Die fundierte Analyse des Verfahrens gegen einen NS-Täter, der zwischen 1987 und 2011 in drei Staaten vor Gericht stand.
Im Auftrag von Harper`s Magazine kam der amerikanische Rechtswissenschaftler Lawrence Douglas im Herbst 2009 nach Deutschland, um über den Prozess gegen John Demjanjuk zu berichten, der wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 27.900 Fällen angeklagt war. Als "Hilfswilliger" der SS hatte der inzwischen 89-jährige gebürtige Ukrainer zwischen 1942 und 1945 in mehreren nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern Dienst getan.
Lawrence Douglas schildert den Prozess gegen Demjanjuk vor dem Landgericht München II als Höhepunkt einer mehr als drei Jahrzehnte dauernden juristischen Auseinandersetzung: Der einstige "Trawniki" Iwan Demjanjuk hatte bereits in Israel und in den Vereinigten Staaten vor Gericht gestanden und war im Mai 2009 nach Deutschland ausgeliefert worden. Mit seiner tiefgreifenden Analyse der drei Prozesse gibt Douglas Antworten auf drängende Fragen, die nationale und internationale Strafgerichtshöfe seit den Nürnberger Prozessen beschäftigen. Lawrence R. Douglas plädiert für eine (inter-)national starke Justiz, die frühere Fehler erkennt und korrigiert.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Im Auftrag von Harper`s Magazine kam der amerikanische Rechtswissenschaftler Lawrence Douglas im Herbst 2009 nach Deutschland, um über den Prozess gegen John Demjanjuk zu berichten, der wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 27.900 Fällen angeklagt war. Als "Hilfswilliger" der SS hatte der inzwischen 89-jährige gebürtige Ukrainer zwischen 1942 und 1945 in mehreren nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern Dienst getan.
Lawrence Douglas schildert den Prozess gegen Demjanjuk vor dem Landgericht München II als Höhepunkt einer mehr als drei Jahrzehnte dauernden juristischen Auseinandersetzung: Der einstige "Trawniki" Iwan Demjanjuk hatte bereits in Israel und in den Vereinigten Staaten vor Gericht gestanden und war im Mai 2009 nach Deutschland ausgeliefert worden. Mit seiner tiefgreifenden Analyse der drei Prozesse gibt Douglas Antworten auf drängende Fragen, die nationale und internationale Strafgerichtshöfe seit den Nürnberger Prozessen beschäftigen. Lawrence R. Douglas plädiert für eine (inter-)national starke Justiz, die frühere Fehler erkennt und korrigiert.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.2020Der richtige falsche Mann
Wie der Fall Demjanjuk in Amerika, Israel und Deutschland teils groteske Justizgeschichte schrieb
Es muss eine sonderbare Atmosphäre gewesen sein auf dem betongrauen Vorplatz des Münchener Landgerichts. Ein unüberschaubares Gedränge von Journalisten, Schaulustigen und Holocaust-Überlebenden aus aller Welt zwischen Ü-Wagen und überforderten bayerischen Polizisten. Mittendrin der amerikanische Rechtsprofessor Lawrence Douglas, der sich das historische Ereignis nicht entgehen lassen wollte. Ein Schild "Demjanjuk-Sammelzone" wies den Punkt aus, zu dem sich die Menge durch einen Pferch hin treiben lassen musste. "Das Einzige, was fehlt, sind die Eisenbahngleise", kommentierte einer die unweigerliche Erinnerung an eine Deportationssammelstelle.
Als hätten die deutschen Behörden beweisen wollen, dass sie nicht mehr so furchterregend effizient sind, begann der Münchner Prozess gegen John Demjanjuk im Chaos. Der Justiz war offenbar sehr daran gelegen, aus dem Fall ein ganz gewöhnliches Verfahren zu machen. Ein Anliegen, das scheitern musste, schließlich hatte Demjanjuk schon Jahrzehnte zuvor in Amerika und Israel Justizgeschichte geschrieben. Lawrence Douglas hat die Rechtswege in diesem Fall nun in einem anschaulichen Buch zusammengetragen und liefert so einen neuen Blick auf die Geschichte der Verfolgung von NS-Verbrechen in Deutschland, den Vereinigten Staaten und Israel.
