Die romantische Liebe gilt uns als geheime Macht, als Quelle von höchstem Glück und gelegentlich auch von großem Schmerz. Sie wurde von Dichtern besungen und von Hollywood verkitscht. Die Soziologie hingegen holt die romantische Liebe auf den harten Boden der gesellschaftlichen Tatsachen zurück und beschreibt sie als soziale Erfindung, als Quidproquo oder als kommunikative Zumutung, wie die in diesem Band versammelten Texte aus hundert Jahren Soziologie von Georg Simmel bis Randall Collins zeigen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.09.2014Intime Verhältnisse
Wie lernt man, was im Verborgenen stattfindet?
VON JÜRGEN KAUBE
Liebe und Ehe sind Privatsachen. Nicht ganz privat, denn jenseits der Selbstliebe sind ja doch mindestens zwei beteiligt. Mitunter auch Dritte, die verschmäht, verlassen oder zu Seitensprüngen herangezogen werden. Aber alles in allem ist die Zahl der Personen, die es etwas angeht, wenn geliebt und eventuell geheiratet wird, doch begrenzt.
Das war nicht immer so. Man muss nur ein Königsdrama von Shakespeare aufschlagen, um zu sehen, dass zwar auch damals Liebe versichert wurde, aber Heiratsfragen zugleich von hohem politischen Interesse waren. Gefährdete Liebe diese Interessen, hatte Politik Vorfahrt. Selbst unter bürgerlichen Umständen kann bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein von "All You Need is Love" nicht die Rede sein. Auch in den besseren bürgerlichen Kreisen heiraten einander oft Vermögen, Grundstücke, Firmenanteile, Herkünfte. Das Personal musste lange Zeit ohnehin fragen, ob es heiraten darf. Und noch heute kommen beinahe zwei Drittel aller Eheschließungen weltweit nicht aufgrund der Initiative der Eheleute zustande, sondern werden von den beteiligten Herkunftsfamilien beschlossen.
Diese Zahl wird im Vorwort zu einem sehr lesenswerten Sammelband mit klassischen Texten zur Soziologie der Liebe zitiert, der soeben herausgekommen ist. Darin finden sich auch die "Notizen über Liebe" des 1988 verstorbenen norwegischen Soziologen Vilhelm Aubert. In den sechziger Jahren eine Berühmtheit seiner Disziplin, ist er heute weitgehend vergessen. Zu Unrecht, wie auch jene Notizen aus dem fabelhaften Buch "The Hidden Society" (Die verborgene Gesellschaft) von 1965 zeigen.
Sie passen zu diesem Titel besonders gut, denn die moderne Liebe ist aufgrund ihres privaten Charakters eine Fall verborgener Sozialität. Sie beansprucht abgeschlossene Räume, beschreibt sich als Geheimnis und beschränkt selbst dort, wo sie exhibitionistische Motive besitzt, den Adressatenkreis streng. Die Nacktbilder von Hollywood-Stars, die kürzlich von deren Smartphones und Computern gestohlen wurden, waren ein solcher Fall von verborgenem Exhibitionismus mit Anspruch auf Privatheit. Sexualität, notiert Aubert, sei soziologisch ein Symbol vorbehaltloser Zuwendung. Die ist nur möglich, und das Symbol wirkt aber nur dann, wenn die Enthüllung ihrerseits nicht enthüllt wird.
Gewiss kann Sexualität von dieser symbolischen Qualität auch abgelöst und versachlicht werden, beispielsweise in der Prostitution oder im "One Night Stand". Dann jedoch kommt es insofern zur Umkehr der Liebesregeln, als die Beteiligten nun praktisch alles voreinander verborgen halten können "außer dem, was normalerweise nur als Symbol rückhaltloser Hingabe enthüllt wird".
