Regungslos verfolgt Cromwell die Hinrichtung der Königin, um dann mit den Siegern zu frühstücken. Der Sohn des Schmieds aus Putney taucht aus dem Blutbad des vergangenen Frühlings auf, um seinen Aufstieg zu Macht und Reichtum fortzusetzen. Zur selben Zeit gibt sich Henry VIII., der mehr und mehr zum unberechenbaren Gebieter wird, dem kurzlebigen Glück mit seiner dritten Königin hin, die schon bald bei der Geburt des lang ersehnten männlichen Thronfolgers sterben wird.Cromwell kann sich nur auf seinen Verstand verlassen, denn er hat weder eine starke adlige Familie noch eine private Armee hinter sich. Der Kampf mit dem Papst und der katholischen Welt Europas droht England zu zerreißen. Da sind die religiösen Rebellen im eigenen Land und die Verräter aus den eigenen Reihen, die sich im Ausland mit den Feinden verbünden. Und da ist der König, den nichts so sehr interessiert wie die Sicherung der Thronfolge. Trotz alldem sieht der weitsichtige Cromwell ein neues England im Spiegel der Zukunft - und ist für diese Vision zu jedem Opfer bereit. Doch kann eine Nation oder eine Einzelperson ihre Vergangenheit abwerfen wie eine Schlange ihre Haut? Was wird er tun, wenn die Toten sich nicht abschütteln lassen, wenn der König ihm sein Vertrauen entzieht?In 'Spiegel und Licht' zeichnet Hilary Mantel die letzten Lebensjahre des Thomas Cromwell nach und entwirft ein eindrucksvolles Porträt von Jäger und Gejagtem, von dem erbitterten Wettstreit zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen königlichem Willen und der Vision eines einfachen Mannes: der Vision einer modernen Nation, die sich durch Konflikt, Leidenschaft und Tapferkeit selbst erschafft.Der lang erwartete dritte Band der Tudor-Trilogie! Für 'Wölfe' (2009) und 'Falken' (2012) wurde Hilary Mantel jeweils mit dem renommierten Booker Prize ausgezeichnet.Das Hörbuch erscheint bei Audiobuch.
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Eine große Besprechung widmet Rezensentin Judith Luig diesem in Großbritannien hochgelobten dritten und letzten Teil der Romantrilogie über Oliver Cromwell und Henry III. Großartige Szenen gibt es darin, erklärt sie, aber so begeistert wie von den ersten beiden Bänden ist sie von diesem Buch nicht. Zuviel Gewimmel ist das für sie, zu viele Leute und zu viel Handlung, deren Motivation sie nicht versteht. Ja, man weiß, es geht um die Erbfolge und eine nationale Kirche ohne Papst samt aller damit verbundenen Fragen über Geschichtsschreibung und Religion. Aber diejenige, die in den beiden vorausgehenden Büchern die Rolle der Gegenspielerin Cromwells gespielt hat, Anne Boleyn, sei jetzt tot. Und die Autorin habe keine neue Figur gefunden, die sie in ein ähnliches Spannungsverhältnis habe bringen können."Hilary Mantel" so findet die strenge Kritikerin, "hat eine Chance verpasst", gerade jetzt ihrem Land - wiederum am Anfang eines historischen Alleingangs - wirklich einen Spiegel vorzuhalten.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2020Ein Roman macht Geschichte
Hilary Mantel schließt mit "Spiegel und Licht" ihre Trilogie über die Tudor-Zeit ab. Ihr Thomas Cromwell ist eine der großartigsten Schöpfungen der jüngeren Literatur.
Ihren Roman "Falken" hatte Hilary Mantel 2012 mit dieser Nachbemerkung beendet: "In diesem Buch geht es natürlich nicht um Anne Boleyn oder Henry VIII., sondern um die Laufbahn Thomas Cromwells, über den es immer noch keine umfassende, verlässliche Biografie gibt. Bis dahin bleibt der Master Sekretär geschmeidig, wohlgerundet und kaum zugänglich, wie eine erlesene Pflaume in einem Christmas Pie - aber ich hoffe, mit meinen Bemühungen fortfahren und ihn ans Licht holen zu können."
Zum Glück der Autorin ist auch in den acht Jahren seither keine Cromwell-Biographie erschienen, aber wie hätte die auch aussehen sollen, nachdem sich die ganze Welt bereits ihr Bild von diesem englischen Renaissance-Politiker machte - dank "Falken" und seinem Vorgängerroman "Wölfe" (2009)? Es gibt in der jüngeren Literatur keinen vergleichbaren Fall fiktionaler Rekonstruktion einer historischen Gestalt, die einen solchen Erfolg erlebt hätte. Oder über solche literarischen Qualitäten verfügt.
Jetzt wird dieser Zyklus, Mantels gefeierte "Tudor-Trilogie", mit einem Abschlussband vollendet, von dem weder sicher war, ob er überhaupt erscheinen würde (angesichts des prekären Gesundheitszustands seiner Autorin), noch, ob er den gefeierten Vorgängern würde standhalten können. Sowohl "Wölfe" (im Original "Wolf Hall") als auch "Falken" ("Bring Up the Bodies") gewann die wichtigste englische Literaturauszeichnung, den Booker Prize, und die lange Pause zwischen zweitem und drittem Band ließ Schwierigkeiten vermuten. Doch dann kam im vergangenen Jahr in Großbritannien die Ankündigung, dass "The Mirror and the Light" fertig sei. Bis zum Erscheinen des Buchs vor zwei Wochen lief die Vermarktungsmaschinerie warm, und seitdem steht das englischsprachige literarische Leben ganz in seinem Zeichen (F.A.Z. vom 9. März).
