Die WM 2022 rückt den Fußball im arabischen Raum ins Rampenlicht. Jakob Krais zeigt auf, welche Strategien mit den arabischen Investitionen in den europäischen Fußball verbunden sind, er erzählt die Geschichte der Fußballerinnen und Fußballer zwischen Marokko und Irak, und er beleuchtet die widerständige Dimension, die der Fußball durchaus auch in autoritären Regimen haben kann. Die WM in Katar wird damit zum Ausgangspunkt für eine Analyse aktueller Phänomene, die den Fußball im arabischen Raum, aber auch weit darüber hinaus beschäftigen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2022Unter dem Zaster der Sand
Nur noch vier Wochen bis zum Anpfiff der WM in Qatar - höchste Zeit, sich eine solide Grundlage anzulesen. Die Kritik am Ausrichter überwiegt - aber nicht jedes Werk ist als Druck-Mittel angelegt.
Von Christoph Becker und Thomas Klemm
Wer erinnert sich an den Garcia-Report? An die Anklageschriften aus dem United States District Court, Eastern District of New York? An die ersten Berichte von Amnesty International, Human Rights Watch und anderen Menschenrechtsorganisationen? Oder die jüngsten, in den vergangenen Tagen erschienenen, da es noch genau vier Wochen sind, bis die Fußball-Weltmeisterschaft in Qatar angepfiffen wird? Ja, es gab schon das ein oder andere zu lesen zu diesem Turnier. Kein Wunder, bei der Wahl und der Vorbereitungsdauer. Zwölf Jahre sind vergangen, seit Joseph Blatter am 2. Dezember 2010 in Zürich den Umschlag öffnete und die Vergabe an Qatar bekannt gab. Jetzt, pünktlich zur Frankfurter Buchmesse, steht fest, wer es in den literarischen WM-Kader schafft.
Mega-Event in der Männerwelt
Sie sprechen mit qatarischen Ultras und verpassen dabei Pierre-Michel Lasogga. Sie segeln mit bestverdienenden Expats, die ihr Leben genießen, nichts von Sklavenarbeit hören wollen und über Journalisten schimpfen (bis sie sich als Journalisten zu erkennen geben). Sie treffen den Cousin des Rappers Massiv in einem Ramen-Restaurant in Doha, um dessen Geschichten über die Arbeit des Geheimdienstes der WM-Gastgeber auf Ed-Hardy-Modeschauen aufzuschreiben. Und dabei haben Robert Chatterjee und Leo Wigger in ihrem knappen, nur 150 Seiten dünnen "So eine WM gab es noch nie" gar kein klassisches Reportagebuch geschrieben. Es geht ihnen auch um das große Bild der qatarischen Strategie, Bedeutung und Einfluss über Investitionen zu sichern, und um die Probleme, die diese mit sich bringt. Aber die beiden Arabienexperten, die für das Zenith-Magazin arbeiten, belegen mit ihren Berichten aus Doha, aber auch aus Kairo, etwas sehr Grundsätzliches: den Wert journalistischer Neugier. Und sie stellen gleich zu Beginn eine wesentliche Frage: wie zeitgemäß sind Sport-Megaevents überhaupt noch - zumal wenn in Qatar "die Männerwelt des Fußballs auf die Männerwelt der Golfstaaten" trifft. Die Ultras des Absteigers Al Khor jedenfalls, so viel sei verraten, haben auf die neuen WM-Stadien so gar keine Lust.
Für eine Fußball-WM ohne Politik
Nicolas Fromm nimmt eine andere Perspektive auf den WM-Gastgeber ein. Und zwar eine, mit der er sich absetzen will von der Empörung über die Lage der Menschenrechte, die Leiden der Gastarbeiter und andere kritikwürdige Zustände in Qatar. Sein Anliegen ist es, so stellt der Hamburger Politikwissenschaftler von der Universität der Bundeswehr gleich am Anfang seines Buches "Katar. Sand, Geld und Spiele" klar, "der im Westen leider manchmal ignorant-überheblichen Berichterstattung einen sachlicheren Zugang gegenüberzustellen" und "sich bei der Analyse nicht mit dem Klischee der superreichen Ölscheichs zufrieden zu geben".
Obwohl man sich fragen kann, ob dieses Klischee nicht passé ist bei der geneigten Leserschaft eines solchen Buches: Es ist zunächst einmal ein hehres Ansinnen, über Land und Leute aufzuklären, den Aufstieg Qatars zum reichsten Landes der Erde zu beschreiben und die besondere Rolle des Wüstenstaats als diplomatischer Vermittler und politischer Brückenbauer zwischen dem Westen und der Golfregion nachzuvollziehen. Doch je länger die Lektüre des mit 170 Seiten ebenfalls recht schmalen Werkes dauert, desto mehr bestätigt sich ein Verdacht: Bei aller Sachlichkeit blickt Fromm allzu wohlwollend auf Qatar, wo die rund 75 000 Angehörigen der Al-Thani-Familie alles und die 90 Prozent Gastarbeiter unter den 2,8 Millionen Einwohnern nichts zu sagen haben.
