Sozialstaatlichkeit in der DDR war eine wichtige Legitimationsressource des SED-Regimes. Sie war darüber hinaus für das Funktionieren einer modernen industriellen Arbeitsgesellschaft unverzichtbar und prägte auch in der DDR die sozialen Lebenslagen der Bevölkerung. Der Sammelband enthält Längsschnittstudien für den gesamten Zeitraum der SBZ/DDR zu zentralen ausgewählten Feldern der DDR-Sozialpolitik: Frauenpolitik, DDR-Arbeitsgesellschaft, Zentralismus und Partizipation, Konsumpolitik.
PD Dr. Dierk Hoffmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Abteilung Berlin.
PD Dr. Michael Schwartz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, Abteilung Berlin.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.2006Erichs Arbeitsgesellschaft
Sozialpolitische Leistungen erhielten in der DDR vor allem die Erwerbstätigen
Die DDR ist nicht nur an ihrer permanent fehlenden demokratischen Legitimation gescheitert, sondern auch deshalb, weil sozialpolitische Leistungen nicht mehr erwirtschaftet werden konnten. Das könnte man zwar durchaus als Menetekel für den unaufschiebbaren Umbau unserer Sozialsysteme und die ebenso unumgängliche Änderung der dahinter stehenden Sozialpolitik nehmen. Dennoch resultierte der Kollaps des "real existierenden Sozialismus" als Sozialstaat auch aus selbst induzierten Problemen.
Diese Tatsache weist ein Sammelband nach, dessen Beiträge sich eingehend mit wichtigen Aspekten der im SED-Staat praktizierten Sozialpolitik befassen. Zu Recht wird darauf hingewiesen, daß sozialistische Sozialpolitik wesentlich mehr umfaßte als im Wohlfahrtsstaat der freiheitlichen, marktwirtschaftlichen Demokratie. Zunächst verkörperte sie gleichsam das Wesen des Sozialismus und hatte gleichzeitig angesichts fehlender demokratischer Legitimierung das nach 1945 neu geschaffene Herrschafts-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu legitimieren. Von Anfang an galt dies auch gegenüber dem westdeutschen "kapitalistischen" Konkurrenzstaat. Sodann sollte sie identitäts- und konsensstiftend wirken, um jene erwünschte Loyalität der DDR-Bürger zu erzielen, die Ulbricht, Honecker und andere sich immer ersehnten und doch nie genug davon erhielten. Nicht zuletzt sollte ihre Ausweitung zu einer Art "Superpolitik" ab dem Machtwechsel von 1971 einen verstärkten systemstabilisierenden Effekt zeitigen.
Die im Vergleich zu westlich-demokratischen Systemen erheblich stärkere Anbindung an die Wirtschaft, in der Formel von der "Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik" während der Honecker-Ära klassisch zum Ausdruck gebracht, stellte ein weiteres Charakteristikum dar. Doch diese Symbiose sollte sich als selbst aufgestellte Falle erweisen, zumal sich - wie in der DDR der siebziger und achtziger Jahre - zwischen steigenden sozialpolitischen Leistungen und schrumpfenden volkswirtschaftlichen Erträgen eine immer größer werdende Schere auftat. Politisch-ideologischer Anspruch und zunehmend enttäuschte Erwartungen trugen daher maßgeblich zum "Herbst '89" bei. In der Tat wuchsen die sozialpolitischen Ausgaben des Staates schneller als die auf Arbeitsleistung basierenden Einkommen. Insbesondere der ohnehin hohe, ab 1983 aber noch einmal sprunghaft ansteigende Anteil der Subventionen schlug hier zu Buche. Die bewußt niedrig gehaltenen Nahrungsmittelpreise ebenso wie die billigen Mieten und Energietarife kosteten eben doch ihren Preis. Ein Jahr vor der "Wende" beanspruchten Sozialleistungen aller Art im SED-Staat mehr als ein Drittel der Wertschöpfung und überforderten damit die DDR-Wirtschaft.
Schon bald nach Kriegsende hatten KPD beziehungsweise SED eine Politik der stetigen Erhöhung der Erwerbstätigen verfolgt und blieben ihr bis zum Schluß treu; im Mittelpunkt der Sozialpolitik stand der Ausbau einer "Arbeitsgesellschaft". Ihre Politik war durchaus erfolgreich: Ende der achtziger Jahre betrug die Quote der Gesamterwerbstätigen in der DDR nahezu 90 Prozent, während sie in der Bundesrepublik nur bei knapp 70 Prozent lag. Gleichwohl wurde der Arbeitskräftemangel in einzelnen Industriebranchen nie behoben, da es der ostdeutschen Zentralverwaltungswirtschaft zu keinem Zeitpunkt gelang, die in einigen Betrieben gehorteten Arbeitskräfte in solche überzuführen, in welchen ein Beschäftigungsdefizit herrschte. Auch das verfassungsmäßig verbürgte Recht auf Arbeit, von nicht wenigen Bürgern der DDR nach 1990 als sozialpolitische Großtat des untergegangenen Staates gefeiert, trug zu dieser mangelnden Flexibilität bei.