Bei uns dürfte es in den nächsten Wochen kaum anders sein, zumal nun unfreiwillig die nötige Lesezeit für die fast 1100 Seiten bereitsteht - beinahe so viel wie die ersten beiden Bände zusammen. Von heute an ist der dritte Teil erhältlich, und gestern war er bei Amazon als gebundenes Buch schon nicht mehr lieferbar. Hatte sich DuMont als deutscher Verlag mit den Vorgängerbänden noch jeweils ein Jahr Zeit für die Übersetzung gelassen, ist der neue diesmal also mit nur zwei Wochen Abstand gefolgt. "Spiegel und Licht" ist er überschrieben, und wie beim zweiten Band hat Werner Löcher-Lawrence hervorragende Arbeit geleistet (der erste war noch von Christiane Trabant übersetzt worden), und das will angesichts der knappen Zeitspanne und des Buchumfangs einiges heißen. Die Bildhaftigkeit der mantelschen Prosa ist wieder meisterhaft übertragen worden.
Worin besteht deren Reiz? Erst einmal in der Gegenwärtigkeit, die sie heraufbeschwört. Mantel erzählt im Präsens und radikal aus der Perspektive Thomas Cromwells. Keine Szene im Buch, die ohne ihn auskäme - ein ganz anderes Erzählprinzip als im ersten großen historischen Roman dieser Schriftstellerin, dem multiperspektivischen "Brüder" von 1992. Und doch ist die Tudor-Trilogie keine Ich-, sondern eine Er-Erzählung, aber eine, in der dieses "Er" mindestens so persönlich auftritt, wie es ein "Ich" täte.
Dadurch sind die wiederkehrenden Passagen, in denen Cromwells Gedanken oder nahtlos in den Fluss der aktuellen Ereignisse eingebettete Erinnerungen an seine Vergangenheit geschildert werden und er dabei über sich selbst "ich" sagt, noch eindrucksvoller, weil der kühle Analytiker seiner Zeit, als den ihn Mantel vorführt, aus der Rolle zu fallen scheint. Das Porträt des Thomas Cromwell ist ein kaleidoskopisches insofern, als sich durch ein ineinandergreifendes Beobachten seiner selbst und seiner Welt ständig das Handlungsmuster verändert: Cromwell agiert weniger, als dass er reagiert, seine persönlichen Überzeugungen (in religiöser, ökonomischer, psychologischer, politischer, auch amouröser Sicht) stellt er ständig hintan. Neben ihm lebten im Europa der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts Überzeugungstäter wie Luther, Zwingli, Calvin - alle Reformatoren genannt, obwohl sie Revolutionäre waren. Cromwell steht ihnen darin nicht nach; er sorgte politisch wie juristisch dafür, dass Heinrichs erste beide Ehen für ungültig erklärt werden konnten, was die Befreiung Englands vom Einfluss des Papstes und schließlich die Etablierung der Church of England zur Folge hatte.
Cromwells eigene religiöse Überzeugungen waren aber vielmehr kontinental-protestantischer Natur, worauf in Heinrichs Staat der Tod stand. Also verleugnete er sie, um über die Beeinflussung des Königs einen evolutionären Weg zum neuen Verständnis des christlichen Glaubens zu ebnen. Cromwell war ein Realpolitiker, und das heutige Großbritannien beruht auf seinem Wirken. Das macht diesen Mann der Renaissance zu einer so ungemein modernen Figur.
Und Hilary Mantel zieht alle Register modernen Erzählens. Ihr Roman weist keinen historisierenden Ton auf, aber sie streut Archaismen ein, stellt über Dialoge intellektuelle Positionen jener Epoche vor, und sie macht die Zeit der Handlung anschaulich über eine Liebe zum Detail, die beispiellos dasteht. Natürlich sind ihr dabei die Relikte aus der Herrschaftszeit Heinrichs VIII. willkommene Inspiration: all die Holbein-Gemälde, Gebäude, Schmuckstücke, Tapisserien. In dem berührenden Text "Tudor Places", der nur in einer Sonderausgabe des neuen Romans für die britische Buchhandelskette Waterstones enthalten ist, gibt sie Auskunft über ihre Suche danach. So etwa am Grab Heinrichs in Windsor Castle: "Als ich auf seinen Überresten stehe, empfinde ich Schwindel und Übelkeit, und in meinem linken Arm tritt ein starkes Gefühl auf, das mir signalisiert: tote Leute um mich herum. Aber ich bin gerne bereit einzuräumen, dass es sich nur um meine Einbildung handelt."
Es ist aber eben Hilary Mantels Einbildungskraft, die etwas sichtbar zu machen vermag, von dem es keine Zeugnisse gibt, und nicht selten verfällt die Erzählstimme dann in ein "wir", das Thomas Cromwell aufhebt in eine kollektive Stimme des englischen Volks. So anlässlich der ersten Wiederbegegnung von Heinrich mit seiner ungeliebter Tochter Mary aus erster Ehe, nachdem er gerade seine dritte Frau, Jane Seymour, geheiratet hat: "Wenn unsere Enkel oder die in einem anderen Land, fern von diesen im Glühwürmchenlicht verbleichenden Feldern, einst die Chroniken dieser Regentschaft zusammenstellen, werden sie sich das Treffen zwischen dem König und seiner Tochter vorzustellen versuchen - die Reden, die sie füreinander gehalten haben, die gegenseitigen Aufmerksamkeiten, die Versprechen und Segenswünsche. Was sie nicht gesehen haben, nicht aufschreiben können, war Lady Marys wackliger Knicks und wie das Gesicht des Königs rot anlief, als er durch den Raum lief und sie in den Arm nahm, ihr Schniefen und Wimmern, als sie den weißgoldenen Stoff seiner Jacke ergreift, sein Keuchen, sein Schluchzen, seine bebenden Koseworte und die heißen Tränen, die ihm aus den Augen quellen." Wo die Chroniken schweigen müssen, fängt Hilary Mantel erst richtig an.
