Die Bilder von Sophie Scholl kennt jeder: Die dramatischen Filmszenen im Lichthof der Münchner Universität haben sich ins kulturelle Gedächtnis eingefräst. Man erinnert die todesmutige Verteidigerin der Menschlichkeit vor dem Volksgerichtshof. Doch hinter der Ikone droht der Mensch zu verschwinden: jene junge Frau, die Liebe und Freundschaft auf äußerst verwirrende und widersprüchliche Weise erlebte. Die sich viele Jahre begeistert im Bund Deutscher Mädel engagierte. Die hohe Ideale hatte und nur langsam erkannte, dass der Nationalsozialismus sie aufs Brutalste verriet. 1942 schreibt Sophie: "Habe ich geträumt bisher? Manchmal vielleicht. Aber ich glaube, ich bin aufgewacht". Auf der Basis von bislang unveröffentlichtem Quellenmaterial zeigt uns Robert M. Zoske Sophie Scholl im neuen Licht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2021Wach sei der Geist und weich das Herz
Von der Hitlerjugend zum entschiedenen Widerstand: Zwei Biographien nähern sich Sophie Scholl auf komplementären Wegen
Die Abiturientin hatte sich eine denkbar schwierige Lektüre vorgenommen. Zeile für Zeile suchte sie in die " Bekenntnisse" des Augustinus einzudringen. In der Zwiesprache mit Gott schildert der Autor dort seine Bekehrung vom Unglauben zum Glauben, aus der Oberflächlichkeit zum Wesentlichen des Lebens. Als eine Bekehrungsgeschichte erzählt der Theologe Robert M. Zoske das Leben Sophie Scholls, deren Geburtstag sich übermorgen zum hundertsten Mal jährt.
Eine solche Deutung der Widerstandskämpferin, die am 22. Februar 1943 als Mitglied der studentischen Gruppe "Weiße Rose" hingerichtet wurde, liegt durchaus nahe. Die Tochter eines schwäbischen Bürgermeisters engagierte sich gegen den Willen des Vaters in der Hitlerjugend. Im "Bund Deutscher Mädel" wurde sie zur Gruppenführerin und blieb sogar zwei Jahre länger Mitglied als üblich. Spät erst durchschaute sie den Ungeist der nationalsozialistischen Erziehung, der dort herrschte.
Auch in der Beziehung zu ihrem Verlobten Fritz Hartnagel, mit dem sie seit ihrer Schulzeit liiert war, geht es um Bekehrung - doch unter anderen Vorzeichen: Ihre Einsicht, dass der Krieg sinnlos sei, suchte sie ihm in ihren Briefen zu vermitteln. Aus dem loyalen Soldaten wurde unter ihrem Einfluss ein glühender Pazifist. Nicht zuletzt ihre religiöse Haltung zeigt alle Züge einer Bekehrung. So gab sie sich und Hartnagel Rechenschaft über ihre Gottsuche, ihr Verhaftetsein an irdische Dinge, ihre Sehnsucht nach Einsamkeit und Askese. Zoske beschreibt Sophie Scholl also als eine Ringende, Zweifelnde, Unfertige und zeigt, wie "aus einem begeisterungsfähigen, mitunter naiven Mädchen eine kritische und charakterstarke Frau" wurde.
Eine ähnliche Wandlung hatte der Autor schon vor drei Jahren in seiner Biographie ihres Bruder Hans dargelegt (F.A.Z. vom 16. September 2018). Die Übernahme von Verantwortung für die Menschen wird für Sophie Scholl zur Antwort auf die Gottesfrage, die sich nicht theoretisch beantworten lässt. Sich an einen einzigen Menschen zu binden erscheint ihr nicht mehr möglich, wenn man sich allen verpflichtet weiß. Als höchsten Wert erkennt sie die Freiheit, die es auch unter Einsatz des Lebens zu verteidigen gilt. "Man muss einen wachen Geist und ein weiches Herz haben", wird ihr schließlich zur Lebensmaxime.
Während Zoske vor allem die geistige Entwicklung rekonstruiert, geht die Journalistin und Historikerin Maren Gottschalk einen anderen Weg, indem sie minutiös Sophie Scholls Lebensstationen dokumentiert. Man erfährt manches Überraschende: Während die Mutter, eine ehemalige Diakonisse, für ihre Kinder stille Opferbereitschaft verkörperte, stand der Vater, der später als Steuerberater arbeitete, für Geradlinigkeit und Wahrheitsliebe. Vor der Gefangennahme seiner Kinder wurde der Regimegegner selbst inhaftiert. Die Autorin stellt Sophie Scholl als begeisterte Zeichnerin, begabte Musikerin und Leserin moderner Literatur vor. Die Reichspogromnacht in Ulm, wo die Familie mittlerweile lebte, scheint die Gymnasiastin noch kaum beeindruckt zu haben.
