VON ERWÜNSCHTEN UND UNERWÜNSCHTEN REISENDEN - DIE NEUEN MAUERN DER GLOBALISIERUNG Der kosmopolitische Traum von einer grenzenlosen Welt hat in den letzten Jahren tiefe Risse bekommen. Aber war er überhaupt jemals realistisch? Steffen Mau zeigt, dass Grenzen im Zeitalter der Globalisierung von Anbeginn nicht offener gestaltet, sondern zu machtvollen Sortiermaschinen umgebaut wurden. Während ein kleiner Kreis Privilegierter heute nahezu überallhin reisen darf, bleibt die große Mehrheit der Weltbevölkerung weiterhin systematisch außen vor. Während die Mobilität von Menschen über Grenzen hinweg in den letzten Jahrzehnten stetig zunahm und Grenzen immer offener schienen, fand gleichzeitig eine in Wissenschaft und Öffentlichkeit unterschätzte Gegenentwicklung statt. Vielerorts ist es zu einer neuen Fortifizierung gekommen, zum Bau neuer abschreckender Mauern und militarisierter Grenzübergänge. Grenzen wurden zudem immer selektiver und - unterstützt durch die Digitalisierung - zu Smart Borders aufgerüstet. Und die Grenzkontrolle hat sich räumlich massiv ausgedehnt, ja ist zu einer globalen Unternehmung geworden, die sich vom Territorium ablöst. Der Soziologe Steffen Mau analysiert, auf welche Weise und mit welchen Mitteln die neuen Sortiermaschinen Mobilität und Immobilität zugleich schaffen: Für erwünschte Reisende sollen sich Grenzen wie Kaufhaustüren öffnen, für andere sollen sie fester denn je verschlossen bleiben. Nirgends tritt das Janusgesicht der Globalisierung deutlicher zutage als an den Grenzen des 21. Jahrhunderts. * Die dunkle Seite der Globalisierung * Borders are back * Die Globalisierung hat nicht die Auflösung von Grenzen zur Folge - sie kehren in neuer Gestalt wieder
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Rezensent Florian Coulmas staunt, wie plausibel ihm der Soziologe Steffen Mau den inneren Zusammenhang von Globalisierung und der Verhärtung von Staatsgrenzen aufzuzeigen vermag. Dass Digitalisierung und Globalisierung nicht unbedingt Entgrenzung bedeuten, sondern neue Technologien zu einer Beschränkung menschlicher Freiheiten beitragen und dies nicht nur in totalitären Regimen, muss Coulmas schweren Herzens bei der Lektüre erkennen. Maus "alarmierendes" Nachdenken über Grenzen und ihre Funktion, politisch und wirtschaftlich, geht laut Coulmas weit über den dem Buch zugrundeliegenden Aufhänger der Pandemie hinaus. Und eine "Rückkehr ins Davor" wird es nicht geben, ahnt der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.12.2021Die Bücher des Jahres
Welche Bücher haben 2021 beeindruckt, welche Themen die Welt bewegt? Die F.A.S.-Wirtschaftsredaktion stellt ihre Lieblingstitel vor.
Zwei Forscher retten die Welt.
1 Zahllose Medien haben seit dem Frühjahr 2020 verfolgt, wie das Mainzer Biotech-Unternehmen Biontech in weniger als einem Jahr einen Corona-Impfstoff marktreif machte. Doch so detailliert und nah dran an diesem medizingeschichtlich einmaligen Vorgang ist wohl nur das Buch, das der Financial-Times-Journalist Joe Miller mit den Biontech-Gründern Özlem Türeci und Ugur Sahin verfasst hat. Ihr Bericht von der Vakzin-Front liest sich intensiv und atemlos, aber nicht hektisch zusammengestöpselt; verständlich, aber nicht platt. Er sei nur ein erster Entwurf für die Annalen, bekennt Hauptautor Miller. Das mag zwar stimmen, doch ist dieses Provisorium ziemlich gelungen. magr.
Joe Miller mit Özlem Türeci und Ugur Sahin, Projekt Lightspeed. Der Weg zum Biontech-Impfstoff - und zu einer Medizin von morgen, Rowohlt, Hamburg, 2021, 352 S., 22 Euro.
Wie Frauen zu Hausfrauen wurden.