Nur ein Bespiel: Der Titel ihres neuen Romans verdankt sich einer - erfundenen - Bemerkung Thomas Cromwells gegenüber Heinrich VIII.: "Ihre Majestät ist der einzige Fürst. Der Spiegel und das Licht anderer Könige." Gesprochen wird sie im Roman unter vier Augen, aber nun wird sie in Millionen Gedächtnissen verankert sein. In der Allegorie schwingen Begriffe wie "Fürstenspiegel" und "Aufklärung" mit. Sie ist perfekt gewählt. Aber sie fließt Hilary Mantels Cromwell ganz selbstverständlich aus dem Mund.
Und genauso selbstverständlich erzählt Mantel uns durchs Dickicht der englischen Innenpolitik jener Zeit, stellt die wechselnden Bündnisse und die beständigen Feindschaften vor, deckt Intrigen und Dummheiten einer runden Hundertschaft gesellschaftlicher Akteure auf, und in keinem Moment ist das undurchsichtig oder gar langweilig. Im Gegenteil: Als Leser fiebert man mit Thomas Cromwell, der im zweiten Band doch so unsympathisch geworden war in seinem kalten Machtkalkül, bekommt ihn nun noch intensiver als in den ersten beiden Teilen der Trilogie als Mann mit Vergangenheit vorgeführt, als Getriebenen alter Phantome, der mit Toten ebenso im Zwiegespräch ist wie mit Lebenden, und man wünscht wider besseres (historisches) Wissen, er möge überleben. Aber wie jeder der bisherigen Bände bietet auch dieser am Schluss eine Enthauptung: Thomas More wurde am Ende von "Wölfe" hingerichtet, Anne Boleyn am Ende von "Falken", Thomas Cromwell nun am Ende des Ganzen.
Kann unser historisches Wissen wirklich besser genannt werden als das, was Literatur zu vermitteln versteht? Hilary Mantel macht mit ihren drei Romanen ein Interpretationsangebot auf der Grundlage allgemein recherchierbarer Fakten und der nur ihr zugänglichen eigenen Phantasie. Das Tudor-England auf der Grundlage Ersterer ist weniger lebendig als das Tudor-England von Mantel. Das ist keine Frage der Wahrheit, es ist eine der Wahrhaftigkeit: Wo wir Menschen besser verstehen lernen, ist mehr fürs historische Verständnis getan als mit bloßer Datenkenntnis und Namenslisten. Geschichtsschreibung erfolgt über Geschichtenschreiben, und Hilary Mantel ist eine Virtuosin des Letzteren. Ziemlich genau in der Mitte ihres neuen Romans seht ein Fazit dessen, was sie uns erzählt hat mit ihrer Tudor-Trilogie: "Irgendwo, vielleicht auch nirgends, gibt es eine Gesellschaft, die von Philosophen regiert wird. Sie haben saubere Hände und reine Herzen. Aber selbst in der Hauptstadt des Lichts gibt es Müllgruben und Misthaufen voller Schmeißfliegen. Selbst in der Republik der Tugend brauchst du einen Mann, der die Scheiße wegschaufelt, und irgendwo steht geschrieben, dass er Cromwell heißt."
Nein, nicht irgendwo. Im bislang größten Romanzyklus des einundzwanzigsten Jahrhunderts. In dem die Cromwells weiterschaufeln.
ANDREAS PLATTHAUS
Hilary Mantel: "Spiegel und Licht". Roman.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Dumont Verlag, Köln 2020. 1098 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hilary Mantel schließt mit "Spiegel und Licht" ihre Trilogie über die Tudor-Zeit ab. Ihr Thomas Cromwell ist eine der großartigsten Schöpfungen der jüngeren Literatur.
Ihren Roman "Falken" hatte Hilary Mantel 2012 mit dieser Nachbemerkung beendet: "In diesem Buch geht es natürlich nicht um Anne Boleyn oder Henry VIII., sondern um die Laufbahn Thomas Cromwells, über den es immer noch keine umfassende, verlässliche Biografie gibt. Bis dahin bleibt der Master Sekretär geschmeidig, wohlgerundet und kaum zugänglich, wie eine erlesene Pflaume in einem Christmas Pie - aber ich hoffe, mit meinen Bemühungen fortfahren und ihn ans Licht holen zu können."
Zum Glück der Autorin ist auch in den acht Jahren seither keine Cromwell-Biographie erschienen, aber wie hätte die auch aussehen sollen, nachdem sich die ganze Welt bereits ihr Bild von diesem englischen Renaissance-Politiker machte - dank "Falken" und seinem Vorgängerroman "Wölfe" (2009)? Es gibt in der jüngeren Literatur keinen vergleichbaren Fall fiktionaler Rekonstruktion einer historischen Gestalt, die einen solchen Erfolg erlebt hätte. Oder über solche literarischen Qualitäten verfügt.
Jetzt wird dieser Zyklus, Mantels gefeierte "Tudor-Trilogie", mit einem Abschlussband vollendet, von dem weder sicher war, ob er überhaupt erscheinen würde (angesichts des prekären Gesundheitszustands seiner Autorin), noch, ob er den gefeierten Vorgängern würde standhalten können. Sowohl "Wölfe" (im Original "Wolf Hall") als auch "Falken" ("Bring Up the Bodies") gewann die wichtigste englische Literaturauszeichnung, den Booker Prize, und die lange Pause zwischen zweitem und drittem Band ließ Schwierigkeiten vermuten. Doch dann kam im vergangenen Jahr in Großbritannien die Ankündigung, dass "The Mirror and the Light" fertig sei. Bis zum Erscheinen des Buchs vor zwei Wochen lief die Vermarktungsmaschinerie warm, und seitdem steht das englischsprachige literarische Leben ganz in seinem Zeichen (F.A.Z. vom 9. März).