"Arbeitsgesellschaft" bedeutete in der DDR aber auch, daß vor allem die tatsächlich erwerbstätige Bevölkerung sozialpolitische Leistungen erhielt; wer nicht (mehr) arbeiten konnte, blieb davon weitgehend ausgespart. Anders als in der Bundesrepublik waren die Renten nicht an die Entwicklung von Löhnen und Gehältern gekoppelt. Während sich zum Beispiel in den achtziger Jahren die Bruttoeinkommen in der DDR um fast 25 Prozent erhöhten, stiegen die Renten im gleichen Zeitraum gerade einmal um 11,2 Prozent. Über eine halbe Million Erwerbstätiger, die bereits aus dem Arbeitsleben ausgeschieden waren, mußten daher nach Vollendung des 60. beziehungsweise 65. Lebensjahres weiterarbeiten, um ihre Existenz zu sichern. Wer dies nicht konnte, lebte hart an der Armutsgrenze. Von Gleichbehandlung oder gar einer auf soziale Egalität abzielenden Politik kann daher nicht die Rede sein. Insofern sahen es Funktionäre nicht ungern, wenn Rentner von ihrer Reisefreiheit Gebrauch machten und vom kapitalistischen Klassenfeind sozialpolitisch alimentiert wurden.
Zur "Arbeitsgesellschaft" gehörte mit gut 80 Prozent auch einer der international höchsten Anteile weiblicher Beschäftigung. Gleichwohl waren die Ergebnisse einer seit Ende der sechziger Jahre verfolgten Emanzipationspolitik ambivalent: Traditionelle Asymmetrien der Geschlechterrollen und der Verteilung der (Haus-)Arbeit und Kindererziehung zu Lasten der Frauen blieben ebenso erhalten wie die Ungleichheit bei der Entlohnung, auch wenn sich durch die massierte Einbeziehung von Frauen in den Arbeitsprozeß das überlieferte Rollenbild allmählich veränderte.
Die Aufsätze, in denen auch die Artikulation sozialer Interessen zwischen Zentralismus und Partizipation, die Konsumpolitik der SED sowie die gescheiterte Kooperation im RGW auf diesen Politikfeldern erörtert werden, spiegeln die Leistungsfähigkeit moderner politik- und sozialgeschichtlicher DDR-Forschung wider. Leichte Lesekost sind sie allerdings nicht.
GÜNTHER HEYDEMANN
Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Herausgeber): Sozialstaatlichkeit in der DDR. Sozialpolitische Entwicklungen im Spannungsfeld von Diktatur und Gesellschaft 1945/49-1989. R. Oldenbourg Verlag, München 2005. 194 S., 39,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sozialpolitische Leistungen erhielten in der DDR vor allem die Erwerbstätigen
Die DDR ist nicht nur an ihrer permanent fehlenden demokratischen Legitimation gescheitert, sondern auch deshalb, weil sozialpolitische Leistungen nicht mehr erwirtschaftet werden konnten. Das könnte man zwar durchaus als Menetekel für den unaufschiebbaren Umbau unserer Sozialsysteme und die ebenso unumgängliche Änderung der dahinter stehenden Sozialpolitik nehmen. Dennoch resultierte der Kollaps des "real existierenden Sozialismus" als Sozialstaat auch aus selbst induzierten Problemen.
Diese Tatsache weist ein Sammelband nach, dessen Beiträge sich eingehend mit wichtigen Aspekten der im SED-Staat praktizierten Sozialpolitik befassen. Zu Recht wird darauf hingewiesen, daß sozialistische Sozialpolitik wesentlich mehr umfaßte als im Wohlfahrtsstaat der freiheitlichen, marktwirtschaftlichen Demokratie. Zunächst verkörperte sie gleichsam das Wesen des Sozialismus und hatte gleichzeitig angesichts fehlender demokratischer Legitimierung das nach 1945 neu geschaffene Herrschafts-, Wirtschafts- und Gesellschaftssystem zu legitimieren. Von Anfang an galt dies auch gegenüber dem westdeutschen "kapitalistischen" Konkurrenzstaat. Sodann sollte sie identitäts- und konsensstiftend wirken, um jene erwünschte Loyalität der DDR-Bürger zu erzielen, die Ulbricht, Honecker und andere sich immer ersehnten und doch nie genug davon erhielten. Nicht zuletzt sollte ihre Ausweitung zu einer Art "Superpolitik" ab dem Machtwechsel von 1971 einen verstärkten systemstabilisierenden Effekt zeitigen.
