Hellmut Flashar, international renommierter Literaturwissenschaftler, legt eine moderne und höchst anregende Darstellung von Leben und Werk des Sophokles vor. Die Tragödien dieses bekanntesten griechischen Dichters, des Schöpfers von König Ödipus und Antigone, bewegen dank ihrer ungebrochenen Aktualität auch heute noch gleichermaßen Leser und Theaterbesucher. Das Geheimnis ihrer Wirkungsmacht wird in diesem Band greifbar.
Die erhaltenen Werke des griechischen Dichters Sophokles, zu denen beispielsweise König Ödipus und Antigone gehören, sind feste Bestandteile unseres kulturellen Gedächtnisses geworden. Es vergeht kein Jahr, in dem nicht auf zahlreichen Bühnen seine Tragödien aufgeführt werden und in ihrer überzeitlichen Aktualität immer wieder aufs neue Theaterbesucher mit Grundfragen des menschlichen Lebens konfrontieren.
In diesem Band stellt mit Hellmut Flashar ein international renommierter Literaturwissenschaftler den antiken Dichter, sein Leben, seine erhaltenen Tragödien und das einzige von ihm überlieferte Satyrspiel vor. Der Autor erläutert die politische, religiöse und zeitgeschichtliche Stellung der Stücke in der Lebenswelt der Athener. Er ordnet die Werke des Sophokles literaturgeschichtlich ein, bestimmt ihr Verhältnis zu jenen der beiden anderen bedeutenden Tragödiendichter Athens - Euripides und Aischylos - und skizziert ihre Rezeptionsgeschichte.
Die Darstellung ist gleichermaßen allgemeinverständlich, informativ und anregend. Sie richtet sich daher an alle Freunde der griechischen Tragödie - sei es, daß sie diese in erster Linie als Schauspiel genießen, als Studierende besser verstehen oder als Wissenschaftler tiefer ergründen wollen.
Die erhaltenen Werke des griechischen Dichters Sophokles, zu denen beispielsweise König Ödipus und Antigone gehören, sind feste Bestandteile unseres kulturellen Gedächtnisses geworden. Es vergeht kein Jahr, in dem nicht auf zahlreichen Bühnen seine Tragödien aufgeführt werden und in ihrer überzeitlichen Aktualität immer wieder aufs neue Theaterbesucher mit Grundfragen des menschlichen Lebens konfrontieren.
In diesem Band stellt mit Hellmut Flashar ein international renommierter Literaturwissenschaftler den antiken Dichter, sein Leben, seine erhaltenen Tragödien und das einzige von ihm überlieferte Satyrspiel vor. Der Autor erläutert die politische, religiöse und zeitgeschichtliche Stellung der Stücke in der Lebenswelt der Athener. Er ordnet die Werke des Sophokles literaturgeschichtlich ein, bestimmt ihr Verhältnis zu jenen der beiden anderen bedeutenden Tragödiendichter Athens - Euripides und Aischylos - und skizziert ihre Rezeptionsgeschichte.
Die Darstellung ist gleichermaßen allgemeinverständlich, informativ und anregend. Sie richtet sich daher an alle Freunde der griechischen Tragödie - sei es, daß sie diese in erster Linie als Schauspiel genießen, als Studierende besser verstehen oder als Wissenschaftler tiefer ergründen wollen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Ist Aias glücklich? Hat Oedipus ein Problem?
Sophokles im Aristoteles-Mythos / Von Jürgen Paul Schwindt
Im Eröffnungsgespräch des Platonischen "Staates" erzählt der greise Kephalos eine hübsche Anekdote, von der man wünschen möchte, sie hätte sich so und nicht anders zugetragen. Danach will Kephalos gehört haben, wie Sophokles auf die Frage, wie es bei ihm mit den Freuden der Liebe stehe und ob er wohl noch imstande sei, einer Frau beizuwohnen, geantwortet haben: "Wahre deine Zunge, mein Bester. War es mir doch die größte Wohltat, davon loszukommen, als wäre ich einen rasenden und wilden Herrn losgeworden."
