Raumgreifende Gedichte aus Finnland voll Sprachmagie, Erinnerungskraft und Geschichte.Manfred Peter Heins Gedichte ziehen Bilanz, sie sind Selbstvergewisserungen über den Platz des Autors in der Welt, Expeditionen »ins Nachtlabyrinth«. Ruhe spricht aus ihnen, jedoch alles andere als Beschaulichkeit. Hein ist ein Autor der Anteilnahme, am Schicksal des Nächsten, aber auch an den politischen Zeitläuften. Sein Blick kommt von weither, aus der geographischen Distanz seiner Wahlheimat Finnland, und er reicht »in die Tiefe des Raums«, »wo die Geister sich scheiden« und die Gegenwart nur ein Moment einer großen Geschichte ist.AtemholenAtemzug Hall derStilleLichtpartikelsturzhier wo ich gehe -Aushaltendas Weißder Schneelast auf Kiefern gibtRaum dem WortlautSteig in die Jahrehinab zu sehen was dortdir entgegenschlägt -
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.2015Die Frühjahrsnymphe schäkert im Giersch
Vom Kraut, das dem Alter erblüht, und anderen Funden am Wegesrand: Manfred Peter Heins neue Gedichte
Manfred Peter Heins Ruf als bedeutender Lyriker der Nachkriegszeit reicht bis in die fünfziger Jahre zurück. Damals veröffentlichte Walter Höllerer erste Gedichte von ihm in der legendären Anthologie "Transit" (1956), und bald darauf erschienen auch die Gedichtbände "Ohne Geleit" und "Taggefälle". Man rückte Heins Gedichte seither gern in den Einzugsbereich der sogenannten "hermetischen Lyrik" in der Tradition von Paul Celan, Ernst Meister und Johannes Bobrowski, deren Gedichte sich nicht leicht erschließen, sondern vom Leser besondere Sorgfalt und Geduld fordern. Daran hat es in den fünfziger und sechziger Jahren offensichtlich gefehlt; auch bei den deutschen Verlegern.
Hein zog sich zurück; er entzog sich dem Literaturbetrieb. Man kann auch sagen: Er floh aus Deutschland nach Finnland. "Fluchtfährte" heißt die zuerst 1998 publizierte, bewegende autobiographische Erzählung, mit der er die Spurensuche seiner Entfernung vom nach dem Krieg unverbesserten Deutschland und vom unverbesserlichen Vater unternimmt und seine eigene frühe Prägung durch den Nationalsozialismus - er besuchte eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt (Napola) - und dessen Ostland-Ideologie reflektiert. Seine Orientierung zum europäischen Osten hin hat durchaus den Charakter einer Abrechnung, Korrektur, ja Wiedergutmachung. Hein entwickelte sich im Verlauf seines Finnland-Exils durch Übersetzungen, Studien, Anthologien und Jahrbücher zum wichtigsten Vermittler zunächst der finnischen, dann auch anderer osteuropäischer Literaturen.
Die eigene Lyrik trat demgegenüber lange zurück. Erst seit den achtziger Jahren erschienen regelmäßig wieder neue Gedichtbände von ihm. Wer die "Fluchtfährte" kennt, liest sie mit anderen Augen. Der Anschluss an Verfahrensweisen der Moderne, die Verrätselungen, die Betonung des Außenseitertums in seinen Gedichten werden dann auch als Formen der Distanzierung von jeder Möglichkeit der Einvernahme lesbar.
Wie schon in seinen früheren Gedichtbänden bietet Hein auch im neuen Band seine Gedichte der Jahre 2010 bis 2014 in der chronologischen Folge ihrer Entstehung; im Inhaltsverzeichnis werden sie auf den Tag genau datiert. So erhalten sie etwas tagebuchartig Dokumentarisches. Soweit dabei Reiseeindrücke oder Berichte aus Israel, Libyen, Ägypten oder Tibet erkennbar werden, ist das durch den thematischen Zusammenhang legitim und nachvollziehbar, insgesamt aber ist die genaue Reihenfolge der Eindrücke eher für den Autor als für den Leser von Gewicht.