Bei uns dürfte es in den nächsten Wochen kaum anders sein, zumal nun unfreiwillig die nötige Lesezeit für die fast 1100 Seiten bereitsteht - beinahe so viel wie die ersten beiden Bände zusammen. Von heute an ist der dritte Teil erhältlich, und gestern war er bei Amazon als gebundenes Buch schon nicht mehr lieferbar. Hatte sich DuMont als deutscher Verlag mit den Vorgängerbänden noch jeweils ein Jahr Zeit für die Übersetzung gelassen, ist der neue diesmal also mit nur zwei Wochen Abstand gefolgt. "Spiegel und Licht" ist er überschrieben, und wie beim zweiten Band hat Werner Löcher-Lawrence hervorragende Arbeit geleistet (der erste war noch von Christiane Trabant übersetzt worden), und das will angesichts der knappen Zeitspanne und des Buchumfangs einiges heißen. Die Bildhaftigkeit der mantelschen Prosa ist wieder meisterhaft übertragen worden.
Worin besteht deren Reiz? Erst einmal in der Gegenwärtigkeit, die sie heraufbeschwört. Mantel erzählt im Präsens und radikal aus der Perspektive Thomas Cromwells. Keine Szene im Buch, die ohne ihn auskäme - ein ganz anderes Erzählprinzip als im ersten großen historischen Roman dieser Schriftstellerin, dem multiperspektivischen "Brüder" von 1992. Und doch ist die Tudor-Trilogie keine Ich-, sondern eine Er-Erzählung, aber eine, in der dieses "Er" mindestens so persönlich auftritt, wie es ein "Ich" täte.
Dadurch sind die wiederkehrenden Passagen, in denen Cromwells Gedanken oder nahtlos in den Fluss der aktuellen Ereignisse eingebettete Erinnerungen an seine Vergangenheit geschildert werden und er dabei über sich selbst "ich" sagt, noch eindrucksvoller, weil der kühle Analytiker seiner Zeit, als den ihn Mantel vorführt, aus der Rolle zu fallen scheint. Das Porträt des Thomas Cromwell ist ein kaleidoskopisches insofern, als sich durch ein ineinandergreifendes Beobachten seiner selbst und seiner Welt ständig das Handlungsmuster verändert: Cromwell agiert weniger, als dass er reagiert, seine persönlichen Überzeugungen (in religiöser, ökonomischer, psychologischer, politischer, auch amouröser Sicht) stellt er ständig hintan. Neben ihm lebten im Europa der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts Überzeugungstäter wie Luther, Zwingli, Calvin - alle Reformatoren genannt, obwohl sie Revolutionäre waren. Cromwell steht ihnen darin nicht nach; er sorgte politisch wie juristisch dafür, dass Heinrichs erste beide Ehen für ungültig erklärt werden konnten, was die Befreiung Englands vom Einfluss des Papstes und schließlich die Etablierung der Church of England zur Folge hatte.
Cromwells eigene religiöse Überzeugungen waren aber vielmehr kontinental-protestantischer Natur, worauf in Heinrichs Staat der Tod stand. Also verleugnete er sie, um über die Beeinflussung des Königs einen evolutionären Weg zum neuen Verständnis des christlichen Glaubens zu ebnen. Cromwell war ein Realpolitiker, und das heutige Großbritannien beruht auf seinem Wirken. Das macht diesen Mann der Renaissance zu einer so ungemein modernen Figur.
Und Hilary Mantel zieht alle Register modernen Erzählens. Ihr Roman weist keinen historisierenden Ton auf, aber sie streut Archaismen ein, stellt über Dialoge intellektuelle Positionen jener Epoche vor, und sie macht die Zeit der Handlung anschaulich über eine Liebe zum Detail, die beispiellos dasteht. Natürlich sind ihr dabei die Relikte aus der Herrschaftszeit Heinrichs VIII. willkommene Inspiration: all die Holbein-Gemälde, Gebäude, Schmuckstücke, Tapisserien. In dem berührenden Text "Tudor Places", der nur in einer Sonderausgabe des neuen Romans für die britische Buchhandelskette Waterstones enthalten ist, gibt sie Auskunft über ihre Suche danach. So etwa am Grab Heinrichs in Windsor Castle: "Als ich auf seinen Überresten stehe, empfinde ich Schwindel und Übelkeit, und in meinem linken Arm tritt ein starkes Gefühl auf, das mir signalisiert: tote Leute um mich herum. Aber ich bin gerne bereit einzuräumen, dass es sich nur um meine Einbildung handelt."
Es ist aber eben Hilary Mantels Einbildungskraft, die etwas sichtbar zu machen vermag, von dem es keine Zeugnisse gibt, und nicht selten verfällt die Erzählstimme dann in ein "wir", das Thomas Cromwell aufhebt in eine kollektive Stimme des englischen Volks. So anlässlich der ersten Wiederbegegnung von Heinrich mit seiner ungeliebter Tochter Mary aus erster Ehe, nachdem er gerade seine dritte Frau, Jane Seymour, geheiratet hat: "Wenn unsere Enkel oder die in einem anderen Land, fern von diesen im Glühwürmchenlicht verbleichenden Feldern, einst die Chroniken dieser Regentschaft zusammenstellen, werden sie sich das Treffen zwischen dem König und seiner Tochter vorzustellen versuchen - die Reden, die sie füreinander gehalten haben, die gegenseitigen Aufmerksamkeiten, die Versprechen und Segenswünsche. Was sie nicht gesehen haben, nicht aufschreiben können, war Lady Marys wackliger Knicks und wie das Gesicht des Königs rot anlief, als er durch den Raum lief und sie in den Arm nahm, ihr Schniefen und Wimmern, als sie den weißgoldenen Stoff seiner Jacke ergreift, sein Keuchen, sein Schluchzen, seine bebenden Koseworte und die heißen Tränen, die ihm aus den Augen quellen." Wo die Chroniken schweigen müssen, fängt Hilary Mantel erst richtig an.
Nur ein Bespiel: Der Titel ihres neuen Romans verdankt sich einer - erfundenen - Bemerkung Thomas Cromwells gegenüber Heinrich VIII.: "Ihre Majestät ist der einzige Fürst. Der Spiegel und das Licht anderer Könige." Gesprochen wird sie im Roman unter vier Augen, aber nun wird sie in Millionen Gedächtnissen verankert sein. In der Allegorie schwingen Begriffe wie "Fürstenspiegel" und "Aufklärung" mit. Sie ist perfekt gewählt. Aber sie fließt Hilary Mantels Cromwell ganz selbstverständlich aus dem Mund.
