Mario Fortunato unternimmt einen Streifzug in die jüngste Vergangenheit, als die Welt sich veränderte und mit ihr ein literarisches Universum unterging. Er schildert Persönlichkeiten, Szenen, reale Orte und Orte der Gefühle: Rom, Berlin, New York, Tanger, London. Er erzählt wie in einem Roman von Beziehungen, Leidenschaften, Streitigkeiten, Trennungen, neuen Begegnungen mit: Jorge Luis Borges, der Menschen an ihren Händen erkennt. Matt Dillon, der aus Neugier anruft, während Franco Fortini um sieben Uhr morgens telefonisch in den Schlaf platzt. Außerdem Giulio Einaudi, der mit Nanni Moretti zusammen Hühnchen isst, Salman Rushdie, der sich in seiner Wohnung verkrochen hat, Natalia Ginzburg, die Angst hat, vor Publikum zu sprechen, während Doris Lessing den Autobus nach Monreale nimmt. Oder David Grossman, umgeben vom Spielzeug seiner Kinder, Joseph Brodsky, der in seiner Nobelpreisrede die Schwulen begrüßt, und Alberto Moravia, der in einem Augenblick der Zerstreutheit stirbt. Paul Bowles, der an Einsamkeit leidet, und Colin Firth, der öffentlich an Berlusconi appelliert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2011Verhaltenslehre der Wärme
Paul Austers Höflichkeit: Mario Fortunato schwärmt von Begegnungen mit Starautoren
Dass ein großer Künstler zugleich ein besonderer Mensch sein müsse, von dieser Illusion ist befreit, wer nur einen flüchtigen Blick in die im letzten Jahr erschienenen Tagebücher von Fritz J. Raddatz wirft: Der bundesdeutsche Literaturbetrieb der achtziger und neunziger Jahre erscheint dort als eine durch und durch provinzielle Welt, deren wichtigste Akteure - Grass, Kempowski, Enzensberger, Hochhuth und andere - ihre innere Leere durch eine blinde Gier nach Aufmerksamkeit und Anerkennung kompensieren.
Das Grundprinzip dieser geschlossenen Gesellschaft ist die dreiste Herabsetzung, die kein anderes Ziel verfolgt als die Erhöhung der eigenen Person. Raddatz selbst liefert hierfür das beste Beispiel: Die vermuffte Engstirnigkeit der anderen dient ihm als Steilvorlage für die grelle Selbstinszenierung als weltgewandter Dandy; er jedenfalls sei stolz darauf, "nicht einer dieser Stubenhocker-Literaten zu sein (und dennoch nicht dümmer als die), sondern Sport und Bordeaux und im offenen Porsche durch die Pyrenäen und Knaben und Frauen ...". Die scheinbare Ausweglosigkeit in diesem dumpfen Kampf um Distinktion macht die Lektüre dieses Tagebuchs zu einer beklemmenden Erfahrung.
Die versammelten Essays des italienischen Schriftstellers und Journalisten Mario Fortunato halten dagegen fast schon trotzig an dem Glauben fest, Schriftsteller, Intellektuelle und Künstler seien besondere Persönlichkeiten jenseits unserer Alltagswelt. Es sind "Begegnungen", die Fortunato schildert (und so lautet denn auch der Untertitel des Bandes), Begegnungen mit männlichen und weiblichen Autoren der jüngeren Weltliteratur, darunter Jorge Luis Borges, Salman Rushdie, Doris Lessing, Amos Oz, Natalia Ginzburg, Paul Auster und der titelgebende Lawrence Ferlinghetti; daneben finden sich auch einige Vertreter der italienischen und der deutschen Szene wie Alberto Moravia, Pier Vittorio Tondelli sowie Heiner Müller, Stefan Heym und Klaus Wagenbach, vereinzelt aber auch nordamerikanische Stars wie Matt Dillon oder Lou Reed.