Wenig spricht dafür, daß diese Nachricht mehr Glauben verdient als etwa die Reihe mutmaßlicher Todesursachen, die die antike Biographie gesammelt hat: Danach wäre der Dichter an einer Weinbeere erstickt, hätte sich beim lauten Lesen einer langen "Antigone"-Stelle überanstrengt oder an einem Festspielsieg zu Tode gefreut. Man pflegt diese Berichte ins Kuriositätenkabinett antiker Überlieferung zu verweisen, weil sie allzu deutlich die Signatur des Improvisiert-Geschwätzigen verraten. Man vergißt jedoch über der scheinbaren Beliebigkeit mancher Mitteilungen, daß sie womöglich nicht um ihrer selbst willen tradiert wurden, sondern durch ihr mitunter spektakuläres Ansehen wichtige Überlieferungsträger der Autoren und Werke sind.
Die Kehrseite der Medaille ist die merkwürdige Unbefangenheit auch noch moderner Literaturforschung im Umgang mit den Mythen der Rezeption. Noch immer ist das Gros der Sophokles-Interpreten mit der gewaltigen Hinterlassenschaft diverser metaphysischer Erklärungsansätze vornehmlich deutscher Provenienz beschäftigt. Hegel und Hölderlin, Nietzsche und Kierkegaard haben Definitionen des Tragischen geliefert, die, jede für sich genommen, "großartig" waren und sich doch, jede in anderer Weise, von den alten Texten entfernten.
Hellmut Flashar, Emeritus der Klassischen Philologie in München, erinnert in seinem neuen Buch an den einen und anderen virtuosen Winkelzug der philosophischen Klassikerdeutung, um seine eigenen, in langjähriger Beschäftigung mit dem Gegenstand gewonnenen Einsichten desto schärfer davon abzusetzen. Die Imposanz der älteren Interpretationsmodelle ist wohl zugleich Ursache für die äußerste Zurückhaltung, die deutsche Philologen nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber einer Gesamtdarstellung des Sophokles an den Tag gelegt haben. Wenigstens ist in diesem Zeitraum nichts erschienen, was sich mit Karl Reinhardts berühmtem Sophokles-Buch (1933) nach Anspruch und Einfluß auch nur entfernt messen konnte. Angelsächsische Philologen haben mustergültige Ausgaben erarbeitet, französische Kultur- und Literaturwissenschaftler brillante, wenngleich einseitige Strukturanalysen geliefert. Reinhardts bis in die siebziger Jahre immer wieder aufgelegtes Buch aber kam der Neigung vieler deutscher Exegeten entgegen, das Ästhetische substantiell zu fassen. Es überforderte dabei zugleich ein Publikum, das sich mit dem Vorrang des "Wie?" vor dem "Was?" nicht abfinden mochte. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Interesse, auf das jüngst die politischen Sophokles-Analysen deutscher Althistoriker (Egon Flaig, Christian Meier) in der griechischen Literaturwissenschaft gestoßen sind, im Überdruß an textimmanent verfahrenden Deutungsmustern eine wichtige Voraussetzung hat.
Man wird dabei freilich nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, und so hält sich Flashars "Sophokles" von den Extremen gleich weit entfernt. Wohl faßt er schon im Titel seines Buches Sophokles als "Dichter im demokratischen Athen", erörtert aber auch religions- und institutionengeschichtliche sowie kommunikationstheoretische Fragen. Vor allem ist es jedoch sein an Aristoteles geschulter Blick auf die Strukturen des Dramas, der ihn vor jedem unverhältnismäßigen Vergleich zurückschrecken läßt. Daß gerade Aristoteles' "Poetik" zur Sicherung eines angemessenen Verständnisses der Tragödie nichts oder nur wenig beitragen kann, darf man als besondere Pointe nehmen. Aristoteles hat es unter den veränderten Bedingungen des vierten Jahrhunderts mit einer vorwiegend als Lesedrama gefaßten Tragödie zu tun und sieht vom rituell-kultischen wie zeitgeschichtlichen Kontext weitgehend ab. Er ist "Erster Rezipient" und steht der Tragödie im Prinzip "auf der gleichen Stufe gegenüber wie der neuzeitliche Theoretiker".
