Der Historiker Werner Conze, als Angehöriger der sogenannten Volksgeschichte in der Zwischenkriegszeit sozialhistorisch ausgebildet, verfolgte nach dem Kriege dezidiert das Projekt, die bislang von der Politikgeschichte dominierte Geschichtsschreibung auf Sozialgeschichte umzustellen. Er und einige befreundete Kollegen waren der Meinung, dass die tief greifenden gesellschaftlichen Veränderungsprozesse im Gefolge der Industrialisierung und des Aufstiegs des Kommunismus in Europa politikgeschichtlich nicht mehr angemessen zu verstehen seien, sondern neuer Untersuchungsmethoden bedürften. Die Erneuerung erforderte freilich geschickte strategische Arbeit. Die Historiker mussten in einem mühevollen Prozess vom Mehrwert einer sozialgeschichtlichen Herangehensweise überzeugt werden, Sozialgeschichte setzte nicht sich durch, sie musste durch Historiker wie Conze aktiv propagiert und in der Historiographie etabliert werden. Gleichzeitig wird hinter dem Projekt der Sozialgeschichte einspezifisches Weltbild sichtbar. Man erkennt, dass die Texte der frühen Sozialgeschichte durch die Vorstellung, dass die Gesellschaft im Innern sozial harmonisiert und nach außen durch sichere, eindeutigen Grenzen geschützt sein sollte, strukturiert wurden. Eine solche Gesellschaftsordnung bildete - wegen der persönlichen Erfahrung andauernder gesellschaftlicher Instabilität seit 1918 - das Ideal der Sozialhistoriker. Durch den Kommunismus sahen sie dieses Ideal permanent doppelt bedroht: im Innern durch soziale Revolutionen, von außen durch die Sowjetunion. Ihre Texte erweisen sich vor diesem Hintergrund als ein komplexes System ineinander verschachtelter und sich gegenseitig stützender Deutungen, das die Legitimation des Kommunismus historiographisch eliminieren sollte. Sozialisation in der Zwischenkriegszeit, methodische Innovation und politisches Programm erweisen sich in der Sozialgeschichte der frühen Bundesrepublik als unlösbar miteinander verknüpft; ein in der Zwischenkriegszeit ausgebildetes Ordnungsdenken modernisierte und prägte inhaltlich wie methodisch die Historiographie der 1950er Jahre.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.2002Metaphysik des Netzwerks
Thomas Etzemüllers weltfremde Lehre vom Lehrstühlerücken
Wenn das vorliegende Buch Schule macht, wird ein Doktorand, der auf die Idee käme, über Hans-Ulrich Wehler und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1968 zu arbeiten, auch die Grabbelkisten der Antiquariate von Universitätsstädten durchwühlen müssen. "Man muß den Austauschverkehr der Sonderdrucke dokumentieren", postuliert Thomas Etzemüller, "wer sie sofort, erst spät, nur auf Anfrage oder gar nicht bekam, man muß die Anfragen und Emfehlungen bei Berufungen rekonstruieren, nicht nur, wer wen empfahl, sondern auch, wer überhaupt gefragt wurde." Hier, und nicht nur hier, hat der Autor den Mund ein wenig voll genommen, darin dem Helden seiner Studie nicht unähnlich, den er als modernen Typus des Wissenschaftsmanagers charakterisiert, als begnadeten Planer, Entwerfer, Ankündiger, als "Sprecher" kurzum, jenen Großsprecher, der zur Großforschung gehört wie die Widmung zum Sonderdruck.
Vergeblich wartet man in Etzemüllers unübersichtlicher Darstellung auf die Grafik mit den Distributionswegen der Separata von Conzes Aufsatz "Vom Pöbel zum Proletariat" aus dem Jahre 1954. In welche feinen Fäden hätte Etzemüller doch das "Netzwerk" der "Königsberger", der Schüler des zurückgekehrten Emigranten Hans Rothfels, auseinanderlegen können, wenn er eine Typologie der Grußformeln beim Sonderdruckversand entwickelt hätte, im Sinne, womöglich gar am Beispiel von Theodor Schieders Aufsatz "Der Typus in der Geschichtswissenschaft" von 1952. Eingelöst wird immerhin das Programm, das Lehrstühlerücken nicht nur aus den Fakultätsakten, sondern nach den Briefwechseln der Fädenzieher zu schildern.