Als ukrainischer Bauernsohn kam Iwan Demjanjuk 1920 zur Welt. Er überlebte als Kind die Hungersnöte durch Stalins Zwangskollektivierung und wurde im Sommer 1941 von der Roten Armee eingezogen, doch schon im Mai 1942 geriet er in deutsche Gefangenschaft. Nach dem Krieg verdingte er sich in Süddeutschland als Lkw-Fahrer für die Amerikaner, bis er 1952 ein Visum für die Vereinigten Staaten bekam. Dort änderte er seinen Vornahmen in John, erhielt eine Anstellung bei Ford in Cleveland und lebte ein beschauliches Leben als gesetzestreuer Amerikaner. Es hätte ein amerikanischer Traum werden können, wäre nicht Jahrzehnte später, 1975, ein republikanischer Senator an eine Liste von 70 in den Vereinigten Staaten lebenden Ukrainern gekommen, die sich in ihrem früheren Leben an Kriegsverbrechen beteiligt haben sollen. Auf der Liste fand sich der Name Iwan Demjanjuk, einstmals Wachmann im NS-Vernichtungslager Sobibor.
Es war eine Zeit, in der sich die amerikanische Öffentlichkeit langsam bewusst wurde, dass ihr Land im antikommunistischen Eifer der Nachkriegsjahre unzählige Helfer der Nazis willkommen geheißen hatte, die nun amerikanische Bürger waren. Eine strafrechtliche Verfolgung der Täter kam allerdings nicht in Frage, da amerikanische Staatsanwälte nur Taten ahnden konnten, die entweder auf amerikanischem Boden oder an Amerikanern begangen worden waren, was auf die Opfer von Sobibor nicht zutraf - hier waren Hunderttausende europäischer Juden vergast worden. Und ähnlich ihren deutschen Kollegen scheuten sich die Ermittler, neue Wege zu gehen, wie sie es noch in den Nürnberger Prozessen getan hatten. Was blieb, war allein, den Tätern die amerikanische Staatsbürgerschaft abzuerkennen - und das nicht etwa weil sie grausame Verbrechen begangen hatten, sondern weil sie ihre Taten im Einbürgerungsverfahren verheimlicht hatten.
Douglas beschreibt in seinem Buch anschaulich, wie damals die Vorläufer des Office of Special Investigations (OSI) gegründet wurden, in denen ein paar überforderte und im Kompetenzgerangel zerriebene Juristen die historischen Fälle aufarbeiten sollten. In einem vielstufigen Verfahren mit unzähligen Rechtsmitteln bis hinauf zum Obersten Gerichtshof sollten sie den Verdächtigen erst die Staatsbürgerschaft entziehen und dann in einem zweiten Verfahren die Ausweisung erwirken. Es sei bei einem Amerikaner leichter, merkt Douglas an, ihn lebenslang hinter Gitter zu bringen, als ihm die Staatsangehörigkeit abzuerkennen und ihn auszuweisen.
Demjanjuk, der bis zum Ende bestritt, jemals in einem NS-Lager Dienst getan zu haben, war einer der ersten Fälle. Dass er schon damals zum Medienereignis wurde, hatte mit einer Verwechslung zu tun: Mehrere Überlebende der Vernichtungslager waren sicher, in ihm den berüchtigten "Iwan den Schrecklichen" erkannt zu haben, der in Treblinka, nicht aber in Sobibor die Gaskammer bewachte. Als das OSI schließlich 1985 die Ausweisung erwirkt hatte und die Amerikaner vor der schwierigen Frage standen, wer Demjanjuk nun aufnehmen werde, beantragte Israel die Auslieferung.
