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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.11.2001

Verräterin
Ein junges Mädchen erlebt
die Highschool als Horror
Die große PR-Maschine der Buchindustrie stellt gewöhnlich Bücher für Erwachsene in den Vordergrund; die Potter-Mania war eine der wenigen Erscheinungen der vergangenen Jahre, in denen ein Jugendbuch allgemeine Aufmerksamkeit errang. Weitgehend unbemerkt vom großen Markt der schnellen Bestseller dringen dabei alljährlich viele, viele Kinder- und Jugendbücher von hohem Niveau auf den deutschen Markt. Sprich von der Amerikanerin Laurie Halse Anderson ist selbst unter der Vielzahl der guten Jugendbücher ein außergewöhnliches Werk.
Die Sprachwissenschaftlerin und Journalistin Anderson hatte eines Tages genug von einem Alltag, der ihr keine Zeit zum Schreiben ließ. Sie entschloss sich, halbtags als Buchhändlerin zu arbeiten und machte sich an ihren ersten Roman. Sprich will ein Jugendbuch sein und ist es doch nicht nur. Denn die Geschichte, die Melinda, Freshman an der Highschool hier erzählt, ist in ihrer Mehrgleisigkeit und in ihrem Anspruch, in ihrer Sprache und mit ihrem Humor eine Klasse für sich, die auch neugierige Erwachsene durchaus faszinieren dürfte.
Bis zu den Sommerferien war Melinda eine ganz normale Schülerin: Sie hatte Freundinnen, sammelte Plüschkaninchen und hatte Spaß in der Schule. In der letzten Nacht vor den Ferien aber geschieht etwas, was sie zu einer stummen, verstörten, unglücklichen Ausgestoßenen macht: Sie wird von einem älteren Schüler auf einer Party vergewaltigt, ruft die Polizei, kann dann aber vor lauter Scham nicht erklären, was geschah. Fortan gilt sie als Verräterin, als Spielverderberin, denn auf der Party war Alkohol im Spiel, der in diesem Alter verboten ist. Sie aber hat die Polizei gerufen, die Party gesprengt, Schulverweise herbeigeführt und viel Ärger mit vielen Eltern provoziert. Von diesem Moment an ist der Kontakt mit Melinda tabu.
Im Grunde ist es nicht entscheidend, ob Melinda vergewaltigt wurde; auch ein anderes Schockerlebnis hätte sie in ihre Außenseiterrolle drängen können. Sprich ist denn auch, aber nicht nur ein Buch darüber, wie ein Mädchen mit den Folgen einer Vergewaltigung umgeht; diese ist vielmehr eine Metapher. Sprich ist die Geschichte davon, dass keiner nachfragt. Dass die besten Freundinnen sich plötzlich abwenden. Dass die Eltern ratlos sind, weil ihr Kind plötzlich nicht mehr mit ihnen redet. Dass in der Schule niemand mehr neben der Außenseiterin sitzen mag. Dass die Lehrer einen solchen Schüler auf dem Kieker haben, weil er oder sie anders ist als die anderen. Dass plötzlich alles, was einst leicht war, unerträglich schwer werden kann, wenn irgendetwas im Leben passiert, das einen aus der Bahn wirft.
Der Roman ist aber auch eine schonungslose, streckenweise fast satirische Schilderung des amerikanischen Schulalltags: Da sind die unterschiedlichen Cliquen, die mit absurden Initiationsriten ihr elitäres Selbstverständnis pflegen. Da sind die Sportler und die Cheerleader, schön und begehrenswert auch ohne Charme oder Charakter. Da sind die Rituale der amerikanischen Adoleszenz wie Abschlussbälle und Baseball-Spiele, Halloween und Valentinsday, Jahrbücher und Resumees.
Melinda gehört nirgendwo dazu, und eben deshalb schildert sie mit spitzer Zunge und bösem Blick die Albernheiten der Selbstdarsteller, die in der schulischen Hierarchie nach oben wollen.
Ihre Noten sind schlecht, weil sie sich nie am Unterricht beteiligt und lieber die Schule schwänzt, als sich feindseligen Blicken auszusetzen. Sie richtet sich ein Kabuff in einem leeren Hausmeister-Zimmer ein, um nicht mit ihren blutig-zerbissenen Lippen und ihrer schlampigen Kleidung Spießrutenlaufen zu müssen vor all den schicken, ehrgeizigen, frisch gewaschenen Ex-Freundinnen, die auf den Gängen der Schule promenieren.
Ein paar Lehrer suchen den Kontakt; einzig der Kunstlehrer, selbst ein Außenseiter, findet ihn. Sein Projekt: Melinda muss sich ein Schuljahr lang mit dem Thema „Baum” beschäftigen, egal wie. Monate lang zeichnet sie tote Bäume, schneidet leblose Bäume in Linoleum, baut eine Plastik aus abgenagten Knochen. Erst am Ende des Schuljahres bekommt ihre innere Mauer Risse, der Baum bekommt Blätter, der Vergewaltiger wird endlich überführt.
Das Tröstliche an der Sache: Melinda hätte den Weg zurück zu jenen Menschen und Beschäftigungen, die ihr lieb sind, auch geschafft, wenn der Täter weiter unerkannt geblieben wäre. Mit Geduld und ein wenig Hilfe. Aber vor allem allein. Weil sie sich auf sich selbst verlässt. Auch das kann manchmal helfen. (ab 14 Jahre und Erwachsene)
CATHRIN KAHLWEIT
LAURIE HALSE ANDERSON: Sprich. Aus dem Amerikanischen von Birgitt Kollmann. Beltz & Gelberg 2001. 270 Seiten, 27,99 Mark.
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