Daß bei Etzemüller in erster Linie Conzes strategisches Handeln plastisch wird, hat Manfred Hettling in seiner Rezension für die Internetzeitschrift H-Soz-u-Kult auf die Erfahrungswelt des Autors zurückgeführt: Nachwuchsforscher erleben den Wissenschaftsbetrieb als System, in dem Karriereplanung erwartet wird. Diese strategische Sicht ist für Etzemüller freilich so selbstverständlich, daß sie zuviel erklärt: Einzelnachweise für die Wirkungsweise der Ordinarienkartelle erübrigen sich, da ihre Macht vorausgesetzt wird.
Der Weg auf das Heidelberger Ordinariat führte für Conze, wie sein Freund Schieder durch den Zusammenbruch des deutschen Ostens stellenlos, über Münster, wo ihm 1951 zunächst eine Lehrstuhlvertretung angeboten wurde. Hatte "ein geselliges Beisammensein der alten ,Königsberger' Ende April 1951 in Dortmund" die Sache eingefädelt? Leider führte die fröhliche Runde kein Protokoll. "Die Tatsache, daß zwei ehemalige Königsberger Ordinarien, Herbert Grundmann und Kurt von Raumer, an der Westfälischen Landesuniversität saßen, legt aber die Vermutung nahe, daß das Netzwerk arbeitete." Nur zwei Seiten vorher hatte Etzemüller allerdings dargelegt, daß dem mutmaßlichen Netzwerker Grundmann der frühere Kollege Conze "nicht recht durchsichtig" erschien. Wer Etzemüller unter Etzemüllers Prämisse kritisieren wollte, daß in der "Narratio" jedes Historikers ein "Denkstil" durchschlage, ein durch keine Empirie korrigierbares Leitbild, müßte sich mit den Figuren des "Netzwerks" und der "Seilschaft" beschäftigen, mit ihrem metaphysischen Überschuß jenseits des unbestreitbaren Befundes, daß Rothfels, Schieder und Conze als Virtuosen des Allianzenschmiedens gelehrige Schüler Bismarcks waren.
Akademische Machtpolitik mit Netz, doppeltem Boden und Hintertür: Solche Vorstellungen von einer Lenkung des Geschehens aus dem Hintergrund erinnern an die verschwörungstheoretische Vorgeschichte der Geschichtsphilosophie, die Reinhart Koselleck in seiner noch nicht von Conze angeregten Dissertation erzählt hat. Man darf es mit der Netzmetapher genau nehmen, bildet sie doch in Etzemüllers Untersuchung den Knotenpunkt von wissenssoziologischer Methode und zeitgeschichtlichem Thema. Die Frage des verborgenen Einflusses in der gelehrten Personalpolitik führt auf das Problem der verborgenen Kontinuität zwischen den Forschungsprogrammen nationalsozialistischer und bundesrepublikanischer Historie. Länger als ein Jahrzehnt dauert nun schon der Streit: Wieviel Königsberger "Volksgeschichte" steckt in der Heidelberger "Sozialgeschichte" und in der späteren Bielefelder "Gesellschaftsgeschichte"?
Wissenschaft ist eine öffentliche Tätigkeit. Mit welcher Vorsicht vorzugehen ist, wenn man Grund zu haben glaubt, ihre wahre Geschichte sei eine geheime, lehrt der Skandal des Aachener Germanisten Schwerte alias Schneider. Klaus Weimar hat plausibel gemacht, daß die These, eine Seilschaft alter Kameraden habe dem SS-Mann den Aufstieg in die Gipfelregion bundesdeutscher Wissenschaftspolitik ermöglicht, die Ausgeburt einer schauerromantischen Kriminalistik ist. Mit der Frage, ob jedermann Schneider in Schwerte erkennen mußte, steht und fällt die für diesen Fall von Claus Leggewie wie von Heinz Schlaffer in Anspruch genommene typische Bedeutung, die Vorstellung, "alle" hätten "alles" gewußt, die ganze Elite des Reiches habe denselben "Seitenwechsel" vollzogen, ihre Gesinnung ausgetauscht wie ein Paßfoto.