2 Das Modell der abhängigen Hausfrau, so die erstaunliche These der Kulturwissenschaftlerin Evke Rulffes, ist ein höchst modernes Produkt. Bis ins 18. Jahrhundert agierte die "Hausmutter" in der bäuerlichen Gesellschaft als selbständige Figur, die den Wirtschaftsbetrieb und das Gesinde dirigierte. Dass Frauen einer Erwerbsarbeit nachgingen, war aus ökonomischen Zwängen ohnehin selbstverständlich (und blieb es in weniger begüterten Kreisen lange). Erst als die steigenden Löhne der Männer das zuließen, wurde das Hausfrauenmodell nach 1945 zur allgemeingültigen Norm - bis 1977 die Abhängigkeit zumindest juristisch endete. boll.
Evke Rulffes, Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung, HarperCollins, Hamburg, 2021, 288 S., 22 Euro.
Die Macht der Grenzen.
3 Die Spanische Grippe kam 1918 nicht aus Spanien. In Spanien durfte die Presse, anders als in anderen Staaten, bloß unzensiert über die Seuche berichten. Und nur zu gern nahm man das vielerorts zum Anlass, die Krankheit schon mit der Namensgebung im Ausland zu verorten. Parallelen zur gegenwärtigen Diskussion über die Herkunft und Eindämmung verschiedener Varianten des Coronavirus sind kein Zufall. Sie zeigen, wie mächtig das Konzept der Grenze und der Grenzkontrollen nach wie vor ist, allen gegenteiligen Versprechen der Globalisierung zum Trotz. Der Soziologe Steffen Mau hat darüber ein kluges Buch geschrieben. lzt.
Steffen Mau, Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, C. H. Beck, München, 2021, 189 S., 14,95 Euro.
Ein Haus veränderte alles.
4 Eula Biss dachte, ihr Hauskauf werde sie glücklich machen. Doch er machte sie nicht glücklich. Und sie war überrascht. Damit beginnt "Was wir haben", ein Essay über Besitz und Selbstverwirklichung. In kurzen Episoden, kaum eine länger als drei Seiten, durchleuchtet die Autorin die Dilemmata, in die sie mit ihrem wachsenden Wohlstand geriet. Denn so ein Haus macht auch abhängig: Man muss es pflegen und erhalten, es muss in der richtigen Nachbarschaft liegen und mit entsprechenden Möbeln ausgestattet sein. Dass ausgerechnet sie, die Linke, plötzlich an einem System teilnimmt, dessen Werte sie nicht verinnerlichen kann, seziert die Autorin voller Selbstironie. Eine fulminante Kapitalismuskritik. maj.
Eula Biss, Was wir haben: Über Besitz, Kapitalismus und den Wert der Dinge, Hanser, München, 2021, 320 S., 24 Euro.
Der wundersame Aufstieg der ETF.
5 Aus dem Erfolg eines langweiligen Finanzproduktes wie Indexfonds (ETF) ein spannendes Buch zu machen, ist eine Kunst für sich. Dem Journalisten Robin Wigglesworth ist das gelungen. Was auch damit zu tun hat, dass am Aufstieg der heute so populären ETF einige Charakterköpfe mitwirkten, die er seinen Lesern vorstellt. So lernt man die Lebensgeschichte von Larry Fink kennen, Sohn eines Schuhverkäufers, der es zum Chef des größten ETF-Anbieters der Welt gebracht hat. Eine Pflichtlektüre für alle, die die Finanzwelt von heute besser verstehen wollen. dek.
Robin Wigglesworth, Trillions: How a Band of Wall Street Renegades Invented the Index Fund and Changed Finance Forever, Penguin, London, 2021, 352 S., ca. 25 Euro.
Probier's mal mit Gemütlichkeit.
6 Von klein auf wird uns eingetrichtert, den Fleiß der Ameisen und Bienen zu loben. Trotzdem will niemand mit ihnen tauschen. Ihre Geschäftigkeit ist auf Dauer öde. Ganz anders das Faultier. Stunde um Stunde hängt es lässig kopfüber am Ast, bewegt sich kaum weiter als ein paar Dutzend Meter am Tag und frisst klimaschonend Blätter. Klasse. Trotzdem wird es in keiner Fabel gepriesen. Goethe und Hegel haben Faultiere sogar plump als hässlich und schwach beschimpft. Die Evolution ist toleranter. Sie lässt Nichtstun als Lebensentwurf gelten. Wer es also ernst meint mit der Kritik an Beschleunigung und Kapitalismus, muss dieses Buch lesen. lzt.