Um zu verstehen, was dieses zunächst wirr erscheinende Spektrum an Persönlichkeiten zusammenhält, muss man dem Begriff der "Begegnung" bei Fortunato nachgehen. Bereits als Leiter des italienischen Kulturinstituts in London, der er von 2000 bis 2004 war, sei es ihm darum gegangen, "Beziehungsexperimente" zu veranstalten, also jeweils unterschiedliche Persönlichkeiten aus Italien und England zusammenzubringen, um herauszufinden, wie sie "vom menschlichen Gesichtspunkt aus zusammenpassen würden". Nach diesem Prinzip funktionieren auch die kurzen "Begegnungen", die Fortunato in seinem Buch schildert, verbunden allerdings mit der Vorstellung, gerade Schriftsteller seien Garanten für eine gänzlich außergewöhnliche, ja lebensverändernde Begegnung - manchmal, wenn auch ganz selten in Form einer vollkommenen, die Literatur und den Menschen einbeziehenden Übereinstimmung: "Der Autor, den du in literarischer Hinsicht bewunderst, drückt Ideen aus und steht für Positionen ein, die du auf die natürlichste Weise teilst, weil es sich um deine eigenen Überzeugungen handelt. Darüber hinaus besitzt er eine Anmut, an der es dir mangelt, weshalb du ihn um sie beneidest, und es scheint, als werfe diese Anmut auf alles ein Licht aus Wärme und Intelligenz, bei dem du dich besser fühlst."
Ebendieser Begriff der "Wärme" ist für Fortunato entscheidend, er findet sie etwa bei der ihm fast mütterlich zugewandten Natalia Ginzburg; ihre "Liebe" bildet den Gegensatz zur "frostigen Höflichkeit" eines Paul Auster, der mit seiner Distanz die überspannten Erwartungen an ein intensives Beziehungserlebnis notwendigerweise enttäuscht. Zuweilen wirkt sich die "Wärme" nicht nur auf das zwischenmenschliche Miteinander aus, sondern verändert die Weltwahrnehmung insgesamt: Nach dem titelgebenden Spaziergang mit Ferlinghetti erscheint das auf den ersten Blick so kühl wirkende San Francisco "in sanfterem Licht", der Ort wirkt nun "feiner und menschlicher". Die Einordnung der Menschen, ja der Welt insgesamt nach ihrem jeweiligen Wärme- oder Kältegrad, die den deutschen Leser zuweilen an den Befindlichkeits- und Betroffenheitsgestus der siebziger und achtziger Jahre erinnert, schlägt sich in der Qualität der Essays unmittelbar nieder: Dort, wo es erkennbar ,gefunkt' hat, scheint es, als wolle sich Fortunato für das "Geschenk" der jeweiligen Begegnung durch einfühlsame Schilderungen bedanken (wie etwa im Essay über Borges); andere Texte verharren in der Ernüchterung, die manchmal in schroffe Ablehnung umschlägt (wie im Fall der "unsympathischen" Agota Kristof); wieder andere Texte ergehen sich im Fankult ("Ein Foto mit Matt Dillon").
Was die Essays dagegen vereint, ist ein zutiefst melancholisches Moment - die Überzeugung nämlich, dass mit der Jahrtausendwende jene "kulturelle Welt", die uns dieser Band vorstellt, untergegangen sei, verdrängt von dem, was wir "die Gegenwart" nennen, das "unbekannte Aquarium des neuen Jahrtausends", in dem wir als "schwebende, unsichere, haltlose Gestalten" treiben. Dieses grundlegende Unbehagen am Hier und Jetzt bleibt unscharf, veranschaulicht es sich doch nur an einzelnen Erfahrungen: Die "literarische Welt" der achtziger Jahre, die sich für den Neuling bereitwillig geöffnet habe, gehöre ebenso "anderen Zeiten" an wie das "moderne, fröhliche, dem Rotwein zugeneigte" Miteinander, das er beim gemeinsamen Mittagessen im alten Wagenbach Verlag erlebt habe. Die subjektive Temperamentenlehre des Autors wird in diesen Passagen schließlich zu einem fast geschichtsphilosophischen Prinzip: Die ,wärmende' Vergangenheit steht der ,kalten' Gegenwart gegenüber.
Gewiss: In der Erhebung seiner Befindlichkeit zur Menschendeutung und Welterklärung täte Fortunato selbst ein wenig Abkühlung ganz gut. Dass die ernüchterte Frustration eines Fritz J. Raddatz aber offenkundig nur eine und glücklicherweise keineswegs allgemeingültige Perspektive auf den sogenannten Literaturbetrieb bietet, die ihr zugeschrieben wurde, für diese Einsicht können wir dem Autor dankbar sein.
