In diesem Buch wird erstmals der Versuch unternommen, der Vielfalt des Blumenberg'schen Denkens gerecht zu werden, indem zum einen alle Schriften - auch unbekannte Aufsätze, die Dissertation und Habilitationsschrift - zu Rate gezogen werden und indem zum anderen über einen kulturanthropologischen Ansatz eine durchgehende Fragestellung im ausufernden Werk Blumenbergs verfolgt wird. Blumenberg wurde des Öfteren kritisiert, dass er zu rhapsodisch und unsystematisch schreibe und dass seinen Schriften ein tragfähiges Fundament fehle. Oliver Müller geht diesem Vorwurf nach und untersucht, auf welchen Säulen Blumenbergs Denken ruht und an welchen Stellen diese Säulen baufällig sind. Dabei zeigt er einerseits, dass Blumenberg - dessen Denken in den metaphysischen Ruinen nach dem Zweiten Weltkrieg einSetzt - nur vor dem Hintergrund von Husserls und Heideggers Philosophie zu verstehen ist. Andererseits macht Müller deutlich, inwiefern Blumenberg seine Philosophie an die Philosophische Anthropologie, vor allem an Cassirer und Gehlen, anschliesst - was bei Blumenbergs Denken eine sorgfältige Rekonstruktionsarbeit verlangt. Der panoramische Blick auf das Gesamtwerk macht deutlich, dass der Skeptiker Blumenberg immer um einen Begriff der Vernunft ringt und dass seine Theorie - hier kann man den Metaphorologen mit seinen eigenen Mitteln zu erfassen suchen - im Bild des Sehens, des Gesehenwerdens und der Vernunft als Zuschauerin ihres eigenen Schiffbruchs zu sich selbst kommt. So verbinden sich die anthropologischen und vernunfttheoretischen Überlegungen dieses Buches in dem Begriff des "homo spectator".
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.02.2006Denken nach Davos
Oliver Müllers kluge Führung durch die Gedankenwelt Hans Blumenbergs
Gefragt, welche Reform er am meisten bewundere, hat Hans Blumenberg im Juni 1982 zu Protokoll gegeben: „Die ums Jahr 1995 fällige Wiederherstellung der deutschen Universität”.
Blumenberg starb am 28. März 1996 im münsterländischen Altenberge, von einem Zurechtrücken der kühnen Voraussage ist nichts bekannt. Aber sollte es überhaupt eine Prognose sein? Mindestens ebenso wahrscheinlich ist die Absicht, noch einmal das Bild einer akademischen Kultur heraufzubeschwören, die ihren Herausforderungen gewachsen wäre: Die Universität als Stätte der Neugierde, der Selbstverständigung und Bildung, nicht als Vollzugsorgan sachfremder Zwecke. Es war ein Traum. Schon vor über 20 Jahren waren Zustände absehbar, die dem Hochschulabsolventen den Kontakt zu den Spitzen des eigenen Faches verwehren und ihn nicht einmal mehr ahnen lassen, was ihm entgeht.
Die Vorahnung, dass seinen Büchern einmal die Adressaten ausgehen könnten, hat den alternden Philosophen mit Bitterkeit erfüllt. Melancholische Töne waren ihm keineswegs fremd, und wie Heidegger und Adorno neigte auch Blumenberg dazu, Sentiments und Idiosynkrasien auszuleben. Mit scharfem Blick für Attitüden weist Oliver Müller derlei Anwandlungen zurück, so als wolle er das Objekt seiner Bewunderung vor dem Schatten der eigenen Resignationsformeln bewahren. Solche Umsicht gehört zu den Auffälligkeiten einer außergewöhnlichen, an der Berliner Humboldt-Universität entstandenen Doktorarbeit. Müller hat ein kluges Buch geschrieben, das große Kennerschaft verrät und durch Augenmaß beeindruckt.
Geschickt gruppiert Müller seine Kommentarpakete um eine Selbstaussage, die Blumenberg an verborgener Stelle und außerdem erst spät getroffen hat - in der posthum erschienenen Prosasammlung „Die Vollzähligkeit der Sterne”. Die Stelle findet sich in Kapitel 10 und lautet: „Was zu beobachten bleibt, ist, wie die Vernunft arbeitet: Wie hat sie es gemacht, wie macht sie es, folglich: wie wird sie es machen, daß mit den Monstren zu leben ist, die sich als die Paradoxe ihrer Erfolge erweisen.”