Tobias Keiling, Heidi Liedke, Faultiere. Ein Portrait, Matthes & Seitz, Berlin, 2021, 143 S., 20 Euro.
Es gibt kein Zurück mehr.
7 Adam Tooze beschäftigt sich aus Sicht eines Wirtschaftshistorikers mit den ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie. Das ist nicht immer leichte Kost, wenn Tooze in die Details der globalen Finanzmärkte abtaucht, liest sich aber dennoch über weite Strecken wie ein Thriller. Zugleich erzählt er auch die Geschichte von der Krise der Demokratie in den Vereinigten Staaten, von einem neuen Bewusstsein für die Gefahren des Klimawandels in Europa und vom Aufstieg Chinas. So entsteht ein Bild des Jahres 2020 als Jahr der Umbrüche, als "Moment in einem Prozess der Eskalation". Der Weg zurück in den früheren Normalzustand wird wohl versperrt bleiben. awu.
Adam Tooze, Welt im Lockdown: Die globale Krise und ihre Folgen, C. H. Beck, München, 2021, 408 S., 26,95 Euro.
Gewappnet gegen die nächste Krise.
8 Eine Wirtschaft ohne Krisen? Kann es nicht geben. Davon ist Markus Brunnermeier überzeugt. Für ihn lauten die wichtigen Fragen deshalb: Wie lassen sich die nächsten Krisen besser meistern? Wie bereitet man sich auf das Unwägbare und zugleich Unvermeidbare vor? Seine Antwort darauf gibt der Princeton-Ökonom in seinem neuesten Buch. Die Kernbotschaft: Es komme auf den Unterschied zwischen Robustheit und Resilienz an. Robustheit bedeute, jedem Schock standzuhalten wie eine Eiche im Wind. Resilienz aber heiße, nachzugeben und zurückfedern zu können wie ein Schilfrohr, das im Wind schwankt, aber nicht bricht. maj.
Markus Brunnermeier, Die resiliente Gesellschaft, Aufbau Verlag, Berlin, 2021, 336 S., 24 Euro.
Das Geheimnis der Rohstoffhändler.
9 Sie handeln im Verborgenen, kaum jemand kennt sie - und doch spielen sie eine wichtige Rolle in unserer Wirtschaftswelt. Die beiden Bloomberg-Journalisten Javier Blas und Jack Farchy begeben sich auf die Spuren derjenigen, die mit Öl, Gas, Gold oder Kobalt mächtig Geld verdienen, von Saudi-Arabien über Libyen bis in die Schweiz. Die Geschichten erzählen vom mitunter skrupellosen Geschäft mit den Ressourcen der Welt und gehen bis in die 1950er-Jahre zurück. Wer in den Weihnachtstagen etwas Spannung und Action sucht, wird dieses Buch lieben. sahu.
Javier Blas, Jack Farchy, The World for Sale. Money, Power and the Traders Who Barter the Earth's Resources, Oxford University Press, 2021, 416 S. ca. 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Welche Bücher haben 2021 beeindruckt, welche Themen die Welt bewegt? Die F.A.S.-Wirtschaftsredaktion stellt ihre Lieblingstitel vor.
Zwei Forscher retten die Welt.
1 Zahllose Medien haben seit dem Frühjahr 2020 verfolgt, wie das Mainzer Biotech-Unternehmen Biontech in weniger als einem Jahr einen Corona-Impfstoff marktreif machte. Doch so detailliert und nah dran an diesem medizingeschichtlich einmaligen Vorgang ist wohl nur das Buch, das der Financial-Times-Journalist Joe Miller mit den Biontech-Gründern Özlem Türeci und Ugur Sahin verfasst hat. Ihr Bericht von der Vakzin-Front liest sich intensiv und atemlos, aber nicht hektisch zusammengestöpselt; verständlich, aber nicht platt. Er sei nur ein erster Entwurf für die Annalen, bekennt Hauptautor Miller. Das mag zwar stimmen, doch ist dieses Provisorium ziemlich gelungen. magr.