Israel hatte anders als Amerika und Deutschland ein eigenes Gesetz für NS-Verbrechen erlassen. Nach Adolf Eichmann wurde Demjanjuk der zweite große Fall - und er sollte wie der erste zum nationalen Ereignis werden. Douglas beschreibt eindrücklich, wie das Verhängnis seinen Lauf nahm. Während die Nürnberger Prozesse, die größtenteils auf Aktenbeweise gestützt waren, von Langeweile geprägt waren, setzte Israel auf die eindringlichen Berichte der wenigen Überlebenden von Treblinka. Selbst die Richter erhoben den Prozess zu einem historischen Monument, in dem Zweifel unangebracht waren: Demjanjuk wurde zum Tod verurteilt. Doch während des Berufungsverfahrens fiel der Eiserne Vorhang, und aus sowjetischen Archiven kamen Beweise ans Licht, dass sich die Zeugen geirrt hatten. Demjanjuk war zwar in Sobibor, nie aber in Treblinka. Er verließ Israel 1993 als freier Mann mit einem Businessclass-Ticket, in Amerika ging das Verfahren von vorne los. 16 weitere Jahre sollte es dauern, bis Demjanjuk abermals ausgewiesen wurde und schließlich nach Deutschland kam - und das auch nur, weil ein Mitarbeiter der Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen bei einer Google-Recherche zufällig auf den Fall stieß und in ihm die Möglichkeit sah, endlich mit der deutschen Justizpraxis zu brechen, dass KZ-Wachmänner nur dann verurteilt werden, wenn ihnen eigene Mordtaten nachgewiesen werden.
In dem langwierigen Münchner Verfahren, das Douglas im Stil eines Gerichtsreporters beschreibt, stützten sich die Richter allein auf historische Sachverständige und Dokumente - es war eine neue Phase der Aufarbeitung von NS-Unrecht. So konnte belegt werden, dass Demjanjuk als Wachmann in Sobibor war und dass dort jeder Wachmann an der Aufrechterhaltung des Tötungsbetriebs mitwirkte. Jeder machte sich also schon durch seine Anwesenheit der Beihilfe zum Mord schuldig. Demjanjuk starb, noch bevor der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil bestätigen konnte. In Deutschland hinterließ sein Prozess den Makel, dass ausgerechnet ein zwangsverpflichteter Ukrainer, der bereits sieben Jahre in israelischer Haft gesessen hatte, für Taten büßen sollte, für die die meisten deutschen SS-Männer nie verfolgt worden waren.
Doch der Prozess gegen Demjanjuk war noch in einer weiteren Dimension historisch. Er gab den deutschen Ermittlern den Anstoß, ihre träge Verfolgungspraxis zu überdenken. Dutzende Ermittlungsverfahren gegen greise SS-Veteranen kamen plötzlich in Gang. 2016 konnte der BGH im Fall Oskar Gröning schließlich die Rechtsauffassung des Demjanjuk-Urteils bestätigen und damit feststellen, dass die deutsche Justiz über Jahrzehnte unzählige SS-Männer zu Unrecht straflos ließ.
ALEXANDER HANEKE
Lawrence Douglas: Späte Korrektur. Die Prozesse gegen John Demjanjuk.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 297 S., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie der Fall Demjanjuk in Amerika, Israel und Deutschland teils groteske Justizgeschichte schrieb
Es muss eine sonderbare Atmosphäre gewesen sein auf dem betongrauen Vorplatz des Münchener Landgerichts. Ein unüberschaubares Gedränge von Journalisten, Schaulustigen und Holocaust-Überlebenden aus aller Welt zwischen Ü-Wagen und überforderten bayerischen Polizisten. Mittendrin der amerikanische Rechtsprofessor Lawrence Douglas, der sich das historische Ereignis nicht entgehen lassen wollte. Ein Schild "Demjanjuk-Sammelzone" wies den Punkt aus, zu dem sich die Menge durch einen Pferch hin treiben lassen musste. "Das Einzige, was fehlt, sind die Eisenbahngleise", kommentierte einer die unweigerliche Erinnerung an eine Deportationssammelstelle.