Griffige Definitionen der Tragödie und des Tragischen haben ihre eigene Tradition. In demonstrativer Absetzung von Lessing wie Aristoteles formuliert Flashar gleich im ersten Satz des Buches seinen umfassenden Vorbehalt. Danach ist die griechische Tragödie "kein bürgerliches Trauerspiel, das dazu bestimmt gewesen wäre, zur Erbauung, Belehrung oder Erschütterung gelesen, gelegentlich im Theater aufgeführt oder gar von der Philologie analysiert zu werden". Und doch gelingen nur auf dem Wege behutsamer philologisch-hermeneutischer Rekonstruktion Einsichten in die vielfache Bedingtheit des attischen Dramas und seiner Überlieferungsgeschichte. Daß alles auch ganz anders hätte kommen können, ist ein Gedanke, der sich wie ein roter Faden durch Flashars Untersuchungen zieht. Was, wenn statt des "Oedipus Rex", der "Antigone" und "Elektra" die jetzt verlorenen Stücke "Iobates", "Sinon" oder "Tyro" überliefert wären? Was, wenn statt des Sophokleischen "Oedipus" der des Aischylos oder Euripides? Wie kommt es, daß ein so wenig verallgemeinerungsfähiges Geschehen wie das im "Oedipus" geschilderte im europäischen Bewußtsein zu höchster Symbolträchtigkeit für die "condition humaine" sich steigerte? Dürfen wir mit Aristoteles, dem ingeniösen Erfinder der tragischen Verlaufskurve (in der Regel vom Glück ins Unglück), glauben, daß Aias, Deianeira oder Oedipus am Anfang "glücklich" waren? Im Zentrum des Buches stehen knappe Interpretationen der sieben erhaltenen Tragödien sowie des fragmentarisch überlieferten Satyrspiels "Die Spurensucher". Die stoff- und motivgeschichtlichen Einleitungen, die Aufbauskizzen und exemplarischen Besprechungen einiger Hauptprobleme, sodann die wirkungsgeschichtlichen Paragraphen, die auch die Musik- und Filmgeschichte nicht ausschließen, verraten überall nüchternen Sinn für das Wesentliche. Dem einführenden Charakter des Buches entsprechend, ist Flashar mit Hinweisen zur Textgeschichte eher sparsam verfahren. Die mit der Tragödie besser Vertrauten werden allenthalben die Handschrift des Forschers bemerken.
So erscheint ihm der episch-heroische Wertekosmos im "Aias" verrückt. Der Titelheld hat nicht nur seine Ehre, sondern seine Identität verloren. Die berühmte "Trugrede" des Aias ist "in ihrer Doppelbödigkeit auch lesbar als die metaphorische Umschreibung für den Entschluß zum Selbstmord". Um Aias' Tod als Vollendung seines Wesens, die Absage an die Welt als den einzig noch möglichen Heroismus deuten zu können, muß Flashar den Seherspruch des Kalchas, wonach die Göttin den Helden nur diesen einen Tag mit ihrem Zorn verfolge, zur dramaturgischen Petitesse abwerten. Ist das szenische Arrangement nicht auf der Höhe der gedanklichen Kunst? Oder unterschätzt man seine tragische Wirkung, wenn man es nur zur Oberflächenstruktur der Tragödie rechnet, die ausnahmsweise nicht mit der Tiefenstruktur der Fabel kongruiert?