Joe Miller mit Özlem Türeci und Ugur Sahin, Projekt Lightspeed. Der Weg zum Biontech-Impfstoff - und zu einer Medizin von morgen, Rowohlt, Hamburg, 2021, 352 S., 22 Euro.
Wie Frauen zu Hausfrauen wurden.
2 Das Modell der abhängigen Hausfrau, so die erstaunliche These der Kulturwissenschaftlerin Evke Rulffes, ist ein höchst modernes Produkt. Bis ins 18. Jahrhundert agierte die "Hausmutter" in der bäuerlichen Gesellschaft als selbständige Figur, die den Wirtschaftsbetrieb und das Gesinde dirigierte. Dass Frauen einer Erwerbsarbeit nachgingen, war aus ökonomischen Zwängen ohnehin selbstverständlich (und blieb es in weniger begüterten Kreisen lange). Erst als die steigenden Löhne der Männer das zuließen, wurde das Hausfrauenmodell nach 1945 zur allgemeingültigen Norm - bis 1977 die Abhängigkeit zumindest juristisch endete. boll.
Evke Rulffes, Die Erfindung der Hausfrau. Geschichte einer Entwertung, HarperCollins, Hamburg, 2021, 288 S., 22 Euro.
Die Macht der Grenzen.
3 Die Spanische Grippe kam 1918 nicht aus Spanien. In Spanien durfte die Presse, anders als in anderen Staaten, bloß unzensiert über die Seuche berichten. Und nur zu gern nahm man das vielerorts zum Anlass, die Krankheit schon mit der Namensgebung im Ausland zu verorten. Parallelen zur gegenwärtigen Diskussion über die Herkunft und Eindämmung verschiedener Varianten des Coronavirus sind kein Zufall. Sie zeigen, wie mächtig das Konzept der Grenze und der Grenzkontrollen nach wie vor ist, allen gegenteiligen Versprechen der Globalisierung zum Trotz. Der Soziologe Steffen Mau hat darüber ein kluges Buch geschrieben. lzt.
Steffen Mau, Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert, C. H. Beck, München, 2021, 189 S., 14,95 Euro.
Ein Haus veränderte alles.
4 Eula Biss dachte, ihr Hauskauf werde sie glücklich machen. Doch er machte sie nicht glücklich. Und sie war überrascht. Damit beginnt "Was wir haben", ein Essay über Besitz und Selbstverwirklichung. In kurzen Episoden, kaum eine länger als drei Seiten, durchleuchtet die Autorin die Dilemmata, in die sie mit ihrem wachsenden Wohlstand geriet. Denn so ein Haus macht auch abhängig: Man muss es pflegen und erhalten, es muss in der richtigen Nachbarschaft liegen und mit entsprechenden Möbeln ausgestattet sein. Dass ausgerechnet sie, die Linke, plötzlich an einem System teilnimmt, dessen Werte sie nicht verinnerlichen kann, seziert die Autorin voller Selbstironie. Eine fulminante Kapitalismuskritik. maj.
Eula Biss, Was wir haben: Über Besitz, Kapitalismus und den Wert der Dinge, Hanser, München, 2021, 320 S., 24 Euro.
Der wundersame Aufstieg der ETF.
5 Aus dem Erfolg eines langweiligen Finanzproduktes wie Indexfonds (ETF) ein spannendes Buch zu machen, ist eine Kunst für sich. Dem Journalisten Robin Wigglesworth ist das gelungen. Was auch damit zu tun hat, dass am Aufstieg der heute so populären ETF einige Charakterköpfe mitwirkten, die er seinen Lesern vorstellt. So lernt man die Lebensgeschichte von Larry Fink kennen, Sohn eines Schuhverkäufers, der es zum Chef des größten ETF-Anbieters der Welt gebracht hat. Eine Pflichtlektüre für alle, die die Finanzwelt von heute besser verstehen wollen. dek.
Robin Wigglesworth, Trillions: How a Band of Wall Street Renegades Invented the Index Fund and Changed Finance Forever, Penguin, London, 2021, 352 S., ca. 25 Euro.
Probier's mal mit Gemütlichkeit.