Und genauso selbstverständlich erzählt Mantel uns durchs Dickicht der englischen Innenpolitik jener Zeit, stellt die wechselnden Bündnisse und die beständigen Feindschaften vor, deckt Intrigen und Dummheiten einer runden Hundertschaft gesellschaftlicher Akteure auf, und in keinem Moment ist das undurchsichtig oder gar langweilig. Im Gegenteil: Als Leser fiebert man mit Thomas Cromwell, der im zweiten Band doch so unsympathisch geworden war in seinem kalten Machtkalkül, bekommt ihn nun noch intensiver als in den ersten beiden Teilen der Trilogie als Mann mit Vergangenheit vorgeführt, als Getriebenen alter Phantome, der mit Toten ebenso im Zwiegespräch ist wie mit Lebenden, und man wünscht wider besseres (historisches) Wissen, er möge überleben. Aber wie jeder der bisherigen Bände bietet auch dieser am Schluss eine Enthauptung: Thomas More wurde am Ende von "Wölfe" hingerichtet, Anne Boleyn am Ende von "Falken", Thomas Cromwell nun am Ende des Ganzen.
Kann unser historisches Wissen wirklich besser genannt werden als das, was Literatur zu vermitteln versteht? Hilary Mantel macht mit ihren drei Romanen ein Interpretationsangebot auf der Grundlage allgemein recherchierbarer Fakten und der nur ihr zugänglichen eigenen Phantasie. Das Tudor-England auf der Grundlage Ersterer ist weniger lebendig als das Tudor-England von Mantel. Das ist keine Frage der Wahrheit, es ist eine der Wahrhaftigkeit: Wo wir Menschen besser verstehen lernen, ist mehr fürs historische Verständnis getan als mit bloßer Datenkenntnis und Namenslisten. Geschichtsschreibung erfolgt über Geschichtenschreiben, und Hilary Mantel ist eine Virtuosin des Letzteren. Ziemlich genau in der Mitte ihres neuen Romans seht ein Fazit dessen, was sie uns erzählt hat mit ihrer Tudor-Trilogie: "Irgendwo, vielleicht auch nirgends, gibt es eine Gesellschaft, die von Philosophen regiert wird. Sie haben saubere Hände und reine Herzen. Aber selbst in der Hauptstadt des Lichts gibt es Müllgruben und Misthaufen voller Schmeißfliegen. Selbst in der Republik der Tugend brauchst du einen Mann, der die Scheiße wegschaufelt, und irgendwo steht geschrieben, dass er Cromwell heißt."
Nein, nicht irgendwo. Im bislang größten Romanzyklus des einundzwanzigsten Jahrhunderts. In dem die Cromwells weiterschaufeln.
ANDREAS PLATTHAUS
Hilary Mantel: "Spiegel und Licht". Roman.
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Dumont Verlag, Köln 2020. 1098 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.03.2020Tod durch
Backlash
Im dritten Teil ihrer Thomas-Cromwell-Trilogie
erzählt Hilary Mantel vom Ende eines Politikers,
dem die Kräfte der Reaktion auf die Pelle rücken
VON MEREDITH HAAF
Der Machtmensch, also jener Typus, dessen Wille zur Kontrolle weit über die eigenen Geschicke hinausgeht, weckt bei denjenigen, die von ihm betroffen sind, einen hermeneutischen Reflex: „Was will er wirklich?“ Nicht selten wäre die Antwort wohl ein blankes „Mehr“ – mehr Anerkennung, Information, Geld, Leute, die einem zuhören müssen – das gelegentlich unter dem Deckmäntelchen größerer Visionen daherkommt. Manch ein Machtmensch weiß über sich selbst vielleicht auch nicht so genau Bescheid.
Als Thomas Cromwell, der Geschäftsmann, Jurist und Kirchenreformer, der zwischen 1532 und 1540 dem Tudor-König Heinrich VIII. als Berater, Minister und schließlich Vizeregent diente, unter Hochverratsverdacht im Tower of London sitzt, schreibt er seinem Herren einen Brief. Hilary Mantel, die ihn und seine Welt in einer meisterhaften Trilogie imaginiert hat, lässt ihn im neuesten und letzten Teil „Spiegel und Licht“ dem Rätsel, das er selbst ist, näher kommen: „Ich habe meine Wünsche nie begrenzt. Genau wie ich in meiner Arbeit nie nachgelassen habe, so habe ich nie gedacht: Genug, du bist nun belohnt.“
Cromwell war eine Ausnahmeerscheinung seiner Zeit, der Sohn eines Schmieds, der es erst in Italien und Holland zu Geld brachte und sich dann in England Macht verschaffte. Er weiß, was ihm droht – und der Leser weiß, was ihm geschehen wird: Erst die Enteignung, dann die Enthauptung. Er hat selbst viele seiner Feinde auf diesen Weg gebracht, darunter Thomas Morus, die ehemalige Königin Anne Boleyn, zahllose Mönche und vermeintliche Verschwörer. Mantel lässt ihn nicht hadern, in der Welt der Macht gibt es keine falschen Ansprüche – nur die falsche Taktik. Zumal man argumentieren könnte, dass Cromwell in seinem Leben für Krone, Land und manche Mitmenschen deutlich mehr erreicht hat als für sich selbst.
Mehr als 2000 Seiten hat Mantel ihrem ehrgeizigen Protagonisten, der Welt der Tudors und der schweren Geburt der englischen Reformation in den vergangenen zehn Jahren gewidmet. Sie hat damit die Rehabilitation eines großen Bösewichtes der englischen Historie erreicht – insbesondere für Katholiken ist Cromwell eine Art Beelzebub. Für die ersten beiden Bände wurde sie jeweils mit dem Man-Booker-Preis ausgezeichnet, die Bücher verkauften sich weltweit über 50 Millionen Mal.