KAI SINA
Mario Fortunato: "Spaziergang mit Ferlinghetti". Begegnungen.
Aus dem Italienischen von Jan Koneffke. Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main 2011, 352 S., br., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Paul Austers Höflichkeit: Mario Fortunato schwärmt von Begegnungen mit Starautoren
Dass ein großer Künstler zugleich ein besonderer Mensch sein müsse, von dieser Illusion ist befreit, wer nur einen flüchtigen Blick in die im letzten Jahr erschienenen Tagebücher von Fritz J. Raddatz wirft: Der bundesdeutsche Literaturbetrieb der achtziger und neunziger Jahre erscheint dort als eine durch und durch provinzielle Welt, deren wichtigste Akteure - Grass, Kempowski, Enzensberger, Hochhuth und andere - ihre innere Leere durch eine blinde Gier nach Aufmerksamkeit und Anerkennung kompensieren.
Das Grundprinzip dieser geschlossenen Gesellschaft ist die dreiste Herabsetzung, die kein anderes Ziel verfolgt als die Erhöhung der eigenen Person. Raddatz selbst liefert hierfür das beste Beispiel: Die vermuffte Engstirnigkeit der anderen dient ihm als Steilvorlage für die grelle Selbstinszenierung als weltgewandter Dandy; er jedenfalls sei stolz darauf, "nicht einer dieser Stubenhocker-Literaten zu sein (und dennoch nicht dümmer als die), sondern Sport und Bordeaux und im offenen Porsche durch die Pyrenäen und Knaben und Frauen ...". Die scheinbare Ausweglosigkeit in diesem dumpfen Kampf um Distinktion macht die Lektüre dieses Tagebuchs zu einer beklemmenden Erfahrung.
Die versammelten Essays des italienischen Schriftstellers und Journalisten Mario Fortunato halten dagegen fast schon trotzig an dem Glauben fest, Schriftsteller, Intellektuelle und Künstler seien besondere Persönlichkeiten jenseits unserer Alltagswelt. Es sind "Begegnungen", die Fortunato schildert (und so lautet denn auch der Untertitel des Bandes), Begegnungen mit männlichen und weiblichen Autoren der jüngeren Weltliteratur, darunter Jorge Luis Borges, Salman Rushdie, Doris Lessing, Amos Oz, Natalia Ginzburg, Paul Auster und der titelgebende Lawrence Ferlinghetti; daneben finden sich auch einige Vertreter der italienischen und der deutschen Szene wie Alberto Moravia, Pier Vittorio Tondelli sowie Heiner Müller, Stefan Heym und Klaus Wagenbach, vereinzelt aber auch nordamerikanische Stars wie Matt Dillon oder Lou Reed.
Um zu verstehen, was dieses zunächst wirr erscheinende Spektrum an Persönlichkeiten zusammenhält, muss man dem Begriff der "Begegnung" bei Fortunato nachgehen. Bereits als Leiter des italienischen Kulturinstituts in London, der er von 2000 bis 2004 war, sei es ihm darum gegangen, "Beziehungsexperimente" zu veranstalten, also jeweils unterschiedliche Persönlichkeiten aus Italien und England zusammenzubringen, um herauszufinden, wie sie "vom menschlichen Gesichtspunkt aus zusammenpassen würden". Nach diesem Prinzip funktionieren auch die kurzen "Begegnungen", die Fortunato in seinem Buch schildert, verbunden allerdings mit der Vorstellung, gerade Schriftsteller seien Garanten für eine gänzlich außergewöhnliche, ja lebensverändernde Begegnung - manchmal, wenn auch ganz selten in Form einer vollkommenen, die Literatur und den Menschen einbeziehenden Übereinstimmung: "Der Autor, den du in literarischer Hinsicht bewunderst, drückt Ideen aus und steht für Positionen ein, die du auf die natürlichste Weise teilst, weil es sich um deine eigenen Überzeugungen handelt. Darüber hinaus besitzt er eine Anmut, an der es dir mangelt, weshalb du ihn um sie beneidest, und es scheint, als werfe diese Anmut auf alles ein Licht aus Wärme und Intelligenz, bei dem du dich besser fühlst."