Erst als Studentin in München wurden ihr durch die Gespräche in der "Weißen Rose" die Verbrechen des Krieges und der Judenvernichtung deutlich. Sie übernahm in dem Kreis wohl vor allem organisatorische Aufgaben und kümmerte sich um den Versand der Flugblätter. An deren Redaktion scheint sie nicht beteiligt gewesen zu sein, auch wenn der christlich-humanistisch geprägte Inhalt ihrer eigenen Gedankenwelt vollauf entsprach.
Durchwachte Nächte und fieberhafte Aktivität am Tage überstand man durch Aufputschmittel, die Hans als Medizinstudent besorgen konnte. Sophie Scholls Entschiedenheit und der klare Wille, bis zum Letzten zu gehen, hatten sich schon vor der Münchner Zeit herausgebildet. Die Hingabe des Lebens nahm sie in Kauf, das machen beide Autoren deutlich. Die Aktion in der Münchner Universität, bei der man das sechste Flugblatt auslegte und die restlichen Exemplare von der Balustrade in den Lichthof warf, war jedoch für Gottschalk kein gezieltes Selbstopfer, wie es bislang zumeist gedeutet wurde: "Sophie und Hans Scholl wollten den Krieg überleben, und sie wollten frei sein." Mittäter wurden von den Geschwistern in den Verhören nicht verraten, ihre Zellengenossin im Gefängnis hielt später fest, Sophie Scholl als äußerst gefasst erlebt zu haben.
Das, was die Widerstandskämpferin gedanklich bewegt hat, ihre Lektüren und intellektuellen Begegnungen, bleibt bei Gottschalk eher blass. Hintergrundwissen wird lexikonartig abgerufen. Dafür erfährt man, dass das "ernste Mädchen" (Carl Muth) bis zuletzt stets heiter, fürsorglich, offen für Musik und Lektüre war. Sie und ihre Mitstreiter in der "Weißen Rose" waren "bei allem politischen Bewusstsein - junge Menschen, die glücklich sein wollten" (Zoske).
Die zwei Biographien stellen einen komplementären Zugang zur Gestalt Sophie Scholl dar. Die Auflösung von Legendenbildungen, um die es beiden Autoren geht, schadet dem Bild Sophie Scholls gewiss nicht. Die Hochachtung vor dieser jungen Frau wächst durch die Lektüre eher noch.
JÖRG ERNESTI
Maren Gottschalk: "Wie schwer ein Menschenleben wiegt". Sophie Scholl. Eine Biografie.
C. H. Beck Verlag, München 2020.
347 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Robert M. Zoske: "Sophie Scholl". Es reut mich nichts. Porträt
einer Widerständigen.
Propyläen Verlag, Berlin 2020.
448 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von der Hitlerjugend zum entschiedenen Widerstand: Zwei Biographien nähern sich Sophie Scholl auf komplementären Wegen
Die Abiturientin hatte sich eine denkbar schwierige Lektüre vorgenommen. Zeile für Zeile suchte sie in die " Bekenntnisse" des Augustinus einzudringen. In der Zwiesprache mit Gott schildert der Autor dort seine Bekehrung vom Unglauben zum Glauben, aus der Oberflächlichkeit zum Wesentlichen des Lebens. Als eine Bekehrungsgeschichte erzählt der Theologe Robert M. Zoske das Leben Sophie Scholls, deren Geburtstag sich übermorgen zum hundertsten Mal jährt.
Eine solche Deutung der Widerstandskämpferin, die am 22. Februar 1943 als Mitglied der studentischen Gruppe "Weiße Rose" hingerichtet wurde, liegt durchaus nahe. Die Tochter eines schwäbischen Bürgermeisters engagierte sich gegen den Willen des Vaters in der Hitlerjugend. Im "Bund Deutscher Mädel" wurde sie zur Gruppenführerin und blieb sogar zwei Jahre länger Mitglied als üblich. Spät erst durchschaute sie den Ungeist der nationalsozialistischen Erziehung, der dort herrschte.
Auch in der Beziehung zu ihrem Verlobten Fritz Hartnagel, mit dem sie seit ihrer Schulzeit liiert war, geht es um Bekehrung - doch unter anderen Vorzeichen: Ihre Einsicht, dass der Krieg sinnlos sei, suchte sie ihm in ihren Briefen zu vermitteln. Aus dem loyalen Soldaten wurde unter ihrem Einfluss ein glühender Pazifist. Nicht zuletzt ihre religiöse Haltung zeigt alle Züge einer Bekehrung. So gab sie sich und Hartnagel Rechenschaft über ihre Gottsuche, ihr Verhaftetsein an irdische Dinge, ihre Sehnsucht nach Einsamkeit und Askese. Zoske beschreibt Sophie Scholl also als eine Ringende, Zweifelnde, Unfertige und zeigt, wie "aus einem begeisterungsfähigen, mitunter naiven Mädchen eine kritische und charakterstarke Frau" wurde.