Auch Etzemüller ist der Ansicht, die im Reich verbliebenen Professoren seien 1945 mehr oder minder in derselben moralischen Lage gewesen. "Kaum ein Historiker hatte dem Nationalsozialismus wirklich ferngestanden." Zur Begründung dieses Pauschalurteils wird auf die einschlägige Studie von Karin Schönwälder verwiesen, ein Beispiel dafür, wie ein Buch einem Forschungsfeld sehr spezielle Perspektiven aufprägen kann, wenn es das Feld nur früh genug besetzt. Es handelt sich um eine Marburger Dissertation aus der dortigen marxistischen sozialwissenschaftlichen Schule. Den Historikern wird eine Mitwirkung am Faschismus nachgewiesen, die dem gesamten Bürgertum unterstellt wird. Diese Operation gelingt aber nur, wenn "den" Nationalsozialismus nicht Rassismus und Antisemitismus ausmachen, sondern Hitlers außenpolitische (Minimal-)Ziele. Eine These, die unter doktrinären Prämissen entwickelt wurde, wird heute von einer post-ideologischen Forschergeneration als sicheres Wissen rezipiert, der es, in Etzemüllers Wortwahl, nur noch "bizarr" erscheinen will, daß deutsche Historiker sich einmal "bedingungslos" ihrer Nation verpflichtet glaubten.
Nicht aus den Quellen wird allerdings solcher von Anfang an nach letztem Aufgebot klingender Fanatismus belegt, sondern aus polemischer Tertiärliteratur - wie auf der methodischen Seite für die überlieferte Übermacht der "großen Männer" die Bielefelder Schulhistorie von Horst Walter Blanke bürgt. Etzemüller unterläßt jede Einordnung von Conzes Programm in sozialhistorische Traditionen - und läßt sich die Pointe entgehen, daß die "Strukturgeschichte", die mit Hans Freyer nach den "haltenden Mächten" im Weltalter des Individualismus suchte, einen Ansatz in die Fachhistorie einbürgerte, der unter Demokratieverdacht gestanden hatte, solange er von Sozialdemokraten, Katholiken und Franzosen propagiert wurde. Aus den Königsberger Erfahrungen Conzes und Schieders will Etzemüller die Produktpaletten ihrer Doktorandenfabriken herleiten - und gelangt doch über Mutmaßungen abstraktester Art nichts hinaus.
Nicht die Wirklichkeit habe Conze abgebildet, sondern seinen Denkstil, erläutert Etzemüller im schlechten Idealismus des erkenntnistheoretischen Proseminar-Tutoriums. Diesen Denkstil habe das Phantasma des Reiches geprägt, der sicheren Grenze. Soll denn innovativ an der Volksgeschichte nicht gewesen sein, daß ihr ostmitteleuropäische Anschauung das Illusionäre scharfer nationalstaatlicher Grenzziehung vor Augen führte? Das mag für Etzemüller dahinstehen, der in wissenssoziologischem Durchgriff den Forschungsproblemen die Sachdimension abspricht. Was ist der blinde Fleck dieses Luhmann-Liebhabers? Den Rothfelsschülern hält Etzemüller vor, sie hätten den Kommunismus nur als Angriff auf ihre Welt verstehen können. Ja, war das denn falsch? Was war der Kommunismus denn anderes als ein Angriff auf die bürgerliche Welt? Brav lobt die preisgekrönte Dissertation aus dem Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen den Beitrag des geläuterten Ostforschers Conze zur Amerikanisierung der Bundesrepublik. Verwestlichung ohne Abwehr nach Osten: Das ist das Traumbild dieses in jeder Hinsicht, methodisch wie politisch, weltfremden Buches.
PATRICK BAHNERS
Thomas Etzemüller: "Sozialgeschichte als politische Geschichte". Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. Ordnungssysteme: Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Band 9. R. Oldenbourg Verlag, München 2001. 445 S., geb., 49,80 [Euro].