Anders verhält es sich, wenn aktuelle Unglücksfälle wie die Katastrophe von Fukushima oder historische Ereignisse wie die ägyptische Revolution auf dem Tahrirplatz oder der Bürgerkrieg in Libyen ins Gedicht gerufen werden. Hein kommt dabei ohne Appelle und ohne Emphase aus. Die bloße Mitteilung des Geschehens enthält bereits alles, was zu sagen ist: "Meldungen aus Nahost // Sie töten verbrennen bei / Lebendigem Leib ihre / Kinder -". Oder: "Gestern in Auschwitz / standen befreit wovon am / Zaun die Häftlinge", geschrieben zum Gedenktag für die Opfer des Holocausts. Niemand kann behaupten (wie es geschehen ist), es fehle Hein die Wahrnehmung der politischen Wirklichkeit außerhalb der privaten Sphäre seines Nachdenkens über Phänomene und Sinneseindrücke des Alltags.
Das gibt es freilich auch: Betrachtungen am Wege, wo der Giersch wächst, ein "Kraut", das als Heilpflanze geträumt wird, "dem Alter erblüht" gegen Gichtschmerzen. Es lindert selbst dem einst ekstatisch geilen, nun aber "abendlahm" hinkenden Waldgott Pan brüderlich die Altersbeschwerden und lässt ihn von neuer Liebesjugendlichkeit träumen: "Hinter den Blütenständen / schäkert die Frühjahrsnymphe." Eine schöne Apologie des ehrenhalber mit seinem botanischen Namen "Aegopodium Podagraria" genannten wild wuchernden Unkrauts gibt es auch. Wer ein Gegenstück zu diesem Gedicht sucht, kann es bei dem mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Lyriker Jan Wagner finden, der vierzig Jahre jünger ist als Hein. Sein "giersch"-Gedicht aus dem Band "Regentonnenvariationen" erweist sich als kunstvolle Darstellung des gierigen Wachstums dieser Pflanze selbst; sie überwuchert alles. Selbst der Versuch, sie in die strenge Form des Sonetts zu zwingen, misslingt mit Kunstabsicht: sie verschlingt gischtartig den Garten ebenso wie die Reime und die ganze Form des Sonetts "mit nichts als giersch".
Solche Kunststücke liegen Hein fern. Er hält fest am Vorrang der wirklichkeitsnahen Aussage des Gedichts vor seiner äußeren Form, nur bleibt diese Aussage oft verschlüsselt. "Die Zugänge zum Gedicht sind zugleich die Zugänge zur Wirklichkeit des Fragenden", sagt er, fast tautologisch. Je abstrakter und metaphernreicher die Verse ausfallen, desto mehr ist der nach ihrem Sinn Fragende darauf angewiesen, seine eigenen Zugänge zur Wirklichkeit an das Gedicht heranzutragen. "Die Gesichter rings / um den Schlafleib / reden ins / Schweigen / am Traumlicht -". Nur wer es vermag, diese Worte mit eigener Lebenswirklichkeit zu füllen, kann sagen, wovon hier eigentlich die Rede ist.
"Von ganz allein entstünden seine Gedichte, die kämen unentwegt, einfach so, sagte er unlängst", berichtet Alfred Kelletat, der Freund und beste Kenner der Werke von Hein. In der Tat machen viele Gedichte den Eindruck absichtsloser Spontaneität. Stenogrammartig reihen sich Worte aneinander: Gedankenfetzen, Traumprotokollen ähnlich, die sich bereits vor einer nachträglich eingearbeiteten erzählerischen kausalen Verknüpfung der Stichworte als "Gedicht" ausgeben: "Salz / ein paar Körner / auf Zunge und Gaumen - // Wort / das brennt Atem hebt - / Sphärisches Leuchten // Kristall / Blütendiagramm / Gedicht -".
Immer wieder bedenkt und bedichtet Hein die Worte, die Sprache, die Verse und Gedichte - und ihre Vergeblichkeit. Sind es "Verlorne Worte", ein "Röcheln am Ende", "Gemurmel alter Kladde"? Wenig hoffnungsvoll klingt, was er zu sagen hat. Wer hört auf seine poetische Sprache, woran "erinnert sie noch die / Forthinlebenden"? Man kann auch - wieder einmal - fragen: Was bleibt?
Keine Botschaft, keine Verheißungen, kein Trost. Manfred Peter Hein tröstet nicht. Er bedarf selbst des Trostes. Der polnische Dichter Tadeusz Rózewicz war es, "Der Trost gespendet / dem in Schande lebenden / Sohn deutscher Väter". Dieser kann nur das illusionslose, resignative Selbstporträt eines Migranten geben, das Bild eines ortlosen Grenzgängers, eines zur Unzeit Abgeschiedenen, der - allen Zweifeln und Skrupeln zum Trotz - uraltes "Steingewordenes / Saatgut" wieder zum Leben erweckt und zum Keimen bringt im Gedicht, dessen "Sprache ein dunkles Reden" ist. In ihr spiegeln sich unsere eigenen abgrunddunklen Zeitläufte.