Als hätten die deutschen Behörden beweisen wollen, dass sie nicht mehr so furchterregend effizient sind, begann der Münchner Prozess gegen John Demjanjuk im Chaos. Der Justiz war offenbar sehr daran gelegen, aus dem Fall ein ganz gewöhnliches Verfahren zu machen. Ein Anliegen, das scheitern musste, schließlich hatte Demjanjuk schon Jahrzehnte zuvor in Amerika und Israel Justizgeschichte geschrieben. Lawrence Douglas hat die Rechtswege in diesem Fall nun in einem anschaulichen Buch zusammengetragen und liefert so einen neuen Blick auf die Geschichte der Verfolgung von NS-Verbrechen in Deutschland, den Vereinigten Staaten und Israel.
Als ukrainischer Bauernsohn kam Iwan Demjanjuk 1920 zur Welt. Er überlebte als Kind die Hungersnöte durch Stalins Zwangskollektivierung und wurde im Sommer 1941 von der Roten Armee eingezogen, doch schon im Mai 1942 geriet er in deutsche Gefangenschaft. Nach dem Krieg verdingte er sich in Süddeutschland als Lkw-Fahrer für die Amerikaner, bis er 1952 ein Visum für die Vereinigten Staaten bekam. Dort änderte er seinen Vornahmen in John, erhielt eine Anstellung bei Ford in Cleveland und lebte ein beschauliches Leben als gesetzestreuer Amerikaner. Es hätte ein amerikanischer Traum werden können, wäre nicht Jahrzehnte später, 1975, ein republikanischer Senator an eine Liste von 70 in den Vereinigten Staaten lebenden Ukrainern gekommen, die sich in ihrem früheren Leben an Kriegsverbrechen beteiligt haben sollen. Auf der Liste fand sich der Name Iwan Demjanjuk, einstmals Wachmann im NS-Vernichtungslager Sobibor.
Es war eine Zeit, in der sich die amerikanische Öffentlichkeit langsam bewusst wurde, dass ihr Land im antikommunistischen Eifer der Nachkriegsjahre unzählige Helfer der Nazis willkommen geheißen hatte, die nun amerikanische Bürger waren. Eine strafrechtliche Verfolgung der Täter kam allerdings nicht in Frage, da amerikanische Staatsanwälte nur Taten ahnden konnten, die entweder auf amerikanischem Boden oder an Amerikanern begangen worden waren, was auf die Opfer von Sobibor nicht zutraf - hier waren Hunderttausende europäischer Juden vergast worden. Und ähnlich ihren deutschen Kollegen scheuten sich die Ermittler, neue Wege zu gehen, wie sie es noch in den Nürnberger Prozessen getan hatten. Was blieb, war allein, den Tätern die amerikanische Staatsbürgerschaft abzuerkennen - und das nicht etwa weil sie grausame Verbrechen begangen hatten, sondern weil sie ihre Taten im Einbürgerungsverfahren verheimlicht hatten.
Douglas beschreibt in seinem Buch anschaulich, wie damals die Vorläufer des Office of Special Investigations (OSI) gegründet wurden, in denen ein paar überforderte und im Kompetenzgerangel zerriebene Juristen die historischen Fälle aufarbeiten sollten. In einem vielstufigen Verfahren mit unzähligen Rechtsmitteln bis hinauf zum Obersten Gerichtshof sollten sie den Verdächtigen erst die Staatsbürgerschaft entziehen und dann in einem zweiten Verfahren die Ausweisung erwirken. Es sei bei einem Amerikaner leichter, merkt Douglas an, ihn lebenslang hinter Gitter zu bringen, als ihm die Staatsangehörigkeit abzuerkennen und ihn auszuweisen.
Demjanjuk, der bis zum Ende bestritt, jemals in einem NS-Lager Dienst getan zu haben, war einer der ersten Fälle. Dass er schon damals zum Medienereignis wurde, hatte mit einer Verwechslung zu tun: Mehrere Überlebende der Vernichtungslager waren sicher, in ihm den berüchtigten "Iwan den Schrecklichen" erkannt zu haben, der in Treblinka, nicht aber in Sobibor die Gaskammer bewachte. Als das OSI schließlich 1985 die Ausweisung erwirkt hatte und die Amerikaner vor der schwierigen Frage standen, wer Demjanjuk nun aufnehmen werde, beantragte Israel die Auslieferung.