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Thomas Etzemüllers weltfremde Lehre vom Lehrstühlerücken
Wenn das vorliegende Buch Schule macht, wird ein Doktorand, der auf die Idee käme, über Hans-Ulrich Wehler und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1968 zu arbeiten, auch die Grabbelkisten der Antiquariate von Universitätsstädten durchwühlen müssen. "Man muß den Austauschverkehr der Sonderdrucke dokumentieren", postuliert Thomas Etzemüller, "wer sie sofort, erst spät, nur auf Anfrage oder gar nicht bekam, man muß die Anfragen und Emfehlungen bei Berufungen rekonstruieren, nicht nur, wer wen empfahl, sondern auch, wer überhaupt gefragt wurde." Hier, und nicht nur hier, hat der Autor den Mund ein wenig voll genommen, darin dem Helden seiner Studie nicht unähnlich, den er als modernen Typus des Wissenschaftsmanagers charakterisiert, als begnadeten Planer, Entwerfer, Ankündiger, als "Sprecher" kurzum, jenen Großsprecher, der zur Großforschung gehört wie die Widmung zum Sonderdruck.
Vergeblich wartet man in Etzemüllers unübersichtlicher Darstellung auf die Grafik mit den Distributionswegen der Separata von Conzes Aufsatz "Vom Pöbel zum Proletariat" aus dem Jahre 1954. In welche feinen Fäden hätte Etzemüller doch das "Netzwerk" der "Königsberger", der Schüler des zurückgekehrten Emigranten Hans Rothfels, auseinanderlegen können, wenn er eine Typologie der Grußformeln beim Sonderdruckversand entwickelt hätte, im Sinne, womöglich gar am Beispiel von Theodor Schieders Aufsatz "Der Typus in der Geschichtswissenschaft" von 1952. Eingelöst wird immerhin das Programm, das Lehrstühlerücken nicht nur aus den Fakultätsakten, sondern nach den Briefwechseln der Fädenzieher zu schildern.
Daß bei Etzemüller in erster Linie Conzes strategisches Handeln plastisch wird, hat Manfred Hettling in seiner Rezension für die Internetzeitschrift H-Soz-u-Kult auf die Erfahrungswelt des Autors zurückgeführt: Nachwuchsforscher erleben den Wissenschaftsbetrieb als System, in dem Karriereplanung erwartet wird. Diese strategische Sicht ist für Etzemüller freilich so selbstverständlich, daß sie zuviel erklärt: Einzelnachweise für die Wirkungsweise der Ordinarienkartelle erübrigen sich, da ihre Macht vorausgesetzt wird.
Der Weg auf das Heidelberger Ordinariat führte für Conze, wie sein Freund Schieder durch den Zusammenbruch des deutschen Ostens stellenlos, über Münster, wo ihm 1951 zunächst eine Lehrstuhlvertretung angeboten wurde. Hatte "ein geselliges Beisammensein der alten ,Königsberger' Ende April 1951 in Dortmund" die Sache eingefädelt? Leider führte die fröhliche Runde kein Protokoll. "Die Tatsache, daß zwei ehemalige Königsberger Ordinarien, Herbert Grundmann und Kurt von Raumer, an der Westfälischen Landesuniversität saßen, legt aber die Vermutung nahe, daß das Netzwerk arbeitete." Nur zwei Seiten vorher hatte Etzemüller allerdings dargelegt, daß dem mutmaßlichen Netzwerker Grundmann der frühere Kollege Conze "nicht recht durchsichtig" erschien. Wer Etzemüller unter Etzemüllers Prämisse kritisieren wollte, daß in der "Narratio" jedes Historikers ein "Denkstil" durchschlage, ein durch keine Empirie korrigierbares Leitbild, müßte sich mit den Figuren des "Netzwerks" und der "Seilschaft" beschäftigen, mit ihrem metaphysischen Überschuß jenseits des unbestreitbaren Befundes, daß Rothfels, Schieder und Conze als Virtuosen des Allianzenschmiedens gelehrige Schüler Bismarcks waren.