Der Referenztext ist gut gewählt. Er gestattet es, das Problem einer philosophischen Systematik zu umschiffen, die Blumenberg ohnehin niemals gewollt hat, um stattdessen auf der Basis ausschließlich thematischer Orientierungen die Gedankenwelt des Philosophen zu entrollen. Ins Zentrum der Rekonstruktionsarbeit rückt die „Sorge um die Vernunft” - eine kantianisch-postheideggerianische Formel, die auf das Vorhaben der vernünftigen Vernunftkritik zurückgreift und es durch die Frage nach der Weltstellung des Menschen pointiert.
Der Mensch tritt als das Wesen hervor, das sich sorgt und sorgen muss, um sich angesichts der Übermacht einer ihm gleichgültig gegenüberstehenden Wirklichkeit zu behaupten. Der mit eben demselben Bewältigungspensum konfrontierte Philosoph ist überdies aufgerufen, es zu beobachten, zu erfassen und zu beschreiben. Seine Vernunftarbeit ist Zeugenschaft. Der literarische Anspruch, der besonders den späten Blumenberg auszeichnet, wird vor diesem Hintergrund verständlich: Er ist keine irregeleitete Ambition, sondern unmittelbare Konsequenz der philosophischen Aufgabenbestimmung. Als Augenzeuge ist der Philosoph gehalten, in Worte zu fassen und auszusagen, was sich zeigt.
Die Anthropologie-Phobie
Es ist Müllers Stärke, Blumenbergs „Lebensthemen” auch in feinsten Nuancierungen zu erfassen. Die so erzwungenen Wiederholungen sind erträglich, zumal das Verfahren die Chance eröffnet, die Manifestationsorte dieses Philosophierens - Phänomenologie, Hermeneutik, Rhetorik, Metaphorologie, Anthropologie - aufzusuchen, ohne ungebührlich zu verkürzen. Müller beherrscht die Kunst der Komplexitätsbewahrung. Aber das ist nicht alles. Den Originalitätsanspruch der Studie begründet eine These, die so konsequent noch nicht durchgespielt worden ist - die These nämlich, dass das Lebenswerk Blumenbergs von Anfang bis Ende in der Nachfolge der „Davoser Disputation” zu lesen sei.
Blumenberg also als das Weltkind zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer, die im Frühjahr 1929 vor der Zauberbergkulisse ihren Jahrhundertstreit austrugen - hier der Herausforderer und orakelnde Künder des Seins, dort der redliche Vermittler und Arrangeur der symbolischen Formen. Das Szenario hat etwas Bezwingendes und zeigt, ganz nebenbei, wie Müller seinen Protagonisten gesehen wissen möchte: als „eine wesentliche Größe der Philosophiegeschichte”. Und in der Tat: Mit Heidegger teilte Blumenberg die Emphase der Sorge, mit Cassirer die Wende zur Kultur.
Müller zeichnet die weitläufigsten Verstrickungen gewissenhaft nach und verschweigt auch nicht, wie Blumenberg sich am Ende entschieden hat. Obwohl er dem Reichtum des symbolischen Universums misstraute und mancherlei Spottreden über „hanseatische Solidität” vortrug, entschied sich Blumenberg doch für Cassirer. Maßgeblich war auch hier ein ursprünglich von Kant entwickeltes Motiv, das Blumenberg allerdings weniger zugunsten Cassirers anzuführen pflegte als gegen Heidegger: Die unhintergehbare Bedingung nämlich, dass die Vernunft als menschliche Vernunft verstanden werden müsse. Philosophieren nach Davos, das konnte für Blumenberg nur heißen, „eine Theorie des Menschen außerhalb der Idealität” zu entwickeln, und zwar mit dem bemerkenswerten Akzent einer „letzten und verspäteten Disziplin der Philosophie”.
Konnte und sollte nun die Anthropologie diese Disziplin sein - eine neue, die letzte prima philosophia? Müller ist entschieden dieser Auffassung und erinnert daran, wie viel Mühen Blumenberg an die Überwindung der von Husserl und Heidegger gepflegten „Anthropologie-Phobie” gewendet habe. Kulturanthropologe sei er gewesen, heißt es, sein Denken eine Mixtur aus historischer und phänomenologischer Anthropologie. Andererseits weiß auch Müller, wie konsequent sich Blumenberg gegen Reduktionismen zu verwahren pflegte und wie weit er davon entfernt war, entbergen zu wollen, was Jacob Burckhardt als „des Menschen Kern” bezeichnet hat. Es gebe die letzte Rückkehr zum Menschen nicht, hat Blumenberg versichert, weil er ein Wesen gar nicht habe, „es sei denn dieses als Resultat seiner Selbsterschaffung”. Nein, so spricht kein Anthropologe; wer so spricht, ist, mit Verlaub, Kulturphilosoph.
