Ein Dorf nahe der italienischen Grenze. Spät am Abend ist die Erzählerin nach einer Todesnachricht dort eingetroffen. Orion ist gestorben, mit dem sie viele Jahre ihres Lebens geteilt hat, ehe sie mit dem Kind die Flucht ergriff. Sie will die Nacht vor der Totenmesse im Wirtshaus am Waldrand zubringen, einer ehemals herrschaftlichen Villa. Doch diese ist wie ausgestorben, der sizilianische Wirt verreist, die Wirtschafterin wie jedes Jahr zur Fasnacht im Ort jenseits der Grenze, wo sich die Dorfbewohner als »Schöne und Hässliche« verkleiden. Zwar findet sie Zuflucht im unverschlossenen Gartensaal, wo sie früher oft zusammengesessen haben. Doch aufgestört von beunruhigenden Berichten aus dem benachbarten Tal, bedrängt von Erinnerungen an Orion und von Bildern aus der Kindheit, gerät die Erzählerin in einen zwischen Nachtwache und Schlaf oszillierenden Zustand. Nicht nur Szenen aus der Vergangenheit suchen sie heim, gegen Morgen tauchen auch maskierte Gestalten auf, die sie zugleich erschrecken und anziehen.
Auswandern und Vertriebensein, Verlust und Wiedergewinn, Trauer und das Irrlichtern während der Fasnachtszeit verbinden sich in Gertrud Leuteneggers Roman zu einer traumwandlerischen Gegenwart, »als würde alles, ein wenig nur von der Wirklichkeit verrückt, noch einmal neu gesehen werden können« Ulrich Rüdenauer, Der Tagesspiegel.
Auswandern und Vertriebensein, Verlust und Wiedergewinn, Trauer und das Irrlichtern während der Fasnachtszeit verbinden sich in Gertrud Leuteneggers Roman zu einer traumwandlerischen Gegenwart, »als würde alles, ein wenig nur von der Wirklichkeit verrückt, noch einmal neu gesehen werden können« Ulrich Rüdenauer, Der Tagesspiegel.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Hilmar Klute scheint verzaubert von Gertrud Leuteneggers Roman um eine Frau, die mit ihrer Tochter zur Beerdigung ihres Ex-Mannes in ein Tessiner Dorf zurückkehrt und dort von allerhand Erinnerungen heimgesucht wird. Für Klute hat dieses im Innern der Erzählerin ablaufende, durch Deckenfresken oder Betrunkene in den Gassen ausgelöste Erinnerungstheater durchaus etwas mit uns Menschen im Lockdown zu tun. Stark findet er zudem die Sprache im Erzählstrom, die Lichtmotivik und Leuteneggers Art, Figuren "gegeneinander spielen" zu lassen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.03.2021Nachklang der Stimmen
Eine leuchtende, kühne, schöne Sprache: In Gertrud Leuteneggers Roman „Späte Gäste“ wird kein Motiv vergeudet
Seit Jahrzehnten schreibt Gertrud Leutenegger Romane, die man als den jeweils vorherrschenden Tonarten und Themen gegenläufig bezeichnen kann. Selbst wenn sich Leuteneggers Erzählungen an allgemein fassbare Ereignisse koppeln, wie vor zwei Jahren „Panischer Frühling“ an den Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull, bewegen sie sich immer auch fort von diesen Ereignissen, zurück zu einer Art Prosagesang, wie man ihn heute selten vernimmt.
Leuteneggers jüngster Roman „Späte Gäste“ ist der von einem wilden Erinnerungsstrom unterspülte Monolog einer Frau, die in das Tessiner Dorf zurückkehrt, das sie vor vielen Jahren gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter verlassen hatte. Auch den Mann, Orion, hatte sie in dem Ort zurückgelassen, und nun ist der Mann tot, er liegt aufgebahrt in der abgeschlossenen Dorfkapelle.
Leutenegger-Leser kennen diesen wilden, so mutig am Gelingen interessierten wie elend an die Glücklosigkeit verlorenen Architekten und Türmebauer aus dem Roman „Pomona“ von 2004. Ein vitaler Mann, dessen Kraft und Talente irgendwie ins Leere laufen und der am Ende als beeindruckender Sonderling dem Pfarrer des Ortes mit ständigen Fragen nach der Uhrzeit den letzten Nerv raubt.
