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Die meisterhafte Deutung der großen Epoche der niederländischen Malerei
Das Gemälde als eigenständige Gattung wurde im frühen 15. Jahr-hundert gleichzeitig in den Niederlanden und in Italien erfunden. Im Süden war es mathematisch konstruiert nach den Regeln der Zentral-perspektive, im Norden gab es die unmittelbare Wahrnehmung wieder. Dort, in Italien, sollte es eine Fabel erzählen, hier, in den Niederlanden, sollte es der Beschreibung der Dinge dienen. Es wurde erfunden als ein Spiegel der Welt, von Malern wie Jan van Eyck, Robert Campin und Rogier van der Weyden. Auf einer kleinen…mehr

Produktbeschreibung
Die meisterhafte Deutung der großen Epoche der niederländischen Malerei

Das Gemälde als eigenständige Gattung wurde im frühen 15. Jahr-hundert gleichzeitig in den Niederlanden und in Italien erfunden. Im Süden war es mathematisch konstruiert nach den Regeln der Zentral-perspektive, im Norden gab es die unmittelbare Wahrnehmung wieder. Dort, in Italien, sollte es eine Fabel erzählen, hier, in den Niederlanden, sollte es der Beschreibung der Dinge dienen. Es wurde erfunden als ein Spiegel der Welt, von Malern wie Jan van Eyck, Robert Campin und Rogier van der Weyden. Auf einer kleinen symbolischen Fläche wurde die Welt als ganze präsent, und diese Bestimmung des Gemäldes prägte seine gesamte weitere Ge-schichte. Hans Belting öffnet einem die Augen für die fundamentale Revolution, die das neue Gemälde damals bedeutete, und verfolgt dessen Entstehung an den Staffeleibildern und den großen Altären der Zeit. Sein viel gerühmter Text wird hier erstmals in einer preisgünstigen Ausgabe zugänglich gemacht.
Autorenporträt
Hans Belting leitete von 2004 bis 2007 das Internationale Forschungszentrum für Kulturwissenschaften in Wien. Zuvor lehrte er an den Universitäten in Heidelberg und München sowie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, die er 1992 mitbegründete. 2003 hatte er den Europäischen Lehrstuhl am Collège de France in Paris inne. Er ist Mitglied des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste. Seine Bücher wurden in zehn Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2010

In diesen Bildern spiegelt sich mehr als eine Welt

Eine Verbeugung vor den großen Meistern und selbst ein Meisterwerk der Beschreibung: Hans Belting über den Ursprung des Gemäldes in den Niederlanden.

Von Dirk Schümer

Wer je vor einem Gemälde von Jan van Eyck gestanden hat, wird es nie wieder vergessen. Schon merkwürdig, wie vollendet bis in die Wiedergabe der feinsten Details, die naturfarbliche Wucht der Menschendarstellungen und die intime Lichtführung diese Ölmalerei die Bühne der Ästhetik schlagartig betritt. Seit Jan van Eyck gibt es neue Blickweisen, andere Techniken, doch die staunenswerte Perfektion seiner Erfindungen hat kein Künstler später je übertreffen können. Völlig zu Recht spricht Hans Belting denn auch staunend von der "Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden", wenngleich wir vor allem ältere Wandmalereien sogar aus der Antike, aus mittelalterlichen Kirchen kennen und tonnenweise Ikonen oder frühe italienische Tafelmalerei vorliegen haben, die lange vor den Altniederländern entstanden sind.

Doch was wir uns angewöhnt haben, als Abbild der Welt, als kunstvolle Imitation unseres eigenen Sehens und vor allem als intellektuellen Diskurs mittels Optik zu verstehen, und was die Menschheit recht eigentlich bis in die visuelle Inflation von Fernsehen und Internet katapultiert hat - das alles beginnt in der unendlich feinsinnigen und meditativen Malerei van Eycks .