Daß man die Tragödien des Sophokles nicht auf Formeln ziehen kann, macht Flashar an mehr als einem Beispiel deutlich. Die "Antigone" erschöpft sich nicht im Ausdruck des Konflikts zweier gleichberechtigter Prinzipien (Hegel). Die Heldin wächst in ihrer selbstgewählten Isolation über die Erfahrungswelt der Polis hinaus. Es ist schön gesehen, daß in der Schlußszene das "Untragische, das Gegenteil von Größe, das ,Nichts' übrigbleibt. So endet die Katastrophe im Nichts." Oedipus ist nicht die Präfiguration des europäischen Wahrheitssuchers. Er tut das Gegenteil dessen, was er vernünftigerweise tun müßte, um die Erfüllung der Orakelsprüche zu verhindern. Er ist "für sein Scheitern gerade dann verantwortlich, wenn er vorher eigens gewarnt worden ist".
Das Tragische der Sophokleischen Tragödie liegt, so Flashar im Anschluß an Schadewaldts Konzeption, in der radikalen Steigerung des im Mythos gestalteten Leides, dem als zweites Grundelement der seinerseits gegenüber allen früheren Darstellungen verschärfte Streit korrespondiere. Deren dramatische Interaktion komme in der "antilogischen" Beschränkung auf "die Vereinzelung, auf das Verhüllte, auf die partielle Einheit" zustande, "bis am Schluß der Tragödie das ganze Geschehen ins Licht tritt und damit im Rückblick die Verblendung sichtbar wird". Die Helden der Stücke seien "keine Prinzipienträger, sondern lebendige Menschen, die durch Sophokles aus ihrer mythischen Heroenwelt in den Raum der Polis gestellt sind".
Ein einziges Mal nur verläßt Flashar erkennbar die weislich gezogenen Grenzen der ästhetisch-philosophischen Urteilsenthaltung - wenn er Sophokles' späteste Tragödie, den "Oedipus auf Kolonos", die Schönheit seiner Chorlieder zumal, in warmen Tönen beschreibt. Jetzt kommt auch der ältere Wilamowitz zu seinem Recht, der in einem Nachtrag zum Sophokles-Buch seines frühverstorbenen Sohnes Tycho bemerkt hatte, "daß wir in dem Oedipus auf Kolonos an den alten Sophokles fast noch mehr denken als an den alten Oedipus".
Ist es der von aller rasenden Wildheit befreite Sophokles des Platonischen Kephalos, der in der Abschilderung des lieblichen Kolonos an die Stätte seiner Kindheit, seinen heimatlichen Demos, zurückgekehrt ist? August Wilhelm Schlegel, Solger, Goethe und Hegel haben nicht gezögert, der postum aufgeführten Tragödie die Weihen eines metaphysischen Schauspiels zu verleihen. Die Klassische Philologie hat für die Überladung ihrer Gegenstände oft teuer bezahlt. Sachlichkeit, wie sie Flashars Sophokles-Buch zu eigen ist, ist ein Gegengift, das die Autoren und Werke aus ihrer klassizistischen Starre erlösen kann. Oder auch die Erinnerung an die schalkhafte Unschuld der Anekdote, auf die noch kein Schatten der großen Mythen von Schuld und Tragik fiel.
Hellmut Flashar: "Sophokles". Dichter im demokratischen Athen. Verlag C. H. Beck, München 2000. 220 S., geb., 48,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sophokles im Aristoteles-Mythos / Von Jürgen Paul Schwindt
Im Eröffnungsgespräch des Platonischen "Staates" erzählt der greise Kephalos eine hübsche Anekdote, von der man wünschen möchte, sie hätte sich so und nicht anders zugetragen. Danach will Kephalos gehört haben, wie Sophokles auf die Frage, wie es bei ihm mit den Freuden der Liebe stehe und ob er wohl noch imstande sei, einer Frau beizuwohnen, geantwortet haben: "Wahre deine Zunge, mein Bester. War es mir doch die größte Wohltat, davon loszukommen, als wäre ich einen rasenden und wilden Herrn losgeworden."