Eine ähnliche Wandlung hatte der Autor schon vor drei Jahren in seiner Biographie ihres Bruder Hans dargelegt (F.A.Z. vom 16. September 2018). Die Übernahme von Verantwortung für die Menschen wird für Sophie Scholl zur Antwort auf die Gottesfrage, die sich nicht theoretisch beantworten lässt. Sich an einen einzigen Menschen zu binden erscheint ihr nicht mehr möglich, wenn man sich allen verpflichtet weiß. Als höchsten Wert erkennt sie die Freiheit, die es auch unter Einsatz des Lebens zu verteidigen gilt. "Man muss einen wachen Geist und ein weiches Herz haben", wird ihr schließlich zur Lebensmaxime.
Während Zoske vor allem die geistige Entwicklung rekonstruiert, geht die Journalistin und Historikerin Maren Gottschalk einen anderen Weg, indem sie minutiös Sophie Scholls Lebensstationen dokumentiert. Man erfährt manches Überraschende: Während die Mutter, eine ehemalige Diakonisse, für ihre Kinder stille Opferbereitschaft verkörperte, stand der Vater, der später als Steuerberater arbeitete, für Geradlinigkeit und Wahrheitsliebe. Vor der Gefangennahme seiner Kinder wurde der Regimegegner selbst inhaftiert. Die Autorin stellt Sophie Scholl als begeisterte Zeichnerin, begabte Musikerin und Leserin moderner Literatur vor. Die Reichspogromnacht in Ulm, wo die Familie mittlerweile lebte, scheint die Gymnasiastin noch kaum beeindruckt zu haben.
Erst als Studentin in München wurden ihr durch die Gespräche in der "Weißen Rose" die Verbrechen des Krieges und der Judenvernichtung deutlich. Sie übernahm in dem Kreis wohl vor allem organisatorische Aufgaben und kümmerte sich um den Versand der Flugblätter. An deren Redaktion scheint sie nicht beteiligt gewesen zu sein, auch wenn der christlich-humanistisch geprägte Inhalt ihrer eigenen Gedankenwelt vollauf entsprach.
Durchwachte Nächte und fieberhafte Aktivität am Tage überstand man durch Aufputschmittel, die Hans als Medizinstudent besorgen konnte. Sophie Scholls Entschiedenheit und der klare Wille, bis zum Letzten zu gehen, hatten sich schon vor der Münchner Zeit herausgebildet. Die Hingabe des Lebens nahm sie in Kauf, das machen beide Autoren deutlich. Die Aktion in der Münchner Universität, bei der man das sechste Flugblatt auslegte und die restlichen Exemplare von der Balustrade in den Lichthof warf, war jedoch für Gottschalk kein gezieltes Selbstopfer, wie es bislang zumeist gedeutet wurde: "Sophie und Hans Scholl wollten den Krieg überleben, und sie wollten frei sein." Mittäter wurden von den Geschwistern in den Verhören nicht verraten, ihre Zellengenossin im Gefängnis hielt später fest, Sophie Scholl als äußerst gefasst erlebt zu haben.
Das, was die Widerstandskämpferin gedanklich bewegt hat, ihre Lektüren und intellektuellen Begegnungen, bleibt bei Gottschalk eher blass. Hintergrundwissen wird lexikonartig abgerufen. Dafür erfährt man, dass das "ernste Mädchen" (Carl Muth) bis zuletzt stets heiter, fürsorglich, offen für Musik und Lektüre war. Sie und ihre Mitstreiter in der "Weißen Rose" waren "bei allem politischen Bewusstsein - junge Menschen, die glücklich sein wollten" (Zoske).
Die zwei Biographien stellen einen komplementären Zugang zur Gestalt Sophie Scholl dar. Die Auflösung von Legendenbildungen, um die es beiden Autoren geht, schadet dem Bild Sophie Scholls gewiss nicht. Die Hochachtung vor dieser jungen Frau wächst durch die Lektüre eher noch.
JÖRG ERNESTI
Maren Gottschalk: "Wie schwer ein Menschenleben wiegt". Sophie Scholl. Eine Biografie.
C. H. Beck Verlag, München 2020.
347 S., Abb., geb., 24,- [Euro].
Robert M. Zoske: "Sophie Scholl". Es reut mich nichts. Porträt
einer Widerständigen.
Propyläen Verlag, Berlin 2020.
448 S., geb., 24,- [Euro].
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