositionellen Gestalt überlebten die sowjetisch neukodierten romantischen Pathosformeln des "Sonnigen Georgien", des antiken "Kolchis", der "ältesten Nationalität auf sowjetischem Boden" und des "sowjetischen Italien" die Breschnew-Jahre - die vielleicht glücklichsten, prosperierendsten und friedlichsten des georgischen zwanzigsten Jahrhunderts.
Nach 1991 standen sie dem erneuten nationalen Aufschwung und Exzess bruchlos zur Verfügung. Das Georgien der Gegenwart befindet sich prekär und chancenreich zwischen sowjetischer Vergangenheit und westlicher Moderne, zwischen reaktionärer Orthodoxie und einer Orientierung an Europäischer Union und Amerika, die in der Saakashwili-Ära oft genug als Modernisierungstyrannei auftrat. In dieser zukunftsträchtigen, aber auch gefährlichen Gemengelage des Landes bietet das Buch eine instruktiv und spannend zu lesende Navigationshilfe. Es ist ihm eine Übersetzung ins Georgische sehr zu wünschen.
STEPHAN WACKWITZ
Giorgi Maisuradze, Franziska Thun-Hohenstein: "Sonniges Georgien". Figuren des Nationalen im Sowjetimperium.
Kulturverlag Kadmos, Berlin 2015. 376 S., Abb., br., 26,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main