Wenig spricht dafür, daß diese Nachricht mehr Glauben verdient als etwa die Reihe mutmaßlicher Todesursachen, die die antike Biographie gesammelt hat: Danach wäre der Dichter an einer Weinbeere erstickt, hätte sich beim lauten Lesen einer langen "Antigone"-Stelle überanstrengt oder an einem Festspielsieg zu Tode gefreut. Man pflegt diese Berichte ins Kuriositätenkabinett antiker Überlieferung zu verweisen, weil sie allzu deutlich die Signatur des Improvisiert-Geschwätzigen verraten. Man vergißt jedoch über der scheinbaren Beliebigkeit mancher Mitteilungen, daß sie womöglich nicht um ihrer selbst willen tradiert wurden, sondern durch ihr mitunter spektakuläres Ansehen wichtige Überlieferungsträger der Autoren und Werke sind.
Die Kehrseite der Medaille ist die merkwürdige Unbefangenheit auch noch moderner Literaturforschung im Umgang mit den Mythen der Rezeption. Noch immer ist das Gros der Sophokles-Interpreten mit der gewaltigen Hinterlassenschaft diverser metaphysischer Erklärungsansätze vornehmlich deutscher Provenienz beschäftigt. Hegel und Hölderlin, Nietzsche und Kierkegaard haben Definitionen des Tragischen geliefert, die, jede für sich genommen, "großartig" waren und sich doch, jede in anderer Weise, von den alten Texten entfernten.
Hellmut Flashar, Emeritus der Klassischen Philologie in München, erinnert in seinem neuen Buch an den einen und anderen virtuosen Winkelzug der philosophischen Klassikerdeutung, um seine eigenen, in langjähriger Beschäftigung mit dem Gegenstand gewonnenen Einsichten desto schärfer davon abzusetzen. Die Imposanz der älteren Interpretationsmodelle ist wohl zugleich Ursache für die äußerste Zurückhaltung, die deutsche Philologen nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber einer Gesamtdarstellung des Sophokles an den Tag gelegt haben. Wenigstens ist in diesem Zeitraum nichts erschienen, was sich mit Karl Reinhardts berühmtem Sophokles-Buch (1933) nach Anspruch und Einfluß auch nur entfernt messen konnte. Angelsächsische Philologen haben mustergültige Ausgaben erarbeitet, französische Kultur- und Literaturwissenschaftler brillante, wenngleich einseitige Strukturanalysen geliefert. Reinhardts bis in die siebziger Jahre immer wieder aufgelegtes Buch aber kam der Neigung vieler deutscher Exegeten entgegen, das Ästhetische substantiell zu fassen. Es überforderte dabei zugleich ein Publikum, das sich mit dem Vorrang des "Wie?" vor dem "Was?" nicht abfinden mochte. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß das Interesse, auf das jüngst die politischen Sophokles-Analysen deutscher Althistoriker (Egon Flaig, Christian Meier) in der griechischen Literaturwissenschaft gestoßen sind, im Überdruß an textimmanent verfahrenden Deutungsmustern eine wichtige Voraussetzung hat.
Man wird dabei freilich nicht das Kind mit dem Bade ausschütten, und so hält sich Flashars "Sophokles" von den Extremen gleich weit entfernt. Wohl faßt er schon im Titel seines Buches Sophokles als "Dichter im demokratischen Athen", erörtert aber auch religions- und institutionengeschichtliche sowie kommunikationstheoretische Fragen. Vor allem ist es jedoch sein an Aristoteles geschulter Blick auf die Strukturen des Dramas, der ihn vor jedem unverhältnismäßigen Vergleich zurückschrecken läßt. Daß gerade Aristoteles' "Poetik" zur Sicherung eines angemessenen Verständnisses der Tragödie nichts oder nur wenig beitragen kann, darf man als besondere Pointe nehmen. Aristoteles hat es unter den veränderten Bedingungen des vierten Jahrhunderts mit einer vorwiegend als Lesedrama gefaßten Tragödie zu tun und sieht vom rituell-kultischen wie zeitgeschichtlichen Kontext weitgehend ab. Er ist "Erster Rezipient" und steht der Tragödie im Prinzip "auf der gleichen Stufe gegenüber wie der neuzeitliche Theoretiker".