So weit, so romantisch. Doch Aubert wäre kein guter Soziologe, würde er nicht auch Folgeprobleme dieser Verborgenheit von Liebe und Sexualität erkennen. Wenn etwas nur im Verborgenen zu sich selbst kommt und nur im Geheimen ganz das werden kann, was es ist, wie kann man sich dann eigentlich realistisch darauf vorbereiten? Zunächst lernen die Kinder und Jugendlichen nur, dass es sich um etwas Geheimnisumwittertes handelt. Sie lernen "die Diskrepanz zwischen der Spannbreite der Begierden und dem, was offen eingestanden werden kann". Und sie lernen, dass die öffentliche Zurschaustellung von Liebe schnell peinlich werden kann. Noch in jedem harmlosen Jugendfilm mit wilden Hühnern, Kerlen, Pfefferkörnern oder Bibis und Tinas setzen an dieser Stelle Kichern, Augenrollen und Erröten ein, samt der Mitteilung, es könne eigentlich nicht mitgeteilt werden.
Für Aubert sind darum die wichtigsten Institutionen, durch die Liebe gelernt wird, Literatur und Verführung. Verführung ist für ihn dabei durch die Asymmetrie der Kenntnisstände und das Fehlen gemeinsamer Planung der Beteiligten charakterisiert. Sie beruht darauf, dass gar nicht ausgesprochen wird, was gerade geschieht. Der Unterricht im Privatesten wird folgerichtig durch "Privatlehrer" und "-lehrerinnen" erteilt. Verführung verwirklicht dabei Lernen durch Überrascht- oder sogar Überlistetwerden.
Unter Literatur als Instanz der Liebeserziehung wiederum versteht Aubert die ganze Bandbreite kultureller, also zu Vergleichen auffordernder Darstellungen von Liebe und Sexualität, Filme eingeschlossen. Literatur in diesem Sinne erfüllt die Funktion, das Privateste in öffentlicher Form zu behandeln, von "Madame Bovary" bis "Fifty Shades of Grey". Debatten über Pornographie sind darum für Aubert nicht einfach Moraldebatten, sondern Konflikte über den Wert von Verborgenheit und Enthüllung, "mithin über das Wesen der Liebe selbst".
Barbara Kuchler und Stefan Beher (Hrsg.): "Soziologie der Liebe. Romantische Beziehungen in theoretischer Perspektive", Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie lernt man, was im Verborgenen stattfindet?
VON JÜRGEN KAUBE
Liebe und Ehe sind Privatsachen. Nicht ganz privat, denn jenseits der Selbstliebe sind ja doch mindestens zwei beteiligt. Mitunter auch Dritte, die verschmäht, verlassen oder zu Seitensprüngen herangezogen werden. Aber alles in allem ist die Zahl der Personen, die es etwas angeht, wenn geliebt und eventuell geheiratet wird, doch begrenzt.
Das war nicht immer so. Man muss nur ein Königsdrama von Shakespeare aufschlagen, um zu sehen, dass zwar auch damals Liebe versichert wurde, aber Heiratsfragen zugleich von hohem politischen Interesse waren. Gefährdete Liebe diese Interessen, hatte Politik Vorfahrt. Selbst unter bürgerlichen Umständen kann bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein von "All You Need is Love" nicht die Rede sein. Auch in den besseren bürgerlichen Kreisen heiraten einander oft Vermögen, Grundstücke, Firmenanteile, Herkünfte. Das Personal musste lange Zeit ohnehin fragen, ob es heiraten darf. Und noch heute kommen beinahe zwei Drittel aller Eheschließungen weltweit nicht aufgrund der Initiative der Eheleute zustande, sondern werden von den beteiligten Herkunftsfamilien beschlossen.
Diese Zahl wird im Vorwort zu einem sehr lesenswerten Sammelband mit klassischen Texten zur Soziologie der Liebe zitiert, der soeben herausgekommen ist. Darin finden sich auch die "Notizen über Liebe" des 1988 verstorbenen norwegischen Soziologen Vilhelm Aubert. In den sechziger Jahren eine Berühmtheit seiner Disziplin, ist er heute weitgehend vergessen. Zu Unrecht, wie auch jene Notizen aus dem fabelhaften Buch "The Hidden Society" (Die verborgene Gesellschaft) von 1965 zeigen.