Die Frau, sie ist identisch mit der Erzählerin, kommt spätabends in dem Dorf jenseits des Gotthardpasses an. Es bleibt ihr als Übernachtungsmöglichkeit nur das alte Gasthaus am Dorfrand, dessen Türen der verreiste Wirt hat offen stehen lassen und in dessen Inneren sie sich gut genug auskennt, um sich dort zu behelfen und das Interieur, die Deckenverzierungen, das Schattenspiel und die Spiegelungen als Anlässe für hell und schön konturierte Erinnerungsbilder zu nutzen. Wie ein winterliches Schattentheater spielen sich Szenen aus der jüngeren Vergangenheit des Dorfes vor der Erzählerin ab.
Die wilden Faschingsfeiern, von denen sie einige früher schon erlebt hatte, sind irgendwo in dieser Bergnacht zugange. Hin und wieder glaubt sie, ein paar von den müden Feiernden vermummt oder verkleidet in den Sommerstühlen auf der Veranda zu sehen. Gemeinsam mit den über den Gotthardpass gekommenen Migranten, um die sich die Leute im Dorf auf verschwiegene Weise kümmern. Mit Orion hat die Erzählerin ein gemeinsames Kind, das seine ersten Jahre in diesem Dorf verbracht und die ruinösen Ambitionen des Vaters – Orion wollte überall Türme errichten, in New York sogar eine ganze Turmreihe – miterlebt hatte.
Immer wieder lässt Gertrud Leutenegger ihre Figuren nebeneinander und gegeneinander spielen. Hier und da gibt es einen grell aufleuchtenden Schrecken, unfassbare Traurigkeiten und schlimme Schicksalszumutungen, die in diesem Roman wie rasche Alptraumgebilde aufscheinen; wer schnell liest, könnte ihnen beinahe unbeschadet in den Strom dieser ungewöhnlich starken Erzählprosa entkommen: Wie Serafina, die Kellnerin des Gasthauses, mit der Erzählerin im Auto sitzt und ihr erzählt, dass sie einmal ihren Geliebten getroffen und ein ihr anvertrautes Kind allein im Haus gelassen hat. Und wie ihr das lichterloh brennende Mädchen – Alma hat mit dem Kaminfeuer gespielt – entgegenläuft und nicht mehr zu retten ist.
Licht und Dunkelheit spielen wirkliche Rollen in dieser Erzählung, Sonnenstrahlen fallen „still und glanzvoll“ in ein Zimmer, und die Taschenlampe wird wie eine Kerze „angezündet“. Kein Motiv, keine bildliche Preziose wird vergeudet, dieser Text ist eng gewebt, es dreht sich vieles um den Tod und wie man ihn sich vom Leib hält, ohne ihm seine Würde zu nehmen. Einmal finden Mutter und Kind eine vertrocknete Eidechse hinter einem Regal. Allein in der Weise, wie Leutenegger den Kadaver gegen das Licht hält, zeigt sich die empathische Kraft ihres Erzählens: „Die Augen waren noch geöffnet, die wohl im Todeskampf emporgereckten Händchen hatten etwas so Flehendes, daß das Kind in Schluchzen ausbrach.“
Gertrud Leutenegger arrangiert den Nachklang der Stimmen, das Herumschleichen der Schatten und die Nöte der gegenwärtigen Welt zu einer allegorischen Erzählung, die manchmal wie ein poetisches Hilfegesuch an die reale Welt erscheint: „Meine Kraft, mit Wörtern als einer lebendigen Wirklichkeit zu leben, kehrte sich gegen mich“, heißt es einmal. Dies umso mehr als es immerhin – neben Serafina – eine weitere zupackende Figur in dieser Geschichte gibt. Das ist der Wirt, der beobachtet hat, wie die Bewohner der Küstenstadt Pozzallo bei aller Fürsorge für die Flüchtlinge deren an den Strand geschwemmte Kleider nicht anzufassen wagen.
Der Wirt dagegen erinnert sich, dass in seiner Heimatstadt Modica sehr viele Häuser leer stehen, und er kümmert sich darum, dass dort die Migranten unterkommen. Die Erzählerin, die um all dies weiß, bleibt unterdessen in ihrem Zwischenreich aus Erinnerungen und Deckenfresken, die sie manchmal mit der Handytaschenlampe anstrahlt, um aus den dort oben gesichteten Tierfiguren wieder neues Material für ihre nächtlichen Traumfilme zu gewinnen. So verpuppt, so eingeschlossen in die Räume, die wir selbst mit unseren Gedanken und Erinnerungen bespielen müssen, sind wir ja auch seit geraumer Weile.