Griffige Definitionen der Tragödie und des Tragischen haben ihre eigene Tradition. In demonstrativer Absetzung von Lessing wie Aristoteles formuliert Flashar gleich im ersten Satz des Buches seinen umfassenden Vorbehalt. Danach ist die griechische Tragödie "kein bürgerliches Trauerspiel, das dazu bestimmt gewesen wäre, zur Erbauung, Belehrung oder Erschütterung gelesen, gelegentlich im Theater aufgeführt oder gar von der Philologie analysiert zu werden". Und doch gelingen nur auf dem Wege behutsamer philologisch-hermeneutischer Rekonstruktion Einsichten in die vielfache Bedingtheit des attischen Dramas und seiner Überlieferungsgeschichte. Daß alles auch ganz anders hätte kommen können, ist ein Gedanke, der sich wie ein roter Faden durch Flashars Untersuchungen zieht. Was, wenn statt des "Oedipus Rex", der "Antigone" und "Elektra" die jetzt verlorenen Stücke "Iobates", "Sinon" oder "Tyro" überliefert wären? Was, wenn statt des Sophokleischen "Oedipus" der des Aischylos oder Euripides? Wie kommt es, daß ein so wenig verallgemeinerungsfähiges Geschehen wie das im "Oedipus" geschilderte im europäischen Bewußtsein zu höchster Symbolträchtigkeit für die "condition humaine" sich steigerte? Dürfen wir mit Aristoteles, dem ingeniösen Erfinder der tragischen Verlaufskurve (in der Regel vom Glück ins Unglück), glauben, daß Aias, Deianeira oder Oedipus am Anfang "glücklich" waren? Im Zentrum des Buches stehen knappe Interpretationen der sieben erhaltenen Tragödien sowie des fragmentarisch überlieferten Satyrspiels "Die Spurensucher". Die stoff- und motivgeschichtlichen Einleitungen, die Aufbauskizzen und exemplarischen Besprechungen einiger Hauptprobleme, sodann die wirkungsgeschichtlichen Paragraphen, die auch die Musik- und Filmgeschichte nicht ausschließen, verraten überall nüchternen Sinn für das Wesentliche. Dem einführenden Charakter des Buches entsprechend, ist Flashar mit Hinweisen zur Textgeschichte eher sparsam verfahren. Die mit der Tragödie besser Vertrauten werden allenthalben die Handschrift des Forschers bemerken.
So erscheint ihm der episch-heroische Wertekosmos im "Aias" verrückt. Der Titelheld hat nicht nur seine Ehre, sondern seine Identität verloren. Die berühmte "Trugrede" des Aias ist "in ihrer Doppelbödigkeit auch lesbar als die metaphorische Umschreibung für den Entschluß zum Selbstmord". Um Aias' Tod als Vollendung seines Wesens, die Absage an die Welt als den einzig noch möglichen Heroismus deuten zu können, muß Flashar den Seherspruch des Kalchas, wonach die Göttin den Helden nur diesen einen Tag mit ihrem Zorn verfolge, zur dramaturgischen Petitesse abwerten. Ist das szenische Arrangement nicht auf der Höhe der gedanklichen Kunst? Oder unterschätzt man seine tragische Wirkung, wenn man es nur zur Oberflächenstruktur der Tragödie rechnet, die ausnahmsweise nicht mit der Tiefenstruktur der Fabel kongruiert?