6 Von klein auf wird uns eingetrichtert, den Fleiß der Ameisen und Bienen zu loben. Trotzdem will niemand mit ihnen tauschen. Ihre Geschäftigkeit ist auf Dauer öde. Ganz anders das Faultier. Stunde um Stunde hängt es lässig kopfüber am Ast, bewegt sich kaum weiter als ein paar Dutzend Meter am Tag und frisst klimaschonend Blätter. Klasse. Trotzdem wird es in keiner Fabel gepriesen. Goethe und Hegel haben Faultiere sogar plump als hässlich und schwach beschimpft. Die Evolution ist toleranter. Sie lässt Nichtstun als Lebensentwurf gelten. Wer es also ernst meint mit der Kritik an Beschleunigung und Kapitalismus, muss dieses Buch lesen. lzt.
Tobias Keiling, Heidi Liedke, Faultiere. Ein Portrait, Matthes & Seitz, Berlin, 2021, 143 S., 20 Euro.
Es gibt kein Zurück mehr.
7 Adam Tooze beschäftigt sich aus Sicht eines Wirtschaftshistorikers mit den ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie. Das ist nicht immer leichte Kost, wenn Tooze in die Details der globalen Finanzmärkte abtaucht, liest sich aber dennoch über weite Strecken wie ein Thriller. Zugleich erzählt er auch die Geschichte von der Krise der Demokratie in den Vereinigten Staaten, von einem neuen Bewusstsein für die Gefahren des Klimawandels in Europa und vom Aufstieg Chinas. So entsteht ein Bild des Jahres 2020 als Jahr der Umbrüche, als "Moment in einem Prozess der Eskalation". Der Weg zurück in den früheren Normalzustand wird wohl versperrt bleiben. awu.
Adam Tooze, Welt im Lockdown: Die globale Krise und ihre Folgen, C. H. Beck, München, 2021, 408 S., 26,95 Euro.
Gewappnet gegen die nächste Krise.
8 Eine Wirtschaft ohne Krisen? Kann es nicht geben. Davon ist Markus Brunnermeier überzeugt. Für ihn lauten die wichtigen Fragen deshalb: Wie lassen sich die nächsten Krisen besser meistern? Wie bereitet man sich auf das Unwägbare und zugleich Unvermeidbare vor? Seine Antwort darauf gibt der Princeton-Ökonom in seinem neuesten Buch. Die Kernbotschaft: Es komme auf den Unterschied zwischen Robustheit und Resilienz an. Robustheit bedeute, jedem Schock standzuhalten wie eine Eiche im Wind. Resilienz aber heiße, nachzugeben und zurückfedern zu können wie ein Schilfrohr, das im Wind schwankt, aber nicht bricht. maj.
Markus Brunnermeier, Die resiliente Gesellschaft, Aufbau Verlag, Berlin, 2021, 336 S., 24 Euro.
Das Geheimnis der Rohstoffhändler.
9 Sie handeln im Verborgenen, kaum jemand kennt sie - und doch spielen sie eine wichtige Rolle in unserer Wirtschaftswelt. Die beiden Bloomberg-Journalisten Javier Blas und Jack Farchy begeben sich auf die Spuren derjenigen, die mit Öl, Gas, Gold oder Kobalt mächtig Geld verdienen, von Saudi-Arabien über Libyen bis in die Schweiz. Die Geschichten erzählen vom mitunter skrupellosen Geschäft mit den Ressourcen der Welt und gehen bis in die 1950er-Jahre zurück. Wer in den Weihnachtstagen etwas Spannung und Action sucht, wird dieses Buch lieben. sahu.
Javier Blas, Jack Farchy, The World for Sale. Money, Power and the Traders Who Barter the Earth's Resources, Oxford University Press, 2021, 416 S. ca. 25 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021Der ultimative Ungleichheitsgenerator
Der Soziologe Steffen Mau hat einen erfreulich nüchternen Essay zur Debatte um die Befestigung nationaler Grenzen geschrieben
Im Frühjahr 2020 wirkte es kurz so, als würde die Mehrheit der Deutschen eine transnationale Liebesbeziehung führen. Überall tauchten sie auf, die Berichte von Paaren unterschiedlicher Nationalitäten, sei es im Elsass oder in der tschechisch-sächsischen Grenzregion, die sich wegen der zur Pandemiebekämpfung spontan beschlossenen Grenzschließungen allenfalls noch aus der Ferne über die Grenzanlage eine traurige Kusshand zuwerfen konnten. Was diese Bilder so drastisch erscheinen ließ, war die plötzliche kollektive Erkenntnis der mobilitätsgewohnten Europäer, dass sie in Ländern leben, die von Grenzen umgeben sind – und dass diese Grenzen auch geschlossen werden können.