WULF SEGEBRECHT
Manfred Peter Hein: "Spiegelungen Orte". Gedichte 2010-2014. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 128 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vom Kraut, das dem Alter erblüht, und anderen Funden am Wegesrand: Manfred Peter Heins neue Gedichte
Manfred Peter Heins Ruf als bedeutender Lyriker der Nachkriegszeit reicht bis in die fünfziger Jahre zurück. Damals veröffentlichte Walter Höllerer erste Gedichte von ihm in der legendären Anthologie "Transit" (1956), und bald darauf erschienen auch die Gedichtbände "Ohne Geleit" und "Taggefälle". Man rückte Heins Gedichte seither gern in den Einzugsbereich der sogenannten "hermetischen Lyrik" in der Tradition von Paul Celan, Ernst Meister und Johannes Bobrowski, deren Gedichte sich nicht leicht erschließen, sondern vom Leser besondere Sorgfalt und Geduld fordern. Daran hat es in den fünfziger und sechziger Jahren offensichtlich gefehlt; auch bei den deutschen Verlegern.
Hein zog sich zurück; er entzog sich dem Literaturbetrieb. Man kann auch sagen: Er floh aus Deutschland nach Finnland. "Fluchtfährte" heißt die zuerst 1998 publizierte, bewegende autobiographische Erzählung, mit der er die Spurensuche seiner Entfernung vom nach dem Krieg unverbesserten Deutschland und vom unverbesserlichen Vater unternimmt und seine eigene frühe Prägung durch den Nationalsozialismus - er besuchte eine Nationalpolitische Erziehungsanstalt (Napola) - und dessen Ostland-Ideologie reflektiert. Seine Orientierung zum europäischen Osten hin hat durchaus den Charakter einer Abrechnung, Korrektur, ja Wiedergutmachung. Hein entwickelte sich im Verlauf seines Finnland-Exils durch Übersetzungen, Studien, Anthologien und Jahrbücher zum wichtigsten Vermittler zunächst der finnischen, dann auch anderer osteuropäischer Literaturen.
Die eigene Lyrik trat demgegenüber lange zurück. Erst seit den achtziger Jahren erschienen regelmäßig wieder neue Gedichtbände von ihm. Wer die "Fluchtfährte" kennt, liest sie mit anderen Augen. Der Anschluss an Verfahrensweisen der Moderne, die Verrätselungen, die Betonung des Außenseitertums in seinen Gedichten werden dann auch als Formen der Distanzierung von jeder Möglichkeit der Einvernahme lesbar.
Wie schon in seinen früheren Gedichtbänden bietet Hein auch im neuen Band seine Gedichte der Jahre 2010 bis 2014 in der chronologischen Folge ihrer Entstehung; im Inhaltsverzeichnis werden sie auf den Tag genau datiert. So erhalten sie etwas tagebuchartig Dokumentarisches. Soweit dabei Reiseeindrücke oder Berichte aus Israel, Libyen, Ägypten oder Tibet erkennbar werden, ist das durch den thematischen Zusammenhang legitim und nachvollziehbar, insgesamt aber ist die genaue Reihenfolge der Eindrücke eher für den Autor als für den Leser von Gewicht.
Anders verhält es sich, wenn aktuelle Unglücksfälle wie die Katastrophe von Fukushima oder historische Ereignisse wie die ägyptische Revolution auf dem Tahrirplatz oder der Bürgerkrieg in Libyen ins Gedicht gerufen werden. Hein kommt dabei ohne Appelle und ohne Emphase aus. Die bloße Mitteilung des Geschehens enthält bereits alles, was zu sagen ist: "Meldungen aus Nahost // Sie töten verbrennen bei / Lebendigem Leib ihre / Kinder -". Oder: "Gestern in Auschwitz / standen befreit wovon am / Zaun die Häftlinge", geschrieben zum Gedenktag für die Opfer des Holocausts. Niemand kann behaupten (wie es geschehen ist), es fehle Hein die Wahrnehmung der politischen Wirklichkeit außerhalb der privaten Sphäre seines Nachdenkens über Phänomene und Sinneseindrücke des Alltags.