Gertrud Leutenegger leuchtet mit ihrer so kühnen und schönen Sprache, mit raffinierten Überblendungen und bald filmischen Sequenzen das ganze Angsttheater unserer Gegenwart aus. Wir wissen, dass schlimme Dinge passieren, und wir wissen auch, dass wir sterben müssen, aber wir können uns immer noch etwas vorzaubern mit dem, was wir Erinnerung nennen. „Daß man an so viel Stille erwachen kann, ich wußte es nicht“, sagt die Erzählerin irgendwann so gegen Morgen, da läuten schon die Glocken für den toten Orion.
HILMAR KLUTE
Gertrud Leutenegger: Späte Gäste.
Roman.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2020.
175 Seiten, 22 Euro.
Das Leben ruht in den Erinnerungen: Die Schriftstellerin Gertrud Leutenegger im Jahr 2014.
Foto: Arnde Dedert/picture alliance/dpa
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Eine leuchtende, kühne, schöne Sprache: In Gertrud Leuteneggers Roman „Späte Gäste“ wird kein Motiv vergeudet
Seit Jahrzehnten schreibt Gertrud Leutenegger Romane, die man als den jeweils vorherrschenden Tonarten und Themen gegenläufig bezeichnen kann. Selbst wenn sich Leuteneggers Erzählungen an allgemein fassbare Ereignisse koppeln, wie vor zwei Jahren „Panischer Frühling“ an den Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull, bewegen sie sich immer auch fort von diesen Ereignissen, zurück zu einer Art Prosagesang, wie man ihn heute selten vernimmt.
Leuteneggers jüngster Roman „Späte Gäste“ ist der von einem wilden Erinnerungsstrom unterspülte Monolog einer Frau, die in das Tessiner Dorf zurückkehrt, das sie vor vielen Jahren gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter verlassen hatte. Auch den Mann, Orion, hatte sie in dem Ort zurückgelassen, und nun ist der Mann tot, er liegt aufgebahrt in der abgeschlossenen Dorfkapelle.
Leutenegger-Leser kennen diesen wilden, so mutig am Gelingen interessierten wie elend an die Glücklosigkeit verlorenen Architekten und Türmebauer aus dem Roman „Pomona“ von 2004. Ein vitaler Mann, dessen Kraft und Talente irgendwie ins Leere laufen und der am Ende als beeindruckender Sonderling dem Pfarrer des Ortes mit ständigen Fragen nach der Uhrzeit den letzten Nerv raubt.
Die Frau, sie ist identisch mit der Erzählerin, kommt spätabends in dem Dorf jenseits des Gotthardpasses an. Es bleibt ihr als Übernachtungsmöglichkeit nur das alte Gasthaus am Dorfrand, dessen Türen der verreiste Wirt hat offen stehen lassen und in dessen Inneren sie sich gut genug auskennt, um sich dort zu behelfen und das Interieur, die Deckenverzierungen, das Schattenspiel und die Spiegelungen als Anlässe für hell und schön konturierte Erinnerungsbilder zu nutzen. Wie ein winterliches Schattentheater spielen sich Szenen aus der jüngeren Vergangenheit des Dorfes vor der Erzählerin ab.
Die wilden Faschingsfeiern, von denen sie einige früher schon erlebt hatte, sind irgendwo in dieser Bergnacht zugange. Hin und wieder glaubt sie, ein paar von den müden Feiernden vermummt oder verkleidet in den Sommerstühlen auf der Veranda zu sehen. Gemeinsam mit den über den Gotthardpass gekommenen Migranten, um die sich die Leute im Dorf auf verschwiegene Weise kümmern. Mit Orion hat die Erzählerin ein gemeinsames Kind, das seine ersten Jahre in diesem Dorf verbracht und die ruinösen Ambitionen des Vaters – Orion wollte überall Türme errichten, in New York sogar eine ganze Turmreihe – miterlebt hatte.