Man muss nicht eigens an die sich im Frühjahr 2020 parallel abspielende Situation an der türkisch-griechischen Grenze erinnern, als Geflüchtete von türkischen Sicherheitskräften am Eintritt in die EU gehindert wurden, um zu zeigen, dass das neue Entsetzen der einen über die geschlossenen Grenzen der alte Alltag der anderen ist. „Seit der Jahrtausendwende können wir ein geradezu inflationäres Aufleben der Mauer- beziehungsweise fortifizierten Grenzen beobachten“, schreibt Steffen Mau in seinem neuen Essay „Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“. Er räumt darin mit einem allzu einseitigen Blick auf die Globalisierung auf. Demzufolge würde die Menschheit immer freier, Grenzen würden durchlässiger und territorial abgegrenzte Räume verschachtelter.
In Abstufungen mag das für die Fluktuation von Waren und dem Kapitalstrom zutreffen, für die Personenmobilität aber, für die sich der Berliner Soziologieprofessor hier interessiert, gilt diese Tendenz nicht. Das ist keine ganz neue Erkenntnis. Nicht zuletzt jüngere postkoloniale Forschungsansätze haben sich dieses Widerspruchs angenommen. In ihrer theoretischen Nachbarschaft ist Steffen Maus jüngstes Buch anzusiedeln, auch wenn er sich eher am Rande auf sie bezieht.
In der Gesamtheit aller Landesgrenzen, weltweit sind es laut Mau 630, gab es bis in die Neunziger hinein etwa fünf Prozent fortifizierte Grenzen, also den Übertritt verhindernde Mauern, Zäune, Wälle oder Stacheldrähte. Heute sind es etwa 20 Prozent. Interessant ist nun, dass etwa gleichzeitig zu dieser Steinwerdung der Territorien ein dazu querliegender Globalisierungsoptimismus aufkam. Mit dem Slogan „Grenzen sind so 80er“ warb die Piratenpartei bei der Europawahl 2014. Ob satirisch oder nicht, die Partei erfasste damit das „Entgrenzungsnarrativ“ recht zeitgeistig.
Mau setzt dagegen, dass globalisierende Prozesse neben dem öffnenden auch immer einen grenzschließenden Effekt haben. Mitunter werden Grenzen nur unsichtbarer, sie exterritorialisieren sich zu „shifting borders“. Die Rede von der Verteidigung Deutschlands „am Hindukusch“ bekommt in dieser Perspektive eine weitere erhellende Bedeutung. Genauso wie die Szene an der türkisch-griechischen Grenze politisch näher an Deutschland heranrückt, insofern das die Verantwortung verschiebende Kooperationsabkommen zwischen der EU und der Türkei von 2016 hier Gestalt bekommt. Mau spricht im Fall der Verlagerung von Grenzkontrollen auf die Territorien anderer Länder, sei es die Türkei, Italien oder Griechenland im Falle der Drittstaatenregelung, von Ländern, die zu „unfreiwilligen Türstehern des europäischen Hauses“ oder, je nach Perspektive, der „Festung Europa“ werden.