Sie passen zu diesem Titel besonders gut, denn die moderne Liebe ist aufgrund ihres privaten Charakters eine Fall verborgener Sozialität. Sie beansprucht abgeschlossene Räume, beschreibt sich als Geheimnis und beschränkt selbst dort, wo sie exhibitionistische Motive besitzt, den Adressatenkreis streng. Die Nacktbilder von Hollywood-Stars, die kürzlich von deren Smartphones und Computern gestohlen wurden, waren ein solcher Fall von verborgenem Exhibitionismus mit Anspruch auf Privatheit. Sexualität, notiert Aubert, sei soziologisch ein Symbol vorbehaltloser Zuwendung. Die ist nur möglich, und das Symbol wirkt aber nur dann, wenn die Enthüllung ihrerseits nicht enthüllt wird.
Gewiss kann Sexualität von dieser symbolischen Qualität auch abgelöst und versachlicht werden, beispielsweise in der Prostitution oder im "One Night Stand". Dann jedoch kommt es insofern zur Umkehr der Liebesregeln, als die Beteiligten nun praktisch alles voreinander verborgen halten können "außer dem, was normalerweise nur als Symbol rückhaltloser Hingabe enthüllt wird".
So weit, so romantisch. Doch Aubert wäre kein guter Soziologe, würde er nicht auch Folgeprobleme dieser Verborgenheit von Liebe und Sexualität erkennen. Wenn etwas nur im Verborgenen zu sich selbst kommt und nur im Geheimen ganz das werden kann, was es ist, wie kann man sich dann eigentlich realistisch darauf vorbereiten? Zunächst lernen die Kinder und Jugendlichen nur, dass es sich um etwas Geheimnisumwittertes handelt. Sie lernen "die Diskrepanz zwischen der Spannbreite der Begierden und dem, was offen eingestanden werden kann". Und sie lernen, dass die öffentliche Zurschaustellung von Liebe schnell peinlich werden kann. Noch in jedem harmlosen Jugendfilm mit wilden Hühnern, Kerlen, Pfefferkörnern oder Bibis und Tinas setzen an dieser Stelle Kichern, Augenrollen und Erröten ein, samt der Mitteilung, es könne eigentlich nicht mitgeteilt werden.
Für Aubert sind darum die wichtigsten Institutionen, durch die Liebe gelernt wird, Literatur und Verführung. Verführung ist für ihn dabei durch die Asymmetrie der Kenntnisstände und das Fehlen gemeinsamer Planung der Beteiligten charakterisiert. Sie beruht darauf, dass gar nicht ausgesprochen wird, was gerade geschieht. Der Unterricht im Privatesten wird folgerichtig durch "Privatlehrer" und "-lehrerinnen" erteilt. Verführung verwirklicht dabei Lernen durch Überrascht- oder sogar Überlistetwerden.
Unter Literatur als Instanz der Liebeserziehung wiederum versteht Aubert die ganze Bandbreite kultureller, also zu Vergleichen auffordernder Darstellungen von Liebe und Sexualität, Filme eingeschlossen. Literatur in diesem Sinne erfüllt die Funktion, das Privateste in öffentlicher Form zu behandeln, von "Madame Bovary" bis "Fifty Shades of Grey". Debatten über Pornographie sind darum für Aubert nicht einfach Moraldebatten, sondern Konflikte über den Wert von Verborgenheit und Enthüllung, "mithin über das Wesen der Liebe selbst".
Barbara Kuchler und Stefan Beher (Hrsg.): "Soziologie der Liebe. Romantische Beziehungen in theoretischer Perspektive", Suhrkamp Verlag, Berlin 2014.
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