Israel hatte anders als Amerika und Deutschland ein eigenes Gesetz für NS-Verbrechen erlassen. Nach Adolf Eichmann wurde Demjanjuk der zweite große Fall - und er sollte wie der erste zum nationalen Ereignis werden. Douglas beschreibt eindrücklich, wie das Verhängnis seinen Lauf nahm. Während die Nürnberger Prozesse, die größtenteils auf Aktenbeweise gestützt waren, von Langeweile geprägt waren, setzte Israel auf die eindringlichen Berichte der wenigen Überlebenden von Treblinka. Selbst die Richter erhoben den Prozess zu einem historischen Monument, in dem Zweifel unangebracht waren: Demjanjuk wurde zum Tod verurteilt. Doch während des Berufungsverfahrens fiel der Eiserne Vorhang, und aus sowjetischen Archiven kamen Beweise ans Licht, dass sich die Zeugen geirrt hatten. Demjanjuk war zwar in Sobibor, nie aber in Treblinka. Er verließ Israel 1993 als freier Mann mit einem Businessclass-Ticket, in Amerika ging das Verfahren von vorne los. 16 weitere Jahre sollte es dauern, bis Demjanjuk abermals ausgewiesen wurde und schließlich nach Deutschland kam - und das auch nur, weil ein Mitarbeiter der Zentralen Stelle zur Verfolgung von NS-Verbrechen bei einer Google-Recherche zufällig auf den Fall stieß und in ihm die Möglichkeit sah, endlich mit der deutschen Justizpraxis zu brechen, dass KZ-Wachmänner nur dann verurteilt werden, wenn ihnen eigene Mordtaten nachgewiesen werden.
In dem langwierigen Münchner Verfahren, das Douglas im Stil eines Gerichtsreporters beschreibt, stützten sich die Richter allein auf historische Sachverständige und Dokumente - es war eine neue Phase der Aufarbeitung von NS-Unrecht. So konnte belegt werden, dass Demjanjuk als Wachmann in Sobibor war und dass dort jeder Wachmann an der Aufrechterhaltung des Tötungsbetriebs mitwirkte. Jeder machte sich also schon durch seine Anwesenheit der Beihilfe zum Mord schuldig. Demjanjuk starb, noch bevor der Bundesgerichtshof (BGH) das Urteil bestätigen konnte. In Deutschland hinterließ sein Prozess den Makel, dass ausgerechnet ein zwangsverpflichteter Ukrainer, der bereits sieben Jahre in israelischer Haft gesessen hatte, für Taten büßen sollte, für die die meisten deutschen SS-Männer nie verfolgt worden waren.
Doch der Prozess gegen Demjanjuk war noch in einer weiteren Dimension historisch. Er gab den deutschen Ermittlern den Anstoß, ihre träge Verfolgungspraxis zu überdenken. Dutzende Ermittlungsverfahren gegen greise SS-Veteranen kamen plötzlich in Gang. 2016 konnte der BGH im Fall Oskar Gröning schließlich die Rechtsauffassung des Demjanjuk-Urteils bestätigen und damit feststellen, dass die deutsche Justiz über Jahrzehnte unzählige SS-Männer zu Unrecht straflos ließ.