Doch beschränkt sich die Mauerschau in „Sortiermaschinen“ nicht auf diese bekannten Fälle. Jede Grenze ist durchlässig, auch der 50-Fuß-Wall, über den Obamas Sicherheitsministerin Napolitano noch witzelte, es würde sich selbst für diesen eine ausreichend lange Leiter finden lassen. Steffen Mau beschreibt, wie die Filterfunktion von Grenzen, die „guten“ von den „schlechten“ Einwanderern zu trennen, zunehmend auch von smarten Technologien gesteuert wird. Mit Datenbanken verknüpfte digitalisierte Grenzen identifizieren über die Kontrolle biometrischer Informationen wie den Iris-Scan. Von dort ist es nur eine Frage der Zeit, Pilotprojekte beweisen es, bis durch die Zusammenführung verschiedener Datenbanken auf die Vertrauensfähigkeit eines Einreisewilligen geschlossen wird. „Mit der Definition einheitlicher Datenformate und der erzwungenen Nutzung bestimmter Technologien zur Datenweitergabe werden extensive Zugriffsmöglichkeiten geschaffen, die von unterschiedlichen Staaten und deren Kontrollbehörden genutzt werden können“, schreibt Mau. Je transparenter aber der Einzelne wird, umso leichter kann an der Grenze auch nach unerwünschten Reisenden gesucht werden. Hier verstärkt sich die dem Buch voranstehende Grundbeobachtung: „Die Grenze als Sortiermaschine ist ein Ungleichheitsgenerator, wie es vermutlich keinen zweiten gibt.“
Maus Überlegungen stehen in einem weiten Referenzraum. Viele seiner theoretischen Vorgänger benennt er, sie reichen von Max Weber über Ulrich Beck bis hin zu Anthony Giddens und Wendy Brown, die in ihrem Buch „Mauern“ das Verhältnis von hohen Grenzmauern und der immer brüchiger werdenden nationalstaatlichen Souveränität beschrieben hat. Mau führt in seinem Essay die fachwissenschaftliche Grenzdebatte elegant mit seinen eigenen Daten und Überlegungen zusammen und versieht sie mit einer überzeugenden Grundthese, durchaus mit dem größeren Publikum im Blick. Ein so instruktiver wie erfreulich nüchterner Beitrag zur politisch-soziologischen Zeitdiagnose.
MIRYAM SCHELLBACH
Bis in die Neunziger waren
5 Prozent aller Landesgrenzen
fortifiziert, heute sind es 20
Steffen Mau:
Sortiermaschienen –
Die Neuerfindung
der Grenze im
21. Jahrhundert.
C.H. Beck, München 2021.
189 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Soziologe Steffen Mau hat einen erfreulich nüchternen Essay zur Debatte um die Befestigung nationaler Grenzen geschrieben
Im Frühjahr 2020 wirkte es kurz so, als würde die Mehrheit der Deutschen eine transnationale Liebesbeziehung führen. Überall tauchten sie auf, die Berichte von Paaren unterschiedlicher Nationalitäten, sei es im Elsass oder in der tschechisch-sächsischen Grenzregion, die sich wegen der zur Pandemiebekämpfung spontan beschlossenen Grenzschließungen allenfalls noch aus der Ferne über die Grenzanlage eine traurige Kusshand zuwerfen konnten. Was diese Bilder so drastisch erscheinen ließ, war die plötzliche kollektive Erkenntnis der mobilitätsgewohnten Europäer, dass sie in Ländern leben, die von Grenzen umgeben sind – und dass diese Grenzen auch geschlossen werden können.
Man muss nicht eigens an die sich im Frühjahr 2020 parallel abspielende Situation an der türkisch-griechischen Grenze erinnern, als Geflüchtete von türkischen Sicherheitskräften am Eintritt in die EU gehindert wurden, um zu zeigen, dass das neue Entsetzen der einen über die geschlossenen Grenzen der alte Alltag der anderen ist. „Seit der Jahrtausendwende können wir ein geradezu inflationäres Aufleben der Mauer- beziehungsweise fortifizierten Grenzen beobachten“, schreibt Steffen Mau in seinem neuen Essay „Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“. Er räumt darin mit einem allzu einseitigen Blick auf die Globalisierung auf. Demzufolge würde die Menschheit immer freier, Grenzen würden durchlässiger und territorial abgegrenzte Räume verschachtelter.
In Abstufungen mag das für die Fluktuation von Waren und dem Kapitalstrom zutreffen, für die Personenmobilität aber, für die sich der Berliner Soziologieprofessor hier interessiert, gilt diese Tendenz nicht. Das ist keine ganz neue Erkenntnis. Nicht zuletzt jüngere postkoloniale Forschungsansätze haben sich dieses Widerspruchs angenommen. In ihrer theoretischen Nachbarschaft ist Steffen Maus jüngstes Buch anzusiedeln, auch wenn er sich eher am Rande auf sie bezieht.