Ebendieser Begriff der "Wärme" ist für Fortunato entscheidend, er findet sie etwa bei der ihm fast mütterlich zugewandten Natalia Ginzburg; ihre "Liebe" bildet den Gegensatz zur "frostigen Höflichkeit" eines Paul Auster, der mit seiner Distanz die überspannten Erwartungen an ein intensives Beziehungserlebnis notwendigerweise enttäuscht. Zuweilen wirkt sich die "Wärme" nicht nur auf das zwischenmenschliche Miteinander aus, sondern verändert die Weltwahrnehmung insgesamt: Nach dem titelgebenden Spaziergang mit Ferlinghetti erscheint das auf den ersten Blick so kühl wirkende San Francisco "in sanfterem Licht", der Ort wirkt nun "feiner und menschlicher". Die Einordnung der Menschen, ja der Welt insgesamt nach ihrem jeweiligen Wärme- oder Kältegrad, die den deutschen Leser zuweilen an den Befindlichkeits- und Betroffenheitsgestus der siebziger und achtziger Jahre erinnert, schlägt sich in der Qualität der Essays unmittelbar nieder: Dort, wo es erkennbar ,gefunkt' hat, scheint es, als wolle sich Fortunato für das "Geschenk" der jeweiligen Begegnung durch einfühlsame Schilderungen bedanken (wie etwa im Essay über Borges); andere Texte verharren in der Ernüchterung, die manchmal in schroffe Ablehnung umschlägt (wie im Fall der "unsympathischen" Agota Kristof); wieder andere Texte ergehen sich im Fankult ("Ein Foto mit Matt Dillon").
Was die Essays dagegen vereint, ist ein zutiefst melancholisches Moment - die Überzeugung nämlich, dass mit der Jahrtausendwende jene "kulturelle Welt", die uns dieser Band vorstellt, untergegangen sei, verdrängt von dem, was wir "die Gegenwart" nennen, das "unbekannte Aquarium des neuen Jahrtausends", in dem wir als "schwebende, unsichere, haltlose Gestalten" treiben. Dieses grundlegende Unbehagen am Hier und Jetzt bleibt unscharf, veranschaulicht es sich doch nur an einzelnen Erfahrungen: Die "literarische Welt" der achtziger Jahre, die sich für den Neuling bereitwillig geöffnet habe, gehöre ebenso "anderen Zeiten" an wie das "moderne, fröhliche, dem Rotwein zugeneigte" Miteinander, das er beim gemeinsamen Mittagessen im alten Wagenbach Verlag erlebt habe. Die subjektive Temperamentenlehre des Autors wird in diesen Passagen schließlich zu einem fast geschichtsphilosophischen Prinzip: Die ,wärmende' Vergangenheit steht der ,kalten' Gegenwart gegenüber.
Gewiss: In der Erhebung seiner Befindlichkeit zur Menschendeutung und Welterklärung täte Fortunato selbst ein wenig Abkühlung ganz gut. Dass die ernüchterte Frustration eines Fritz J. Raddatz aber offenkundig nur eine und glücklicherweise keineswegs allgemeingültige Perspektive auf den sogenannten Literaturbetrieb bietet, die ihr zugeschrieben wurde, für diese Einsicht können wir dem Autor dankbar sein.
KAI SINA
Mario Fortunato: "Spaziergang mit Ferlinghetti". Begegnungen.
Aus dem Italienischen von Jan Koneffke. Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main 2011, 352 S., br., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Kai Sina liest diese "Begegnungen" als Gegenbuch zu Fritz J. Raddatz' kürzlich in Form alter Tagebücher erschienenen Porträts von Schriftstellern, die in den achtziger Jahren groß waren: Offenbar formen sich die Autoren die Gegenstände ihrer Betrachtung nach ihrem Bilde. Wer bei Fritz J. Raddatz als eitler Geck erscheint, der mag in Fortunatos sentimentaler gestimmten Porträts als Ausbund der Wärme und Menschlichkeit rüberkommen. Auch dieser Blick überzeugt nicht ganz: Sina fühlt sich zuweilen an den Betroffenheitskitsch der achtziger Jahre erinnert. Mit Interesse hat er Fortunatos Essay aber immer dann gelesen, wenn es bei dessen "Begegnungen" tatsächlich gefunkt hat. Dann scheint es, als wolle sich Fortunato durch einfühlsame Prosa bedanken, sagt er. Die Nostalgie für die glorreichen Achtziger aber kann Sina gar nicht nachvollziehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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