Daß man die Tragödien des Sophokles nicht auf Formeln ziehen kann, macht Flashar an mehr als einem Beispiel deutlich. Die "Antigone" erschöpft sich nicht im Ausdruck des Konflikts zweier gleichberechtigter Prinzipien (Hegel). Die Heldin wächst in ihrer selbstgewählten Isolation über die Erfahrungswelt der Polis hinaus. Es ist schön gesehen, daß in der Schlußszene das "Untragische, das Gegenteil von Größe, das ,Nichts' übrigbleibt. So endet die Katastrophe im Nichts." Oedipus ist nicht die Präfiguration des europäischen Wahrheitssuchers. Er tut das Gegenteil dessen, was er vernünftigerweise tun müßte, um die Erfüllung der Orakelsprüche zu verhindern. Er ist "für sein Scheitern gerade dann verantwortlich, wenn er vorher eigens gewarnt worden ist".
Das Tragische der Sophokleischen Tragödie liegt, so Flashar im Anschluß an Schadewaldts Konzeption, in der radikalen Steigerung des im Mythos gestalteten Leides, dem als zweites Grundelement der seinerseits gegenüber allen früheren Darstellungen verschärfte Streit korrespondiere. Deren dramatische Interaktion komme in der "antilogischen" Beschränkung auf "die Vereinzelung, auf das Verhüllte, auf die partielle Einheit" zustande, "bis am Schluß der Tragödie das ganze Geschehen ins Licht tritt und damit im Rückblick die Verblendung sichtbar wird". Die Helden der Stücke seien "keine Prinzipienträger, sondern lebendige Menschen, die durch Sophokles aus ihrer mythischen Heroenwelt in den Raum der Polis gestellt sind".
Ein einziges Mal nur verläßt Flashar erkennbar die weislich gezogenen Grenzen der ästhetisch-philosophischen Urteilsenthaltung - wenn er Sophokles' späteste Tragödie, den "Oedipus auf Kolonos", die Schönheit seiner Chorlieder zumal, in warmen Tönen beschreibt. Jetzt kommt auch der ältere Wilamowitz zu seinem Recht, der in einem Nachtrag zum Sophokles-Buch seines frühverstorbenen Sohnes Tycho bemerkt hatte, "daß wir in dem Oedipus auf Kolonos an den alten Sophokles fast noch mehr denken als an den alten Oedipus".
Ist es der von aller rasenden Wildheit befreite Sophokles des Platonischen Kephalos, der in der Abschilderung des lieblichen Kolonos an die Stätte seiner Kindheit, seinen heimatlichen Demos, zurückgekehrt ist? August Wilhelm Schlegel, Solger, Goethe und Hegel haben nicht gezögert, der postum aufgeführten Tragödie die Weihen eines metaphysischen Schauspiels zu verleihen. Die Klassische Philologie hat für die Überladung ihrer Gegenstände oft teuer bezahlt. Sachlichkeit, wie sie Flashars Sophokles-Buch zu eigen ist, ist ein Gegengift, das die Autoren und Werke aus ihrer klassizistischen Starre erlösen kann. Oder auch die Erinnerung an die schalkhafte Unschuld der Anekdote, auf die noch kein Schatten der großen Mythen von Schuld und Tragik fiel.
Hellmut Flashar: "Sophokles". Dichter im demokratischen Athen. Verlag C. H. Beck, München 2000. 220 S., geb., 48,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Manfred Fuhrmann ist sehr angetan vom ersten deutschsprachige Buch über Sophokles seit Jahrzehnten. Er attestiert dem Spezialisten Hellmut Flashar, dass er den neben Aischylos und Euripides wichtigsten altgriechischen Dramatiker in genaue Beziehung zur griechischen Geschichte setzt und die sieben überlieferten (von 123 namentlich bekannten) Dramen überzeugend interpretiert. Er goutiert, dass Flasher seine eigene Methode fährt und keinerlei Anleihen bei neueren Schulen macht, die Fuhrmann altbacken mit dem ?französischen Strukturalismus? versinnbildlicht (der nun auch schon wieder 40 Jahre alt ist); er goutiert nicht, dass Flashar behauptet, ohne die Poetik des Aristoteles auszukommen, und sich dann doch ständig darauf bezieht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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