ALEXANDER HANEKE
Lawrence Douglas: Späte Korrektur. Die Prozesse gegen John Demjanjuk.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 297 S., 38,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2020Dreimal
Demjanjuk
Lawrence Douglas analysiert, wie
Juristen mit der NS-Zeit umgehen
Jeder, der schon mal im Münchner Justizzentrum an der Nymphenburger Straße war, wird sich über diese treffende Beschreibung des größten Verhandlungsraums dort freuen. Von einem „fensterlosen, achteckigen Saal, der einer Kreuzung aus schäbigem Seminarraum, schmuckloser Lutheranerkapelle und Luftschutzbunker gleicht“, ist da die Rede. Und jeder, der vor dem Landgericht München II dem Demjanjuk-Prozess 2009 bis 2011 beigewohnt hat, wird schmunzeln, wenn der zuständige Arzt als eine Art „dandyhafter Kurpfuscher aus einem Fassbinder-Film“ beschrieben wird. Eine wichtige Voraussetzung ist also geschaffen für eine trockene und sehr komplexe Materie: Der US-Rechtswissenschaftler Lawrence Douglas kann sehr anschaulich formulieren, der Leser profitiert nicht nur bei Personen- und Ortsbeschreibungen davon.
Der Fall des einstigen Rotarmisten Iwan Demjanjuk, der unter anderem während der NS-Zeit als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen Dienst tat und nach dem Krieg in die USA übersiedelte, beschäftigte die Justiz in drei Ländern über mehrere Jahrzehnte. Douglas, der als Jura-Professor am Amherst College in Massachusetts lehrt, folgt der „juristischen Odyssee“ des gebürtigen Ukrainers von dem Tag an akribisch, an dem ihn ein Holocaust-Überlebender als Wachmann „Iwan, der Schreckliche“ aus dem Vernichtungslager Treblinka zu erkennen glaubte. Die juristische Maschinerie der USA kam in dem Fall recht stockend in Gang, acht Jahre dauerte es, bis John (wie er sich nun nannte) Demjanjuk in Israel vor Gericht gestellt werden konnte. Dort wurde er erst zum Tode verurteilt und später nach höchstrichterlichem Urteil freigesprochen – die Überlebenden hatten ihn schlicht verwechselt, Demjanjuk war nie in Treblinka gewesen.
Im Vergleich, wie unterschiedlich die USA, Israel und später Deutschland mit dem Fall Demjanjuk umgingen, was die jeweiligen Rechtssysteme zuließen und mit welcher Intention jeweils gehandelt wurde – darin liegt die Stärke dieses Buches, das ja immerhin neun Jahre nach dem Urteil des Landgerichts München erschienen ist. 2011 war der Angeklagte wegen seiner Tätigkeit in Sobibor zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden. Dass das Urteil nie rechtskräftig wurde, weil Demjanjuk kurz darauf starb, war dabei nicht so relevant. Bedeutender war vielmehr, dass in Deutschland nach mehr als vier Jahrzehnten endlich wieder vom Grundsatz, es müsse für jede Tätigkeit in einem Vernichtungslager ein individueller Tatnachweis geführt werden, abgewichen wurde. Douglas spricht von einer Kurskorrektur, nicht von einem Paradigmenwechsel. Denn vor dem Frankfurter Auschwitzprozess 1963/65 waren solche Urteile gegen Fußsoldaten der Vernichtung üblich. Wie die Justiz von diesem Pfad abkam und – spät – wieder zurückfand, ist ein spannendes Lehrstück.
ROBERT PROBST
Lawrence Douglas:
Späte Korrektur.
Die Prozesse gegen John Demjanjuk. Aus dem
Englischen von Felix Kurz. Wallstein-Verlag,
Göttingen 2020.
297 Seiten, 38 Euro.
E-Book: 29,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Demjanjuk
Lawrence Douglas analysiert, wie
Juristen mit der NS-Zeit umgehen
Jeder, der schon mal im Münchner Justizzentrum an der Nymphenburger Straße war, wird sich über diese treffende Beschreibung des größten Verhandlungsraums dort freuen. Von einem „fensterlosen, achteckigen Saal, der einer Kreuzung aus schäbigem Seminarraum, schmuckloser Lutheranerkapelle und Luftschutzbunker gleicht“, ist da die Rede. Und jeder, der vor dem Landgericht München II dem Demjanjuk-Prozess 2009 bis 2011 beigewohnt hat, wird schmunzeln, wenn der zuständige Arzt als eine Art „dandyhafter Kurpfuscher aus einem Fassbinder-Film“ beschrieben wird. Eine wichtige Voraussetzung ist also geschaffen für eine trockene und sehr komplexe Materie: Der US-Rechtswissenschaftler Lawrence Douglas kann sehr anschaulich formulieren, der Leser profitiert nicht nur bei Personen- und Ortsbeschreibungen davon.