Die im Vergleich zu westlich-demokratischen Systemen erheblich stärkere Anbindung an die Wirtschaft, in der Formel von der "Einheit der Wirtschafts- und Sozialpolitik" während der Honecker-Ära klassisch zum Ausdruck gebracht, stellte ein weiteres Charakteristikum dar. Doch diese Symbiose sollte sich als selbst aufgestellte Falle erweisen, zumal sich - wie in der DDR der siebziger und achtziger Jahre - zwischen steigenden sozialpolitischen Leistungen und schrumpfenden volkswirtschaftlichen Erträgen eine immer größer werdende Schere auftat. Politisch-ideologischer Anspruch und zunehmend enttäuschte Erwartungen trugen daher maßgeblich zum "Herbst '89" bei. In der Tat wuchsen die sozialpolitischen Ausgaben des Staates schneller als die auf Arbeitsleistung basierenden Einkommen. Insbesondere der ohnehin hohe, ab 1983 aber noch einmal sprunghaft ansteigende Anteil der Subventionen schlug hier zu Buche. Die bewußt niedrig gehaltenen Nahrungsmittelpreise ebenso wie die billigen Mieten und Energietarife kosteten eben doch ihren Preis. Ein Jahr vor der "Wende" beanspruchten Sozialleistungen aller Art im SED-Staat mehr als ein Drittel der Wertschöpfung und überforderten damit die DDR-Wirtschaft.
Schon bald nach Kriegsende hatten KPD beziehungsweise SED eine Politik der stetigen Erhöhung der Erwerbstätigen verfolgt und blieben ihr bis zum Schluß treu; im Mittelpunkt der Sozialpolitik stand der Ausbau einer "Arbeitsgesellschaft". Ihre Politik war durchaus erfolgreich: Ende der achtziger Jahre betrug die Quote der Gesamterwerbstätigen in der DDR nahezu 90 Prozent, während sie in der Bundesrepublik nur bei knapp 70 Prozent lag. Gleichwohl wurde der Arbeitskräftemangel in einzelnen Industriebranchen nie behoben, da es der ostdeutschen Zentralverwaltungswirtschaft zu keinem Zeitpunkt gelang, die in einigen Betrieben gehorteten Arbeitskräfte in solche überzuführen, in welchen ein Beschäftigungsdefizit herrschte. Auch das verfassungsmäßig verbürgte Recht auf Arbeit, von nicht wenigen Bürgern der DDR nach 1990 als sozialpolitische Großtat des untergegangenen Staates gefeiert, trug zu dieser mangelnden Flexibilität bei.
"Arbeitsgesellschaft" bedeutete in der DDR aber auch, daß vor allem die tatsächlich erwerbstätige Bevölkerung sozialpolitische Leistungen erhielt; wer nicht (mehr) arbeiten konnte, blieb davon weitgehend ausgespart. Anders als in der Bundesrepublik waren die Renten nicht an die Entwicklung von Löhnen und Gehältern gekoppelt. Während sich zum Beispiel in den achtziger Jahren die Bruttoeinkommen in der DDR um fast 25 Prozent erhöhten, stiegen die Renten im gleichen Zeitraum gerade einmal um 11,2 Prozent. Über eine halbe Million Erwerbstätiger, die bereits aus dem Arbeitsleben ausgeschieden waren, mußten daher nach Vollendung des 60. beziehungsweise 65. Lebensjahres weiterarbeiten, um ihre Existenz zu sichern. Wer dies nicht konnte, lebte hart an der Armutsgrenze. Von Gleichbehandlung oder gar einer auf soziale Egalität abzielenden Politik kann daher nicht die Rede sein. Insofern sahen es Funktionäre nicht ungern, wenn Rentner von ihrer Reisefreiheit Gebrauch machten und vom kapitalistischen Klassenfeind sozialpolitisch alimentiert wurden.
Zur "Arbeitsgesellschaft" gehörte mit gut 80 Prozent auch einer der international höchsten Anteile weiblicher Beschäftigung. Gleichwohl waren die Ergebnisse einer seit Ende der sechziger Jahre verfolgten Emanzipationspolitik ambivalent: Traditionelle Asymmetrien der Geschlechterrollen und der Verteilung der (Haus-)Arbeit und Kindererziehung zu Lasten der Frauen blieben ebenso erhalten wie die Ungleichheit bei der Entlohnung, auch wenn sich durch die massierte Einbeziehung von Frauen in den Arbeitsprozeß das überlieferte Rollenbild allmählich veränderte.
Die Aufsätze, in denen auch die Artikulation sozialer Interessen zwischen Zentralismus und Partizipation, die Konsumpolitik der SED sowie die gescheiterte Kooperation im RGW auf diesen Politikfeldern erörtert werden, spiegeln die Leistungsfähigkeit moderner politik- und sozialgeschichtlicher DDR-Forschung wider. Leichte Lesekost sind sie allerdings nicht.
GÜNTHER HEYDEMANN
Dierk Hoffmann/Michael Schwartz (Herausgeber): Sozialstaatlichkeit in der DDR. Sozialpolitische Entwicklungen im Spannungsfeld von Diktatur und Gesellschaft 1945/49-1989. R. Oldenbourg Verlag, München 2005. 194 S., 39,80 [Euro].
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"Alles in allem stellt der Band einen erhellenden, weil alle holzschnittartige Verinfachung vermeidenden Beitrag zu einem erst in jüngerer Zeit vertiefter bearbeiteten Themenfeld der DDR-Forschung dar." Thomas Goll in: Forum Politikunterricht, Heft 1/2006 "Die Aufsätze [...] spiegeln die Leistungsfähigkeit moderner politik- und sozialgeschichtlicher DDR-Forschung wider." Günther Heydemann in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 24.07.2006