Akademische Machtpolitik mit Netz, doppeltem Boden und Hintertür: Solche Vorstellungen von einer Lenkung des Geschehens aus dem Hintergrund erinnern an die verschwörungstheoretische Vorgeschichte der Geschichtsphilosophie, die Reinhart Koselleck in seiner noch nicht von Conze angeregten Dissertation erzählt hat. Man darf es mit der Netzmetapher genau nehmen, bildet sie doch in Etzemüllers Untersuchung den Knotenpunkt von wissenssoziologischer Methode und zeitgeschichtlichem Thema. Die Frage des verborgenen Einflusses in der gelehrten Personalpolitik führt auf das Problem der verborgenen Kontinuität zwischen den Forschungsprogrammen nationalsozialistischer und bundesrepublikanischer Historie. Länger als ein Jahrzehnt dauert nun schon der Streit: Wieviel Königsberger "Volksgeschichte" steckt in der Heidelberger "Sozialgeschichte" und in der späteren Bielefelder "Gesellschaftsgeschichte"?
Wissenschaft ist eine öffentliche Tätigkeit. Mit welcher Vorsicht vorzugehen ist, wenn man Grund zu haben glaubt, ihre wahre Geschichte sei eine geheime, lehrt der Skandal des Aachener Germanisten Schwerte alias Schneider. Klaus Weimar hat plausibel gemacht, daß die These, eine Seilschaft alter Kameraden habe dem SS-Mann den Aufstieg in die Gipfelregion bundesdeutscher Wissenschaftspolitik ermöglicht, die Ausgeburt einer schauerromantischen Kriminalistik ist. Mit der Frage, ob jedermann Schneider in Schwerte erkennen mußte, steht und fällt die für diesen Fall von Claus Leggewie wie von Heinz Schlaffer in Anspruch genommene typische Bedeutung, die Vorstellung, "alle" hätten "alles" gewußt, die ganze Elite des Reiches habe denselben "Seitenwechsel" vollzogen, ihre Gesinnung ausgetauscht wie ein Paßfoto.
Auch Etzemüller ist der Ansicht, die im Reich verbliebenen Professoren seien 1945 mehr oder minder in derselben moralischen Lage gewesen. "Kaum ein Historiker hatte dem Nationalsozialismus wirklich ferngestanden." Zur Begründung dieses Pauschalurteils wird auf die einschlägige Studie von Karin Schönwälder verwiesen, ein Beispiel dafür, wie ein Buch einem Forschungsfeld sehr spezielle Perspektiven aufprägen kann, wenn es das Feld nur früh genug besetzt. Es handelt sich um eine Marburger Dissertation aus der dortigen marxistischen sozialwissenschaftlichen Schule. Den Historikern wird eine Mitwirkung am Faschismus nachgewiesen, die dem gesamten Bürgertum unterstellt wird. Diese Operation gelingt aber nur, wenn "den" Nationalsozialismus nicht Rassismus und Antisemitismus ausmachen, sondern Hitlers außenpolitische (Minimal-)Ziele. Eine These, die unter doktrinären Prämissen entwickelt wurde, wird heute von einer post-ideologischen Forschergeneration als sicheres Wissen rezipiert, der es, in Etzemüllers Wortwahl, nur noch "bizarr" erscheinen will, daß deutsche Historiker sich einmal "bedingungslos" ihrer Nation verpflichtet glaubten.
Nicht aus den Quellen wird allerdings solcher von Anfang an nach letztem Aufgebot klingender Fanatismus belegt, sondern aus polemischer Tertiärliteratur - wie auf der methodischen Seite für die überlieferte Übermacht der "großen Männer" die Bielefelder Schulhistorie von Horst Walter Blanke bürgt. Etzemüller unterläßt jede Einordnung von Conzes Programm in sozialhistorische Traditionen - und läßt sich die Pointe entgehen, daß die "Strukturgeschichte", die mit Hans Freyer nach den "haltenden Mächten" im Weltalter des Individualismus suchte, einen Ansatz in die Fachhistorie einbürgerte, der unter Demokratieverdacht gestanden hatte, solange er von Sozialdemokraten, Katholiken und Franzosen propagiert wurde. Aus den Königsberger Erfahrungen Conzes und Schieders will Etzemüller die Produktpaletten ihrer Doktorandenfabriken herleiten - und gelangt doch über Mutmaßungen abstraktester Art nichts hinaus.