In „Wölfe“ spannte sie die Ambitionen zweier Emporkömmlinge – Cromwell und Anne Boleyn – zusammen, deren Verlustängste den Boden bereiten für ein paranoides Gesetzeswerk, in dem schon Verräter ist, wer an eine Zeit nach dem König auch nur denkt. Zugang zu Heinrich VIII. zu haben, ist das ultimative Gut, und doch bleiben die beiden seiner Gunst ausgeliefert. „Falken“ wiederum handelt von der Konkurrenz der beiden Spieler, Cromwell treibt Anne für seinen unzufriedenen König in den Abgrund, lässt dabei seinen Rachegelüsten freien Lauf und zementiert seine Kontrolle am Hof.
Am Beginn von „Spiegel und Licht“ steht seine Macht im Zenit, doch das Buch ist von Anfang an die Geschichte eines Kampfs um Machterhalt und eines rapiden Absturzes. Noch deutlicher buchstabiert Mantel hier den Konflikt aus, der in gewisser Weise die Wurzel des sozialen Fortschritts ist: Was braucht einer, der etwas will, das die gesellschaftliche Ordnung für ihn nicht vorgesehen hat?
Die Antwort, die man aus der Lektüre der Trilogie mitnimmt, ist: ein gutes Gedächtnis, gute Leute, strategische Intuition, und ein kleines Messer griffbereit. Letzteres trägt Cromwell stets bei sich, fühlt er sich bedroht, berührt er kurz seine Brust: „Bei jemand anderem wäre es die Hand aufs Herz. Aber das ist es nicht.“
Im ersten Kapitel stellt Mantel ihren Protagonisten noch mal kurz vor: „Dieselben schnellen Augen, derselbe stämmige, unerschütterliche Körper: dieselben Pflichten. (…) Um fünf steht er auf, betet seine Gebete, wäscht sich und bricht sein Fasten. Um sechs empfängt er Bittsteller, seinen Neffen Richard Cromwell neben sich. Master Sekretärs Barke bringt ihn nach Greenwich und zurück, nach Hampton Court, zur Münze und zu den Waffenkammern des Tower of London. Obwohl immer noch ein Bürgerlicher, ist er der zweite Mann Englands, da würden die meisten zustimmen.“ Manchmal trägt er einen getrockneten Zweig Rosmarin bei sich und schnuppert daran, als wäre es eine Gedächtnishilfe. „Aber alle wissen, das ist nur ein Spielchen. Die einzigen Dinge, an die er sich nicht erinnert, sind die, die er nie wusste.“ Er hat, das wird man später erfahren, die ungünstige Angewohnheit entwickelt, flapsig die Wendung „wenn ich König wäre“ zu verwenden.
Mit gewohnter sprachlicher Eleganz lässt Mantel die ferne Welt des 16. Jahrhunderts auferstehen. Nonchalant wird „Master Sekretärs Barke“ erwähnt, als wäre das so geläufig wie ein Dienstwagen; andererseits tut sie uns den Gefallen, noch mal die Grundzüge von Cromwells Alltag zu erklären. In gewisser Weise ist diese Textpassage auch eine auktoriale Machtdemonstration Mantels, die etwas schräg steht zu dem restlichen Werk. Denn was die Cromwell-Trilogie stilistisch auszeichnet, ist die Erzählform, mit der die Figur Cromwell sich ständig selbst erhellt und wieder verdunkelt. Er erzählt sich stets selbst, ein sinnlicher Analytiker, der es rein ästhetisch zu schätzen weiß, wie das Profil des Königs „im Licht eines perfekten Morgengrauens“ Kontur gewinnt, der Pfirsiche lieber hat als Aprikosen. Doch weil er eben ein Typ ist, der mehr sieht als das, was vor ihm passiert, ist seine Perspektive oft sehr umfassend. Weil er sich selbst dabei zuguckt, wie er handelt, aber nicht immer so genau sagen will, warum er das macht, ist sie überraschend. „Vorsicht, Sie sind gerade dabei, sich selbst zu erklären“, warnt ihn ein Vertrauter, als er ausnahmsweise einer Abneigung einmal Luft macht.
Neben der Erzählung ist es natürlich rein technisch eine gewaltige Leistung, wie Mantel die komplexe Rechtsgeschichte, die diversen theologischen Strömungen, die englische Hoflyrik, ganz abgesehen von Hunderten echten und erfundenen Commoners, Diplomaten, Beamten, Adeligen, Hofnarren und Damen in eine Erzählung bringt. In den letzten vier Jahren von Cromwells Leben war er mit der ständigen Abwehr von Invasionen beschäftigt, mit der Suche nach neuen Bräuten für seinen Herrscher, mit der Unterdrückung von Aufständen und der Reformation der Kirche. Er musste die letztlich unglückliche vierte Ehe Heinrichs mit der deutschen Prinzessin Anna von Kleve arrangieren und sich dabei mit allerhand Erzfeinden herumschlagen. Um es anders zu sagen: Er hatte wenig eigenes Leben, kaum Freunde und kein Vergnügen. Die wenigen warmen Beziehungen pflegt er zu den jungen Männern seines Haushalts, historische Figuren, die Mantel über die Jahre zu extrem ausgereiften Figuren entwickelt hat.
In dieser Fülle liegt leider eine strukturelle Schwäche des Buchs: Es passiert zu viel, es sind zu viele Protagonisten, und es wird zu politisch – also nicht aufrichtig – gesprochen. Der Alltag der Ränkespiele wird zwischendurch etwas eintönig (man fragt sich, wie Machtmenschen das aushalten). Es ist nicht ersichtlich, wie Mantel um dieses Dilemma hätte herumkommen sollen – und die Dialoge sind glänzend geschrieben. Zudem fehlen ihr rein historisch die charismatischen Frauenfiguren Anne Boleyn und Katharina von Aragon, die Mantel in den ersten beiden Teilen so fein erzählt. An ihrer Stelle steht die schreckliche Maria Tudor. Aus Gründen, die ihm selbst nicht ganz klar sind, weckt sie Cromwells Beschützerinstinkt. Es wird ihm schließlich zum Verhängnis.