Der entscheidende Begriff in Hans Beltings großartigem Traktat ist der des Spiegels. "Spiegel der Welt" sollte ein altniederländisches Tafelbild nämlich sein, und die frappante Pixeldichte der Wiedergabe, die der Meister mit einem einzigen Haar oder einer feinen Schnepfenfeder erreichte, nimmt noch uns heutigen Betrachtern den Atem. Doch der - man gestatte den anachronistischen Begriff - Fotorealismus dieser Gemälde ist nur ein kleiner Aspekt in einem viel dichteren Gewebe. Belting erklärt, dass ein Spiegelbild unbedingt auch ein Subjekt voraussetzt, welches sich in der Bildfläche wiedererkennt. Nur wer seine eigene Weltsicht mit den Farben des Bildes gleichsetzte und wer sich als Individuum mit den konterfeiten Personen verwandt fühlte, konnte und kann mit den Augen van Eycks sehen. Diese Gemälde benötigten eine ausgewachsene Psyche der Betrachter. Der Quantensprung zum sehenden Subjekt wird deutlich, wenn wir uns die typisierende Kultmalerei der vorhergehenden Jahrhunderte vor Augen halten. Porträts, wie sie Jan van Eyck dem Kardinal Albergati, dem burgundischen Kanzler Rolin, aber auch seiner Ehefrau und sich selbst als Seelenspiegel vorhielt, gab es nicht einmal bei den faszinierenden Mumienporträts aus dem spätantiken Ägypten.

Belting rehabilitiert die - gewöhnlich unterschätzte - intellektuelle Leistung dieser gemalten Abhandlungen über die Welt, indem er als Quellentexte die damalige burgundische Chronistik - etwa Olivier de la Marche, Georges Chastellain oder Philippe de Commynes - heranzieht. Hier wird deutlich, dass auch diese Schriftsteller an gültigen Charakterporträts arbeiteten und eine ähnliche Zeugen- und Zeitgenossenschaft postulierten wie der Maler, der aber - anders als in Italien mit der verbosen Kunsttheorie der Renaissance - für uns zumeist stumm bleibt. Dennoch kann Belting vor allem Jan van Eyck, aber auch seine Zeitgenossen wie Rogier van der Weyden und Hugo van der Goes nachvollziehbar als hochvergeistigte Innovateure eines bewunderten Gewerbes darstellen, in dessen Umfeld damals erst der Begriff "Kunst" das alte Schilderhandwerk überwölben konnte. Doch bei aller Bewunderung, die etwa dem brillant als disparates Allerheiligenbild gedeuteten Genter Altar schon nach seiner Fertigstellung 1435 zuteilwurde, diente ein Gemälde ganz schlicht auch als gemaltes Dokument - als optischer Beweis einer individuellen Existenz, als notarieller Rechtsakt einer Heirat - wie im großartigen Arnolfini-Bildnis in London - oder als Beglaubigung einer religiösen Stiftung, in deren exakt geplanten Zusammenhang von Gottesdienst, Musik, Architektur manches Stifterbild dann auch zu stehen kam. "Jan van Eyck war hier", steht darum als Beglaubigung auf manchem Bild. Es ist unmöglich, Beltings souverän und dicht geschriebenes Netzwerk aus Verweisen im Detail nachzuzeichnen - fast so unmöglich, wie die Welthaltigkeit eines altniederländischen Altars in Worten wiederzugeben. Der Autor schafft es jedenfalls mühelos - und das ist bei Augenmenschen selten -, auch noch den meditativen Gehalt der altniederländischen Polyphonie in die Wirkung dieser Malerei einzubeziehen. Ein ungeheures Pingpong ästhetischer Verweise wird nämlich in jedem dieser Gemälde lustvoll gespielt - und hält damit bis heute das Gewerbe der Interpreten mühelos auf Trab. Wenn ein Rogier van der Weyden etwa Steinskulpturen konterfeit, ist das immer auch ein stolzer Triumph der Malerei: Sie kann die lebendige Natur und die Schwesterkunst der Skulptur gleich mit abbilden, aber sie kann den toten Stein darüber hinaus mit funkelnden Augen beleben und sogar in einem einzigen Bild durch einen Spiegel die Vorder- und Rückseite von Dingen sichtbar machen.