Nicht die Wirklichkeit habe Conze abgebildet, sondern seinen Denkstil, erläutert Etzemüller im schlechten Idealismus des erkenntnistheoretischen Proseminar-Tutoriums. Diesen Denkstil habe das Phantasma des Reiches geprägt, der sicheren Grenze. Soll denn innovativ an der Volksgeschichte nicht gewesen sein, daß ihr ostmitteleuropäische Anschauung das Illusionäre scharfer nationalstaatlicher Grenzziehung vor Augen führte? Das mag für Etzemüller dahinstehen, der in wissenssoziologischem Durchgriff den Forschungsproblemen die Sachdimension abspricht. Was ist der blinde Fleck dieses Luhmann-Liebhabers? Den Rothfelsschülern hält Etzemüller vor, sie hätten den Kommunismus nur als Angriff auf ihre Welt verstehen können. Ja, war das denn falsch? Was war der Kommunismus denn anderes als ein Angriff auf die bürgerliche Welt? Brav lobt die preisgekrönte Dissertation aus dem Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen den Beitrag des geläuterten Ostforschers Conze zur Amerikanisierung der Bundesrepublik. Verwestlichung ohne Abwehr nach Osten: Das ist das Traumbild dieses in jeder Hinsicht, methodisch wie politisch, weltfremden Buches.
PATRICK BAHNERS
Thomas Etzemüller: "Sozialgeschichte als politische Geschichte". Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. Ordnungssysteme: Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Band 9. R. Oldenbourg Verlag, München 2001. 445 S., geb., 49,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Es gibt noch nicht viele Arbeiten, die sich mit den Ursachen und Entstehungsbedingen der Sozialgeschichte als politische Geschichte beschäftigt haben, zu deren Protagonisten vor allem der Historiker Werner Conze zählt, weiß Rezensent Winfried Schulze. Thomas Etzemüller, ein Schüler des Tübinger Zeithistorikers Anselm Doering-Manteuffel, hat mit seiner Untersuchung über Conze einen wesentlichen Grundstein und damit Maßstäbe für künftige Arbeiten gesetzt, ist der Rezensent überzeugt. Sowohl die Denkstile Conzes als auch ihr institutionelles Umfeld und der Blick auf die Nachbardisziplinen Politikwissenschaft und Soziologie geben dem Leser einen dichten Einblick in das Wirken eines nach 1945 neu entstandenen Forschungszweiges. Wichtig sei dabei aber auch die "personelle Konstellation" der 'Rothfels-Gruppe", "also jener in Königsberg durch den - spät emigrierten - deutsch-nationalen Historiker sozialisierten Gruppe von Historikern und Soziologen, die sich nach 1945 als eng zusammenhaltendes Netzwerk verstanden und entsprechend agierten". Schulze findet all diese Zusammenhänge in Etzemüllers Studie intelligent, einfühlsam und fundiert aufbereitet. Der Autor hat, ist sich der Rezensent sicher, damit die Messlatte für die weitere Forschung zum Thema "erfreulich hoch angelegt".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Es gibt noch nicht viele Arbeiten, die sich mit den Ursachen und Entstehungsbedingen der Sozialgeschichte als politische Geschichte beschäftigt haben, zu deren Protagonisten vor allem der Historiker Werner Conze zählt, weiß Rezensent Winfried Schulze. Thomas Etzemüller, ein Schüler des Tübinger Zeithistorikers Anselm Doering-Manteuffel, hat mit seiner Untersuchung über Conze einen wesentlichen Grundstein und damit Maßstäbe für künftige Arbeiten gesetzt, ist der Rezensent überzeugt. Sowohl die Denkstile Conzes als auch ihr institutionelles Umfeld und der Blick auf die Nachbardisziplinen Politikwissenschaft und Soziologie geben dem Leser einen dichten Einblick in das Wirken eines nach 1945 neu entstandenen Forschungszweiges. Wichtig sei dabei aber auch die "personelle Konstellation" der 'Rothfels-Gruppe", "also jener in Königsberg durch den - spät emigrierten - deutsch-nationalen Historiker sozialisierten Gruppe von Historikern und Soziologen, die sich nach 1945 als eng zusammenhaltendes Netzwerk verstanden und entsprechend agierten". Schulze findet all diese Zusammenhänge in Etzemüllers Studie intelligent, einfühlsam und fundiert aufbereitet. Der Autor hat, ist sich der Rezensent sicher, damit die Messlatte für die weitere Forschung zum Thema "erfreulich hoch angelegt". (SDZ, 29.11.2001)