Das Verdienst des Buches ist es, einen guten Überblick über Geschichte und Gegenwart des Golfstaates zu geben, der wegen seiner Gasvorkommen inzwischen auch ein gefragter Partner der Bundesregierung in der Energiekrise ist. Die Schattenseiten der riesigen Energiereserven und der weitgehend kostenlosen Stromversorgung verschweigt Fromm nicht: Fürs Energiesparen gibt es für Qatarer keinen Anreiz, sodass die Klimatisierung beispielsweise von Hochhäusern aus Glas und Kuhställen für einen extrem hohen CO2-Ausstoß sorgt. Qatar teilt sich mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) den 172. und damit letzten Platz in der Klimasünderrangliste.
Heikler wird es, wenn Fromm die "umtriebige Außenpolitik", zu der der Sport beiträgt, anerkennend beschreibt. Dass Qatar sein Image mit prestigeträchtigen Sportveranstaltungen wie dem jährlichen Diamond-League-Meeting oder der Weltmeisterschaft der Leichtathletik, Profitennisturnieren und dem Supercup der italienischen und spanischen Fußball-Ligen "nachhaltig verbessern" will, gehört zum Standardrepertoire jeder Analyse. Bedenken jedoch referiert Fromm eher knapp, mehr Wert legt er auf deren Zerstreuung: Sein einziges wörtliches Zitat zu Qatars expansivem Vorgehen im Sport ist der deutschen Sprinterin Gina Lückenkemper vorbehalten, die zugespitzt sagte: "Warum nehmen wir uns das Recht raus, anderen Nationen zu verbieten, solche Meisterschaften ausrichten zu dürfen?"
Bilanzierend offenbart Fromm eine Vision, die so auch in jedem WM-Werbeprospekt der FIFA stehen könnte: Qatar könne "nach Innen und Außen seine Weltoffenheit und internationale Wettbewerbsfähigkeit zeigen", "durch gelebte Gastfreundschaft und eine reibungslose WM Vorwürfe und Vorurteile" entkräften. Sodann: "Gäste und Gastgeber haben es weitgehend selbst in der Hand, die Veranstaltung zu entpolitisieren und die WM zu einem Vorbild der Weltoffenheit und des interkulturellen Austauschs zu machen." Spätestens an dieser Stelle fragt sich der kritische Leser, in welcher (Sport-)Welt der Autor lebt. Ein Land, das seit Jahren einen Sport-Botschafter im Außenministerium hat, versteht Sport immer politisch.
Vielfalt und Rivalität in Nahost
Wie sehr der Sport und insbesondere der Fußball Teil einer außenpolitischen Rivalität der Golfstaaten ist, zeigen zwei lesenswerte Bücher aus dem Werkstatt Verlag. Schon Anfang des Jahres erschien "Spielball der Scheichs" des Islamwissenschaftlers Jakob Krais, kürzlich folgte der von Jan Busse und René Wildangel herausgegebene Sammelband "Das rebellische Spiel". Thematisch bieten die Bücher jeweils eine tiefgründige Tour d'Horizon durch den Fußball im arabischen Raum, auch inhaltlich überschneiden sie sich stark. Leser können entscheiden, ob sie Analysen über den Fußball in Nordafrika und Nahost eher aus einer Hand präsentiert bekommen wollen wie von Krais oder aus verschiedenen Perspektiven und mit integrierten Kurztexten zu bedeutenden Spielern und Vereinen wie bei Busse/Wildangel.
In beiden Büchern gelingt es, Eigenheiten und Unterschiede der einzelnen Länder im arabischen Raum instruktiv herauszuarbeiten: welche Rolle der Fußball im Arabischen Frühling gespielt hat; warum Sunniten, Schiiten, Kurden und Christen im Irak Finalsiege gegen den Erzrivalen Saudi-Arabien gemeinsam feiern; wie regimekritisch die Ultra-Fans in Ägypten sind; wie Sportlerinnen und weibliche Fans in Iran um Gleichberechtigung kämpfen. Und man erfährt, dass den Golfstaaten nicht generell eine Fußballkultur abgesprochen werden sollte: In Bahrain lebt das Erbe der britischen Kolonisation fort, dort ist Kicken Breitensport. Immerhin seit rund fünfzig Jahren sind die Golfstaaten auch FIFA-Mitglieder und tragen Länderspiele aus. Vor allem aber gewinnt der Fußball seit rund zwanzig Jahren als "Soft-Power-Instrument", wie Busse und Wildangel es nennen, an Bedeutung: einerseits um zur Modernisierung der Gesellschaft beizutragen, andererseits um die Leute von den Alltagserschwernissen abzulenken - Opium fürs Wüstenvolk gewissermaßen.