Doch auch wenn es streckenweise Mühe bereitet, dieses Buch zu lesen: Spätestens der letzte Teil, in dem Cromwell sich mit dem Abgrund auseinandersetzen muss, den er sich selbst bereitet hat, macht die Mühe wett. An einer Stelle macht sein Sohn Gregory ihm einen Vorwurf: „So viele Worte und Schwüre und Taten, dass wenn die Leute später mal von ihnen lesen, sie nicht glauben werden, dass so ein Mann wie Lord Cromwell auf der Erde wandelte. Sie tun alles. Sie haben alles. Sie sind alles.“ Es gibt nicht viele Bücher, die so überzeugend ein „Alles“ erzählen, wie es Hilary Mantel auch hier getan hat.
Hilary Mantel: Spiegel und Licht. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Dumont, Köln 2020. 1104 Seiten, 30 Euro.
„Die einzigen Dinge, an die
er sich nicht erinnert,
sind die, die er nie wusste.“
Der Alltag der Ränkespiele wird
eintönig, man fragt sich, wie
Machtmenschen das aushalten
Die preisgekrönte britische Schriftstellerin Hilary Mantel.
Foto: Carlotta Cardana / CAMERA PRESS / laif
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Backlash
Im dritten Teil ihrer Thomas-Cromwell-Trilogie
erzählt Hilary Mantel vom Ende eines Politikers,
dem die Kräfte der Reaktion auf die Pelle rücken
VON MEREDITH HAAF
Der Machtmensch, also jener Typus, dessen Wille zur Kontrolle weit über die eigenen Geschicke hinausgeht, weckt bei denjenigen, die von ihm betroffen sind, einen hermeneutischen Reflex: „Was will er wirklich?“ Nicht selten wäre die Antwort wohl ein blankes „Mehr“ – mehr Anerkennung, Information, Geld, Leute, die einem zuhören müssen – das gelegentlich unter dem Deckmäntelchen größerer Visionen daherkommt. Manch ein Machtmensch weiß über sich selbst vielleicht auch nicht so genau Bescheid.
Als Thomas Cromwell, der Geschäftsmann, Jurist und Kirchenreformer, der zwischen 1532 und 1540 dem Tudor-König Heinrich VIII. als Berater, Minister und schließlich Vizeregent diente, unter Hochverratsverdacht im Tower of London sitzt, schreibt er seinem Herren einen Brief. Hilary Mantel, die ihn und seine Welt in einer meisterhaften Trilogie imaginiert hat, lässt ihn im neuesten und letzten Teil „Spiegel und Licht“ dem Rätsel, das er selbst ist, näher kommen: „Ich habe meine Wünsche nie begrenzt. Genau wie ich in meiner Arbeit nie nachgelassen habe, so habe ich nie gedacht: Genug, du bist nun belohnt.“
Cromwell war eine Ausnahmeerscheinung seiner Zeit, der Sohn eines Schmieds, der es erst in Italien und Holland zu Geld brachte und sich dann in England Macht verschaffte. Er weiß, was ihm droht – und der Leser weiß, was ihm geschehen wird: Erst die Enteignung, dann die Enthauptung. Er hat selbst viele seiner Feinde auf diesen Weg gebracht, darunter Thomas Morus, die ehemalige Königin Anne Boleyn, zahllose Mönche und vermeintliche Verschwörer. Mantel lässt ihn nicht hadern, in der Welt der Macht gibt es keine falschen Ansprüche – nur die falsche Taktik. Zumal man argumentieren könnte, dass Cromwell in seinem Leben für Krone, Land und manche Mitmenschen deutlich mehr erreicht hat als für sich selbst.
Mehr als 2000 Seiten hat Mantel ihrem ehrgeizigen Protagonisten, der Welt der Tudors und der schweren Geburt der englischen Reformation in den vergangenen zehn Jahren gewidmet. Sie hat damit die Rehabilitation eines großen Bösewichtes der englischen Historie erreicht – insbesondere für Katholiken ist Cromwell eine Art Beelzebub. Für die ersten beiden Bände wurde sie jeweils mit dem Man-Booker-Preis ausgezeichnet, die Bücher verkauften sich weltweit über 50 Millionen Mal.
In „Wölfe“ spannte sie die Ambitionen zweier Emporkömmlinge – Cromwell und Anne Boleyn – zusammen, deren Verlustängste den Boden bereiten für ein paranoides Gesetzeswerk, in dem schon Verräter ist, wer an eine Zeit nach dem König auch nur denkt. Zugang zu Heinrich VIII. zu haben, ist das ultimative Gut, und doch bleiben die beiden seiner Gunst ausgeliefert. „Falken“ wiederum handelt von der Konkurrenz der beiden Spieler, Cromwell treibt Anne für seinen unzufriedenen König in den Abgrund, lässt dabei seinen Rachegelüsten freien Lauf und zementiert seine Kontrolle am Hof.
Am Beginn von „Spiegel und Licht“ steht seine Macht im Zenit, doch das Buch ist von Anfang an die Geschichte eines Kampfs um Machterhalt und eines rapiden Absturzes. Noch deutlicher buchstabiert Mantel hier den Konflikt aus, der in gewisser Weise die Wurzel des sozialen Fortschritts ist: Was braucht einer, der etwas will, das die gesellschaftliche Ordnung für ihn nicht vorgesehen hat?