In der Gesamtheit aller Landesgrenzen, weltweit sind es laut Mau 630, gab es bis in die Neunziger hinein etwa fünf Prozent fortifizierte Grenzen, also den Übertritt verhindernde Mauern, Zäune, Wälle oder Stacheldrähte. Heute sind es etwa 20 Prozent. Interessant ist nun, dass etwa gleichzeitig zu dieser Steinwerdung der Territorien ein dazu querliegender Globalisierungsoptimismus aufkam. Mit dem Slogan „Grenzen sind so 80er“ warb die Piratenpartei bei der Europawahl 2014. Ob satirisch oder nicht, die Partei erfasste damit das „Entgrenzungsnarrativ“ recht zeitgeistig.
Mau setzt dagegen, dass globalisierende Prozesse neben dem öffnenden auch immer einen grenzschließenden Effekt haben. Mitunter werden Grenzen nur unsichtbarer, sie exterritorialisieren sich zu „shifting borders“. Die Rede von der Verteidigung Deutschlands „am Hindukusch“ bekommt in dieser Perspektive eine weitere erhellende Bedeutung. Genauso wie die Szene an der türkisch-griechischen Grenze politisch näher an Deutschland heranrückt, insofern das die Verantwortung verschiebende Kooperationsabkommen zwischen der EU und der Türkei von 2016 hier Gestalt bekommt. Mau spricht im Fall der Verlagerung von Grenzkontrollen auf die Territorien anderer Länder, sei es die Türkei, Italien oder Griechenland im Falle der Drittstaatenregelung, von Ländern, die zu „unfreiwilligen Türstehern des europäischen Hauses“ oder, je nach Perspektive, der „Festung Europa“ werden.
Doch beschränkt sich die Mauerschau in „Sortiermaschinen“ nicht auf diese bekannten Fälle. Jede Grenze ist durchlässig, auch der 50-Fuß-Wall, über den Obamas Sicherheitsministerin Napolitano noch witzelte, es würde sich selbst für diesen eine ausreichend lange Leiter finden lassen. Steffen Mau beschreibt, wie die Filterfunktion von Grenzen, die „guten“ von den „schlechten“ Einwanderern zu trennen, zunehmend auch von smarten Technologien gesteuert wird. Mit Datenbanken verknüpfte digitalisierte Grenzen identifizieren über die Kontrolle biometrischer Informationen wie den Iris-Scan. Von dort ist es nur eine Frage der Zeit, Pilotprojekte beweisen es, bis durch die Zusammenführung verschiedener Datenbanken auf die Vertrauensfähigkeit eines Einreisewilligen geschlossen wird. „Mit der Definition einheitlicher Datenformate und der erzwungenen Nutzung bestimmter Technologien zur Datenweitergabe werden extensive Zugriffsmöglichkeiten geschaffen, die von unterschiedlichen Staaten und deren Kontrollbehörden genutzt werden können“, schreibt Mau. Je transparenter aber der Einzelne wird, umso leichter kann an der Grenze auch nach unerwünschten Reisenden gesucht werden. Hier verstärkt sich die dem Buch voranstehende Grundbeobachtung: „Die Grenze als Sortiermaschine ist ein Ungleichheitsgenerator, wie es vermutlich keinen zweiten gibt.“
Maus Überlegungen stehen in einem weiten Referenzraum. Viele seiner theoretischen Vorgänger benennt er, sie reichen von Max Weber über Ulrich Beck bis hin zu Anthony Giddens und Wendy Brown, die in ihrem Buch „Mauern“ das Verhältnis von hohen Grenzmauern und der immer brüchiger werdenden nationalstaatlichen Souveränität beschrieben hat. Mau führt in seinem Essay die fachwissenschaftliche Grenzdebatte elegant mit seinen eigenen Daten und Überlegungen zusammen und versieht sie mit einer überzeugenden Grundthese, durchaus mit dem größeren Publikum im Blick. Ein so instruktiver wie erfreulich nüchterner Beitrag zur politisch-soziologischen Zeitdiagnose.
MIRYAM SCHELLBACH
Bis in die Neunziger waren
5 Prozent aller Landesgrenzen
fortifiziert, heute sind es 20
Steffen Mau:
Sortiermaschienen –
Die Neuerfindung
der Grenze im
21. Jahrhundert.
C.H. Beck, München 2021.
189 Seiten, 15 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de