RALF KONERSMANN
OLIVER MÜLLER: Sorge um die Vernunft. Hans Blumenbergs phänomenologische Anthropologie. Mentis Verlag, Paderborn 2005. 426 Seiten, 54 Euro.
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Oliver Müllers kluge Führung durch die Gedankenwelt Hans Blumenbergs
Gefragt, welche Reform er am meisten bewundere, hat Hans Blumenberg im Juni 1982 zu Protokoll gegeben: „Die ums Jahr 1995 fällige Wiederherstellung der deutschen Universität”.
Blumenberg starb am 28. März 1996 im münsterländischen Altenberge, von einem Zurechtrücken der kühnen Voraussage ist nichts bekannt. Aber sollte es überhaupt eine Prognose sein? Mindestens ebenso wahrscheinlich ist die Absicht, noch einmal das Bild einer akademischen Kultur heraufzubeschwören, die ihren Herausforderungen gewachsen wäre: Die Universität als Stätte der Neugierde, der Selbstverständigung und Bildung, nicht als Vollzugsorgan sachfremder Zwecke. Es war ein Traum. Schon vor über 20 Jahren waren Zustände absehbar, die dem Hochschulabsolventen den Kontakt zu den Spitzen des eigenen Faches verwehren und ihn nicht einmal mehr ahnen lassen, was ihm entgeht.
Die Vorahnung, dass seinen Büchern einmal die Adressaten ausgehen könnten, hat den alternden Philosophen mit Bitterkeit erfüllt. Melancholische Töne waren ihm keineswegs fremd, und wie Heidegger und Adorno neigte auch Blumenberg dazu, Sentiments und Idiosynkrasien auszuleben. Mit scharfem Blick für Attitüden weist Oliver Müller derlei Anwandlungen zurück, so als wolle er das Objekt seiner Bewunderung vor dem Schatten der eigenen Resignationsformeln bewahren. Solche Umsicht gehört zu den Auffälligkeiten einer außergewöhnlichen, an der Berliner Humboldt-Universität entstandenen Doktorarbeit. Müller hat ein kluges Buch geschrieben, das große Kennerschaft verrät und durch Augenmaß beeindruckt.
Geschickt gruppiert Müller seine Kommentarpakete um eine Selbstaussage, die Blumenberg an verborgener Stelle und außerdem erst spät getroffen hat - in der posthum erschienenen Prosasammlung „Die Vollzähligkeit der Sterne”. Die Stelle findet sich in Kapitel 10 und lautet: „Was zu beobachten bleibt, ist, wie die Vernunft arbeitet: Wie hat sie es gemacht, wie macht sie es, folglich: wie wird sie es machen, daß mit den Monstren zu leben ist, die sich als die Paradoxe ihrer Erfolge erweisen.”
Der Referenztext ist gut gewählt. Er gestattet es, das Problem einer philosophischen Systematik zu umschiffen, die Blumenberg ohnehin niemals gewollt hat, um stattdessen auf der Basis ausschließlich thematischer Orientierungen die Gedankenwelt des Philosophen zu entrollen. Ins Zentrum der Rekonstruktionsarbeit rückt die „Sorge um die Vernunft” - eine kantianisch-postheideggerianische Formel, die auf das Vorhaben der vernünftigen Vernunftkritik zurückgreift und es durch die Frage nach der Weltstellung des Menschen pointiert.
Der Mensch tritt als das Wesen hervor, das sich sorgt und sorgen muss, um sich angesichts der Übermacht einer ihm gleichgültig gegenüberstehenden Wirklichkeit zu behaupten. Der mit eben demselben Bewältigungspensum konfrontierte Philosoph ist überdies aufgerufen, es zu beobachten, zu erfassen und zu beschreiben. Seine Vernunftarbeit ist Zeugenschaft. Der literarische Anspruch, der besonders den späten Blumenberg auszeichnet, wird vor diesem Hintergrund verständlich: Er ist keine irregeleitete Ambition, sondern unmittelbare Konsequenz der philosophischen Aufgabenbestimmung. Als Augenzeuge ist der Philosoph gehalten, in Worte zu fassen und auszusagen, was sich zeigt.