Die Antwort, die man aus der Lektüre der Trilogie mitnimmt, ist: ein gutes Gedächtnis, gute Leute, strategische Intuition, und ein kleines Messer griffbereit. Letzteres trägt Cromwell stets bei sich, fühlt er sich bedroht, berührt er kurz seine Brust: „Bei jemand anderem wäre es die Hand aufs Herz. Aber das ist es nicht.“
Im ersten Kapitel stellt Mantel ihren Protagonisten noch mal kurz vor: „Dieselben schnellen Augen, derselbe stämmige, unerschütterliche Körper: dieselben Pflichten. (…) Um fünf steht er auf, betet seine Gebete, wäscht sich und bricht sein Fasten. Um sechs empfängt er Bittsteller, seinen Neffen Richard Cromwell neben sich. Master Sekretärs Barke bringt ihn nach Greenwich und zurück, nach Hampton Court, zur Münze und zu den Waffenkammern des Tower of London. Obwohl immer noch ein Bürgerlicher, ist er der zweite Mann Englands, da würden die meisten zustimmen.“ Manchmal trägt er einen getrockneten Zweig Rosmarin bei sich und schnuppert daran, als wäre es eine Gedächtnishilfe. „Aber alle wissen, das ist nur ein Spielchen. Die einzigen Dinge, an die er sich nicht erinnert, sind die, die er nie wusste.“ Er hat, das wird man später erfahren, die ungünstige Angewohnheit entwickelt, flapsig die Wendung „wenn ich König wäre“ zu verwenden.
Mit gewohnter sprachlicher Eleganz lässt Mantel die ferne Welt des 16. Jahrhunderts auferstehen. Nonchalant wird „Master Sekretärs Barke“ erwähnt, als wäre das so geläufig wie ein Dienstwagen; andererseits tut sie uns den Gefallen, noch mal die Grundzüge von Cromwells Alltag zu erklären. In gewisser Weise ist diese Textpassage auch eine auktoriale Machtdemonstration Mantels, die etwas schräg steht zu dem restlichen Werk. Denn was die Cromwell-Trilogie stilistisch auszeichnet, ist die Erzählform, mit der die Figur Cromwell sich ständig selbst erhellt und wieder verdunkelt. Er erzählt sich stets selbst, ein sinnlicher Analytiker, der es rein ästhetisch zu schätzen weiß, wie das Profil des Königs „im Licht eines perfekten Morgengrauens“ Kontur gewinnt, der Pfirsiche lieber hat als Aprikosen. Doch weil er eben ein Typ ist, der mehr sieht als das, was vor ihm passiert, ist seine Perspektive oft sehr umfassend. Weil er sich selbst dabei zuguckt, wie er handelt, aber nicht immer so genau sagen will, warum er das macht, ist sie überraschend. „Vorsicht, Sie sind gerade dabei, sich selbst zu erklären“, warnt ihn ein Vertrauter, als er ausnahmsweise einer Abneigung einmal Luft macht.
Neben der Erzählung ist es natürlich rein technisch eine gewaltige Leistung, wie Mantel die komplexe Rechtsgeschichte, die diversen theologischen Strömungen, die englische Hoflyrik, ganz abgesehen von Hunderten echten und erfundenen Commoners, Diplomaten, Beamten, Adeligen, Hofnarren und Damen in eine Erzählung bringt. In den letzten vier Jahren von Cromwells Leben war er mit der ständigen Abwehr von Invasionen beschäftigt, mit der Suche nach neuen Bräuten für seinen Herrscher, mit der Unterdrückung von Aufständen und der Reformation der Kirche. Er musste die letztlich unglückliche vierte Ehe Heinrichs mit der deutschen Prinzessin Anna von Kleve arrangieren und sich dabei mit allerhand Erzfeinden herumschlagen. Um es anders zu sagen: Er hatte wenig eigenes Leben, kaum Freunde und kein Vergnügen. Die wenigen warmen Beziehungen pflegt er zu den jungen Männern seines Haushalts, historische Figuren, die Mantel über die Jahre zu extrem ausgereiften Figuren entwickelt hat.
In dieser Fülle liegt leider eine strukturelle Schwäche des Buchs: Es passiert zu viel, es sind zu viele Protagonisten, und es wird zu politisch – also nicht aufrichtig – gesprochen. Der Alltag der Ränkespiele wird zwischendurch etwas eintönig (man fragt sich, wie Machtmenschen das aushalten). Es ist nicht ersichtlich, wie Mantel um dieses Dilemma hätte herumkommen sollen – und die Dialoge sind glänzend geschrieben. Zudem fehlen ihr rein historisch die charismatischen Frauenfiguren Anne Boleyn und Katharina von Aragon, die Mantel in den ersten beiden Teilen so fein erzählt. An ihrer Stelle steht die schreckliche Maria Tudor. Aus Gründen, die ihm selbst nicht ganz klar sind, weckt sie Cromwells Beschützerinstinkt. Es wird ihm schließlich zum Verhängnis.
Doch auch wenn es streckenweise Mühe bereitet, dieses Buch zu lesen: Spätestens der letzte Teil, in dem Cromwell sich mit dem Abgrund auseinandersetzen muss, den er sich selbst bereitet hat, macht die Mühe wett. An einer Stelle macht sein Sohn Gregory ihm einen Vorwurf: „So viele Worte und Schwüre und Taten, dass wenn die Leute später mal von ihnen lesen, sie nicht glauben werden, dass so ein Mann wie Lord Cromwell auf der Erde wandelte. Sie tun alles. Sie haben alles. Sie sind alles.“ Es gibt nicht viele Bücher, die so überzeugend ein „Alles“ erzählen, wie es Hilary Mantel auch hier getan hat.
Hilary Mantel: Spiegel und Licht. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Dumont, Köln 2020. 1104 Seiten, 30 Euro.
„Die einzigen Dinge, an die
er sich nicht erinnert,
sind die, die er nie wusste.“
Der Alltag der Ränkespiele wird
eintönig, man fragt sich, wie
Machtmenschen das aushalten
Die preisgekrönte britische Schriftstellerin Hilary Mantel.
Foto: Carlotta Cardana / CAMERA PRESS / laif
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