So stolz und selbstbewusst van Eycks Auftraggeber den neu erfundenen Bildraum füllten, so grandios der Maler seine Ausblicke auf die weite Welt in den Hintergrund plazierte, so missverständlich wäre es aber, diese altniederländische Malerei als rein optische Wiedergabetechnik zu preisen. Als Kenner der damaligen Mystik - etwa von Geert Groote - weiß Belting, dass die Altniederländer sogar schafften, woran sich die Moderne immer noch nach Kräften abarbeitet: eine Welt zu malen, die man gar nicht sehen kann.

Belting spricht hier sehr schön vom "inneren Blick", denn die minutiös ausgeführten Heiligen mit ihrem Inkarnat und ihren kostbaren Gewändern konnte nicht einmal der vor ihnen Abgebildete in seiner religiösen Versenkung mit den Augen erblicken. Der Maler holt also die höhere, die heilige, die jenseitige Sphäre in die Welt des Sichtbaren herein und wird spätestens dadurch zu einem ernstzunehmenden Rivalen für die Theologie - die postwendend die Verführungskraft der Kultbilder zu schmähen begann und diese später - man denke an Calvin - manchmal sogar komplett verbot. Doch der Triumph der Malerei, plötzlich Orte sichtbar zu machen, die es im Diesseits nicht gibt, wies auf Dauer alle Kritik in die Schranken.

Man müsste Beltings Texte, die immer auch bescheiden das Lehrgebäude ganzer Generationen alter und neuester Kunsthistorie heranziehen, eigentlich vor den Originalen in Brügge und Gent, in Paris und Wien lesen, um das kongeniale Verständnis der Bilder so recht nachvollziehen zu können. Die Ausstattung dieser Volksausgabe des Textes, der vorher in einem opulenten Sammelwerk schwer greifbar war und nun noch einmal überarbeitet wurde, kann leider keine Abbildungen mitliefern, die der Dichte der sprachlichen Beschreibung auch nur annähernd gleichkommen.

Belting verbeugt sich vor den ganz großen Erfindern der Malerei, allen voran Jan van Eyck und Rogier van der Weyden, denen er noch den dramatischen Bühnenmaler Hugo van der Goes zur Seite stellt, der die Welt des Heiligen als packendes Theater evozierte und später, geplagt von seinen Visionen, ins Kloster ging, wo er in Umnachtung starb. Solche Bilder zu sehen und zu malen hatte eben einen hohen Preis. Sachlichere Meister wie der fleißige und etwas stromlinienförmige Hans Memling oder der ganz am Dinglichen orientierte Robert Campin finden zu Recht nicht die enthusiastische Zustimmung des Autors.

Die zeitlose Ewigkeit in einem Alltagsbild zu vergegenwärtigen war eine so komplizierte Aktion, dass sie das altniederländische Bild nach einer Generation bereits in die Krise stürzte. Diese Entwicklung macht Belting im Werk von Hieronymus Bosch greifbar, dessen Visionen der verderbten Welt plötzlich den Spiegel vorhalten. Seine allegorischen Bilder transzendieren nicht mehr bloß das Diesseits, sie attackieren es mit beißendem Spott und Satire. Bosch, der Zauberkünstler des Grotesken, zerbricht dabei ganz bewusst den gemalten Zauberspiegel der Welt. Keiner Kunst ist es seither gelungen, die Scherben wieder zusammenzusetzen.

Hans Belting: "Spiegel der Welt". Die Erfindung des Gemäldes in den Niederlanden. Verlag C.H. Beck, München 2010. 293 S., Abb., br., 18,95 [Euro].

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