Das gibt es freilich auch: Betrachtungen am Wege, wo der Giersch wächst, ein "Kraut", das als Heilpflanze geträumt wird, "dem Alter erblüht" gegen Gichtschmerzen. Es lindert selbst dem einst ekstatisch geilen, nun aber "abendlahm" hinkenden Waldgott Pan brüderlich die Altersbeschwerden und lässt ihn von neuer Liebesjugendlichkeit träumen: "Hinter den Blütenständen / schäkert die Frühjahrsnymphe." Eine schöne Apologie des ehrenhalber mit seinem botanischen Namen "Aegopodium Podagraria" genannten wild wuchernden Unkrauts gibt es auch. Wer ein Gegenstück zu diesem Gedicht sucht, kann es bei dem mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Lyriker Jan Wagner finden, der vierzig Jahre jünger ist als Hein. Sein "giersch"-Gedicht aus dem Band "Regentonnenvariationen" erweist sich als kunstvolle Darstellung des gierigen Wachstums dieser Pflanze selbst; sie überwuchert alles. Selbst der Versuch, sie in die strenge Form des Sonetts zu zwingen, misslingt mit Kunstabsicht: sie verschlingt gischtartig den Garten ebenso wie die Reime und die ganze Form des Sonetts "mit nichts als giersch".
Solche Kunststücke liegen Hein fern. Er hält fest am Vorrang der wirklichkeitsnahen Aussage des Gedichts vor seiner äußeren Form, nur bleibt diese Aussage oft verschlüsselt. "Die Zugänge zum Gedicht sind zugleich die Zugänge zur Wirklichkeit des Fragenden", sagt er, fast tautologisch. Je abstrakter und metaphernreicher die Verse ausfallen, desto mehr ist der nach ihrem Sinn Fragende darauf angewiesen, seine eigenen Zugänge zur Wirklichkeit an das Gedicht heranzutragen. "Die Gesichter rings / um den Schlafleib / reden ins / Schweigen / am Traumlicht -". Nur wer es vermag, diese Worte mit eigener Lebenswirklichkeit zu füllen, kann sagen, wovon hier eigentlich die Rede ist.
"Von ganz allein entstünden seine Gedichte, die kämen unentwegt, einfach so, sagte er unlängst", berichtet Alfred Kelletat, der Freund und beste Kenner der Werke von Hein. In der Tat machen viele Gedichte den Eindruck absichtsloser Spontaneität. Stenogrammartig reihen sich Worte aneinander: Gedankenfetzen, Traumprotokollen ähnlich, die sich bereits vor einer nachträglich eingearbeiteten erzählerischen kausalen Verknüpfung der Stichworte als "Gedicht" ausgeben: "Salz / ein paar Körner / auf Zunge und Gaumen - // Wort / das brennt Atem hebt - / Sphärisches Leuchten // Kristall / Blütendiagramm / Gedicht -".
Immer wieder bedenkt und bedichtet Hein die Worte, die Sprache, die Verse und Gedichte - und ihre Vergeblichkeit. Sind es "Verlorne Worte", ein "Röcheln am Ende", "Gemurmel alter Kladde"? Wenig hoffnungsvoll klingt, was er zu sagen hat. Wer hört auf seine poetische Sprache, woran "erinnert sie noch die / Forthinlebenden"? Man kann auch - wieder einmal - fragen: Was bleibt?
Keine Botschaft, keine Verheißungen, kein Trost. Manfred Peter Hein tröstet nicht. Er bedarf selbst des Trostes. Der polnische Dichter Tadeusz Rózewicz war es, "Der Trost gespendet / dem in Schande lebenden / Sohn deutscher Väter". Dieser kann nur das illusionslose, resignative Selbstporträt eines Migranten geben, das Bild eines ortlosen Grenzgängers, eines zur Unzeit Abgeschiedenen, der - allen Zweifeln und Skrupeln zum Trotz - uraltes "Steingewordenes / Saatgut" wieder zum Leben erweckt und zum Keimen bringt im Gedicht, dessen "Sprache ein dunkles Reden" ist. In ihr spiegeln sich unsere eigenen abgrunddunklen Zeitläufte.
WULF SEGEBRECHT
Manfred Peter Hein: "Spiegelungen Orte". Gedichte 2010-2014. Wallstein Verlag, Göttingen 2015. 128 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Vom Kraut, das dem Alter erblüht, und anderen Funden am Wegesrand« (Wulf Segebrecht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.07.2015)