Von herausragender Bedeutung ist der Wettstreit der Golfstaaten untereinander. Wie sehr sie sich dabei auszustechen versuchen, sich im Sport als globale Marke zu etablieren, zeigt sich vor allem am Fußball. Einerseits setzen die Scheichtümer Unsummen Geld ein, wie sich an ihren Lieblingsspielzeugen Manchester City (in Händen des Emirats Abu Dhabi) und Paris Saint-Germain (Eigentümer Qatar) ebenso zeigt wie am Sponsoring von Vereinen wie Real Madrid und dem FC Bayern. Andererseits versuchen sie, sich gegenseitig schlechtzumachen. "Dabei heißt es normalerweise: Qatar gegen den Rest", schreibt Krais. Das hat nach seiner Ansicht zwei Gründe: In der Region haben in der jüngeren Vergangenheit jüngere Herrscher die Macht übernommen und wollen Stärke zeigen. Zudem gehe es darum, "wer sich als modernster, exklusivster und generell erfolgreichster 'Mikrostaat' am Golf etabliert". Dass es dabei auch um Mauscheleien und Bestechung von Funktionären wie vor der WM-Vergabe 2010 geht, vollziehen beide Bücher in eigenen Kapiteln nach.
Sosehr Qatar als WM-Ausrichter den Nachbarn gegenwärtig den Rang abgelaufen hat: Das Turnier birgt für die Herrscherfamilie Al Thani auch Risiken. Ohne die Vergabe hätte sich der Rest der Welt weiter wenig um die Menschenrechtslage in Qatar geschert. Seit 2010 und vor allem nach Beginn der Stadionbauarbeiten jedoch wird genauer hingeschaut. Berichte und Proteste haben dazu geführt, dass sich die Lage der von qatarischen Bürgen abhängigen Arbeitsmigranten ein wenig verbessert hat. Ihre langen Arbeitszeiten unter harten Witterungsbedingungen bleiben aber herausfordernd, zudem müssen sie damit rechnen, dass sie ihre Löhne verspätet oder womöglich gar nicht bekommen, erläutert Regina Spöttl von Amnesty International in ihrem Beitrag zu "Das rebellische Spiel". Die Welt sollte laut Spöttl genau darauf achten, wie es auch nach der globalen Fußballmesse um die Menschenrechte bestellt sein wird: "Denn wenn nach der WM die Weltöffentlichkeit nicht mehr so konsequent nach Qatar schaut, wird die qatarische Wirtschaft noch immer in einem hohen Maße von der Arbeitsleistung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten abhängen."
Amnesty-Vertreterin Spöttl hält eine von Qatar ausgehende "Signalwirkung" auf die Golfstaaten durchaus für möglich. Auch Frauen und so manche Männer verbinden mit der WM eine Hoffnung auf Veränderung oder gar Mobilisierung am Golf. Der Journalist Robert Kempe, der im Sammelband über Qatar, FIFA und Korruption schreibt, gibt sich dagegen illusionslos: "Spätestens wenn die ganze Welt mit Spannung auf den Anpfiff des größten Sportereignisses blickt, werden die Vorwürfe wohl gänzlich in den Hintergrund treten."
Robert Chatterjee,
Leo Wigger: Katar 2022: So eine WM gab es noch nie
Deutscher Levante Verlag 2022, 152 Seiten, 14,90 Euro.
Jan Busse / René Wildangel (Hrsg.): Das rebellische Spiel. Die Macht des Fußballs im Nahen Osten und die Katar-WM
Verlag Die Werkstatt 2022, 272 Seiten, 22 Euro.
Jakob Krais: Spielball der Scheichs. Der arabische Fußball und die WM in Katar.
Verlag Die Werkstatt 2022, 256 Seiten, 19,90 Euro.
Nicolas Fromm: Katar.
Sand, Geld und Spiele
Verlag C.H.Beck 2022, 170 Seiten, 16,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nur noch vier Wochen bis zum Anpfiff der WM in Qatar - höchste Zeit, sich eine solide Grundlage anzulesen. Die Kritik am Ausrichter überwiegt - aber nicht jedes Werk ist als Druck-Mittel angelegt.
Von Christoph Becker und Thomas Klemm
Wer erinnert sich an den Garcia-Report? An die Anklageschriften aus dem United States District Court, Eastern District of New York? An die ersten Berichte von Amnesty International, Human Rights Watch und anderen Menschenrechtsorganisationen? Oder die jüngsten, in den vergangenen Tagen erschienenen, da es noch genau vier Wochen sind, bis die Fußball-Weltmeisterschaft in Qatar angepfiffen wird? Ja, es gab schon das ein oder andere zu lesen zu diesem Turnier. Kein Wunder, bei der Wahl und der Vorbereitungsdauer. Zwölf Jahre sind vergangen, seit Joseph Blatter am 2. Dezember 2010 in Zürich den Umschlag öffnete und die Vergabe an Qatar bekannt gab. Jetzt, pünktlich zur Frankfurter Buchmesse, steht fest, wer es in den literarischen WM-Kader schafft.