Immer wieder lässt Gertrud Leutenegger ihre Figuren nebeneinander und gegeneinander spielen. Hier und da gibt es einen grell aufleuchtenden Schrecken, unfassbare Traurigkeiten und schlimme Schicksalszumutungen, die in diesem Roman wie rasche Alptraumgebilde aufscheinen; wer schnell liest, könnte ihnen beinahe unbeschadet in den Strom dieser ungewöhnlich starken Erzählprosa entkommen: Wie Serafina, die Kellnerin des Gasthauses, mit der Erzählerin im Auto sitzt und ihr erzählt, dass sie einmal ihren Geliebten getroffen und ein ihr anvertrautes Kind allein im Haus gelassen hat. Und wie ihr das lichterloh brennende Mädchen – Alma hat mit dem Kaminfeuer gespielt – entgegenläuft und nicht mehr zu retten ist.
Licht und Dunkelheit spielen wirkliche Rollen in dieser Erzählung, Sonnenstrahlen fallen „still und glanzvoll“ in ein Zimmer, und die Taschenlampe wird wie eine Kerze „angezündet“. Kein Motiv, keine bildliche Preziose wird vergeudet, dieser Text ist eng gewebt, es dreht sich vieles um den Tod und wie man ihn sich vom Leib hält, ohne ihm seine Würde zu nehmen. Einmal finden Mutter und Kind eine vertrocknete Eidechse hinter einem Regal. Allein in der Weise, wie Leutenegger den Kadaver gegen das Licht hält, zeigt sich die empathische Kraft ihres Erzählens: „Die Augen waren noch geöffnet, die wohl im Todeskampf emporgereckten Händchen hatten etwas so Flehendes, daß das Kind in Schluchzen ausbrach.“
Gertrud Leutenegger arrangiert den Nachklang der Stimmen, das Herumschleichen der Schatten und die Nöte der gegenwärtigen Welt zu einer allegorischen Erzählung, die manchmal wie ein poetisches Hilfegesuch an die reale Welt erscheint: „Meine Kraft, mit Wörtern als einer lebendigen Wirklichkeit zu leben, kehrte sich gegen mich“, heißt es einmal. Dies umso mehr als es immerhin – neben Serafina – eine weitere zupackende Figur in dieser Geschichte gibt. Das ist der Wirt, der beobachtet hat, wie die Bewohner der Küstenstadt Pozzallo bei aller Fürsorge für die Flüchtlinge deren an den Strand geschwemmte Kleider nicht anzufassen wagen.
Der Wirt dagegen erinnert sich, dass in seiner Heimatstadt Modica sehr viele Häuser leer stehen, und er kümmert sich darum, dass dort die Migranten unterkommen. Die Erzählerin, die um all dies weiß, bleibt unterdessen in ihrem Zwischenreich aus Erinnerungen und Deckenfresken, die sie manchmal mit der Handytaschenlampe anstrahlt, um aus den dort oben gesichteten Tierfiguren wieder neues Material für ihre nächtlichen Traumfilme zu gewinnen. So verpuppt, so eingeschlossen in die Räume, die wir selbst mit unseren Gedanken und Erinnerungen bespielen müssen, sind wir ja auch seit geraumer Weile.
Gertrud Leutenegger leuchtet mit ihrer so kühnen und schönen Sprache, mit raffinierten Überblendungen und bald filmischen Sequenzen das ganze Angsttheater unserer Gegenwart aus. Wir wissen, dass schlimme Dinge passieren, und wir wissen auch, dass wir sterben müssen, aber wir können uns immer noch etwas vorzaubern mit dem, was wir Erinnerung nennen. „Daß man an so viel Stille erwachen kann, ich wußte es nicht“, sagt die Erzählerin irgendwann so gegen Morgen, da läuten schon die Glocken für den toten Orion.
HILMAR KLUTE
Gertrud Leutenegger: Späte Gäste.
Roman.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2020.
175 Seiten, 22 Euro.
Das Leben ruht in den Erinnerungen: Die Schriftstellerin Gertrud Leutenegger im Jahr 2014.
Foto: Arnde Dedert/picture alliance/dpa
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
»Gertrud Leutenegger leuchtet mit ihrer so kühnen und schönen Sprache, mit raffinierten Überblendungen und bald filmischen Sequenzen das ganze Angsttheater unserer Gegenwart aus.« Hilmar Klute Süddeutsche Zeitung 20210302