Der Fall des einstigen Rotarmisten Iwan Demjanjuk, der unter anderem während der NS-Zeit als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor im besetzten Polen Dienst tat und nach dem Krieg in die USA übersiedelte, beschäftigte die Justiz in drei Ländern über mehrere Jahrzehnte. Douglas, der als Jura-Professor am Amherst College in Massachusetts lehrt, folgt der „juristischen Odyssee“ des gebürtigen Ukrainers von dem Tag an akribisch, an dem ihn ein Holocaust-Überlebender als Wachmann „Iwan, der Schreckliche“ aus dem Vernichtungslager Treblinka zu erkennen glaubte. Die juristische Maschinerie der USA kam in dem Fall recht stockend in Gang, acht Jahre dauerte es, bis John (wie er sich nun nannte) Demjanjuk in Israel vor Gericht gestellt werden konnte. Dort wurde er erst zum Tode verurteilt und später nach höchstrichterlichem Urteil freigesprochen – die Überlebenden hatten ihn schlicht verwechselt, Demjanjuk war nie in Treblinka gewesen.
Im Vergleich, wie unterschiedlich die USA, Israel und später Deutschland mit dem Fall Demjanjuk umgingen, was die jeweiligen Rechtssysteme zuließen und mit welcher Intention jeweils gehandelt wurde – darin liegt die Stärke dieses Buches, das ja immerhin neun Jahre nach dem Urteil des Landgerichts München erschienen ist. 2011 war der Angeklagte wegen seiner Tätigkeit in Sobibor zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden. Dass das Urteil nie rechtskräftig wurde, weil Demjanjuk kurz darauf starb, war dabei nicht so relevant. Bedeutender war vielmehr, dass in Deutschland nach mehr als vier Jahrzehnten endlich wieder vom Grundsatz, es müsse für jede Tätigkeit in einem Vernichtungslager ein individueller Tatnachweis geführt werden, abgewichen wurde. Douglas spricht von einer Kurskorrektur, nicht von einem Paradigmenwechsel. Denn vor dem Frankfurter Auschwitzprozess 1963/65 waren solche Urteile gegen Fußsoldaten der Vernichtung üblich. Wie die Justiz von diesem Pfad abkam und – spät – wieder zurückfand, ist ein spannendes Lehrstück.
ROBERT PROBST
Lawrence Douglas:
Späte Korrektur.
Die Prozesse gegen John Demjanjuk. Aus dem
Englischen von Felix Kurz. Wallstein-Verlag,
Göttingen 2020.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Robert Probst findet es aufregend, mit dem Juristen Lawrence Douglas den Fall Demjanjuk noch einmal aufzurollen und den je unterschiedlichen Umgang der Justiz mit ihm in den USA, in Israel und in Deutschland zu vergleichen. Hier ist das Buch für Probst am stärksten. Bemerkenswert findet er indes auch Douglas' anschauliche, akribische Erzählweise, die dem Leser Prozessorte und beteiligte Personen lebendig vor Augen stellt, wie er findet. Das Thema "individueller Tatnachweis" macht der Autor laut Probst zu einem "spannenden Lehrstück".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Lawrence Douglas (...) liefert einen neuen Blick auf die Geschichte der Verfolgung von NS-Verbrechen in Deutschland, den Vereinigten Staaten und Israel.« (Alexander Haneke, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.06.2020) »Der US-amerikanische Rechtswissenschaftler hat ein spannendes Lehrstück vorgelegt.« (Robert Probst, Süddeutsche Zeitung, 31.08.2020) »Douglas schreibt flott, manchmal launisch und oft zugespitzt.« (Christoph Brüll, Neue Politische Literatur, 28.7.2023)