Die Anthropologie-Phobie
Es ist Müllers Stärke, Blumenbergs „Lebensthemen” auch in feinsten Nuancierungen zu erfassen. Die so erzwungenen Wiederholungen sind erträglich, zumal das Verfahren die Chance eröffnet, die Manifestationsorte dieses Philosophierens - Phänomenologie, Hermeneutik, Rhetorik, Metaphorologie, Anthropologie - aufzusuchen, ohne ungebührlich zu verkürzen. Müller beherrscht die Kunst der Komplexitätsbewahrung. Aber das ist nicht alles. Den Originalitätsanspruch der Studie begründet eine These, die so konsequent noch nicht durchgespielt worden ist - die These nämlich, dass das Lebenswerk Blumenbergs von Anfang bis Ende in der Nachfolge der „Davoser Disputation” zu lesen sei.
Blumenberg also als das Weltkind zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer, die im Frühjahr 1929 vor der Zauberbergkulisse ihren Jahrhundertstreit austrugen - hier der Herausforderer und orakelnde Künder des Seins, dort der redliche Vermittler und Arrangeur der symbolischen Formen. Das Szenario hat etwas Bezwingendes und zeigt, ganz nebenbei, wie Müller seinen Protagonisten gesehen wissen möchte: als „eine wesentliche Größe der Philosophiegeschichte”. Und in der Tat: Mit Heidegger teilte Blumenberg die Emphase der Sorge, mit Cassirer die Wende zur Kultur.
Müller zeichnet die weitläufigsten Verstrickungen gewissenhaft nach und verschweigt auch nicht, wie Blumenberg sich am Ende entschieden hat. Obwohl er dem Reichtum des symbolischen Universums misstraute und mancherlei Spottreden über „hanseatische Solidität” vortrug, entschied sich Blumenberg doch für Cassirer. Maßgeblich war auch hier ein ursprünglich von Kant entwickeltes Motiv, das Blumenberg allerdings weniger zugunsten Cassirers anzuführen pflegte als gegen Heidegger: Die unhintergehbare Bedingung nämlich, dass die Vernunft als menschliche Vernunft verstanden werden müsse. Philosophieren nach Davos, das konnte für Blumenberg nur heißen, „eine Theorie des Menschen außerhalb der Idealität” zu entwickeln, und zwar mit dem bemerkenswerten Akzent einer „letzten und verspäteten Disziplin der Philosophie”.
Konnte und sollte nun die Anthropologie diese Disziplin sein - eine neue, die letzte prima philosophia? Müller ist entschieden dieser Auffassung und erinnert daran, wie viel Mühen Blumenberg an die Überwindung der von Husserl und Heidegger gepflegten „Anthropologie-Phobie” gewendet habe. Kulturanthropologe sei er gewesen, heißt es, sein Denken eine Mixtur aus historischer und phänomenologischer Anthropologie. Andererseits weiß auch Müller, wie konsequent sich Blumenberg gegen Reduktionismen zu verwahren pflegte und wie weit er davon entfernt war, entbergen zu wollen, was Jacob Burckhardt als „des Menschen Kern” bezeichnet hat. Es gebe die letzte Rückkehr zum Menschen nicht, hat Blumenberg versichert, weil er ein Wesen gar nicht habe, „es sei denn dieses als Resultat seiner Selbsterschaffung”. Nein, so spricht kein Anthropologe; wer so spricht, ist, mit Verlaub, Kulturphilosoph.
RALF KONERSMANN
OLIVER MÜLLER: Sorge um die Vernunft. Hans Blumenbergs phänomenologische Anthropologie. Mentis Verlag, Paderborn 2005. 426 Seiten, 54 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Gelungen findet Ralf Konersmann diese "kluge Führung durch die Gedankenwelt Hans Blumenbergs", die Oliver Müller vorgelegt hat. Er würdigt die "große Kennerschaft" des Autors sowie sein "beeindruckendes Augenmaß". Im Zentrum der Arbeit rückt nach Konersmanns Ansicht Blumenbergs Formel von der "Sorge um die Vernunft", die auf das Vorhaben der vernünftigen Vernunftkritik zurückgreife und es durch die Frage nach der Weltstellung des Menschen pointiere. Müllers Stärke sieht Konersmann darin, Blumenbergs "Lebensthemen" auch "in feinsten Nuancierungen zu erfassen". Dem Autor gelinge es, die diversen Betätigungsfelder des Philosophen - Phänomenologie, Hermeneutik, Rhetorik, Metaphorologie, Anthropologie - darzustellen, "ohne ungebührlich zu verkürzen". Als originell wertet Konersmann insbesondere die These, Blumenbergs Lebenswerk in der Nachfolge der "Davoser Disputation", also des philosophischen Streits, den Martin Heidegger und Ernst Cassirer im Frühjahr 1929 in Davos austrugen, zu lesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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