Mega-Event in der Männerwelt
Sie sprechen mit qatarischen Ultras und verpassen dabei Pierre-Michel Lasogga. Sie segeln mit bestverdienenden Expats, die ihr Leben genießen, nichts von Sklavenarbeit hören wollen und über Journalisten schimpfen (bis sie sich als Journalisten zu erkennen geben). Sie treffen den Cousin des Rappers Massiv in einem Ramen-Restaurant in Doha, um dessen Geschichten über die Arbeit des Geheimdienstes der WM-Gastgeber auf Ed-Hardy-Modeschauen aufzuschreiben. Und dabei haben Robert Chatterjee und Leo Wigger in ihrem knappen, nur 150 Seiten dünnen "So eine WM gab es noch nie" gar kein klassisches Reportagebuch geschrieben. Es geht ihnen auch um das große Bild der qatarischen Strategie, Bedeutung und Einfluss über Investitionen zu sichern, und um die Probleme, die diese mit sich bringt. Aber die beiden Arabienexperten, die für das Zenith-Magazin arbeiten, belegen mit ihren Berichten aus Doha, aber auch aus Kairo, etwas sehr Grundsätzliches: den Wert journalistischer Neugier. Und sie stellen gleich zu Beginn eine wesentliche Frage: wie zeitgemäß sind Sport-Megaevents überhaupt noch - zumal wenn in Qatar "die Männerwelt des Fußballs auf die Männerwelt der Golfstaaten" trifft. Die Ultras des Absteigers Al Khor jedenfalls, so viel sei verraten, haben auf die neuen WM-Stadien so gar keine Lust.
Für eine Fußball-WM ohne Politik
Nicolas Fromm nimmt eine andere Perspektive auf den WM-Gastgeber ein. Und zwar eine, mit der er sich absetzen will von der Empörung über die Lage der Menschenrechte, die Leiden der Gastarbeiter und andere kritikwürdige Zustände in Qatar. Sein Anliegen ist es, so stellt der Hamburger Politikwissenschaftler von der Universität der Bundeswehr gleich am Anfang seines Buches "Katar. Sand, Geld und Spiele" klar, "der im Westen leider manchmal ignorant-überheblichen Berichterstattung einen sachlicheren Zugang gegenüberzustellen" und "sich bei der Analyse nicht mit dem Klischee der superreichen Ölscheichs zufrieden zu geben".
Obwohl man sich fragen kann, ob dieses Klischee nicht passé ist bei der geneigten Leserschaft eines solchen Buches: Es ist zunächst einmal ein hehres Ansinnen, über Land und Leute aufzuklären, den Aufstieg Qatars zum reichsten Landes der Erde zu beschreiben und die besondere Rolle des Wüstenstaats als diplomatischer Vermittler und politischer Brückenbauer zwischen dem Westen und der Golfregion nachzuvollziehen. Doch je länger die Lektüre des mit 170 Seiten ebenfalls recht schmalen Werkes dauert, desto mehr bestätigt sich ein Verdacht: Bei aller Sachlichkeit blickt Fromm allzu wohlwollend auf Qatar, wo die rund 75 000 Angehörigen der Al-Thani-Familie alles und die 90 Prozent Gastarbeiter unter den 2,8 Millionen Einwohnern nichts zu sagen haben.
Das Verdienst des Buches ist es, einen guten Überblick über Geschichte und Gegenwart des Golfstaates zu geben, der wegen seiner Gasvorkommen inzwischen auch ein gefragter Partner der Bundesregierung in der Energiekrise ist. Die Schattenseiten der riesigen Energiereserven und der weitgehend kostenlosen Stromversorgung verschweigt Fromm nicht: Fürs Energiesparen gibt es für Qatarer keinen Anreiz, sodass die Klimatisierung beispielsweise von Hochhäusern aus Glas und Kuhställen für einen extrem hohen CO2-Ausstoß sorgt. Qatar teilt sich mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) den 172. und damit letzten Platz in der Klimasünderrangliste.
Heikler wird es, wenn Fromm die "umtriebige Außenpolitik", zu der der Sport beiträgt, anerkennend beschreibt. Dass Qatar sein Image mit prestigeträchtigen Sportveranstaltungen wie dem jährlichen Diamond-League-Meeting oder der Weltmeisterschaft der Leichtathletik, Profitennisturnieren und dem Supercup der italienischen und spanischen Fußball-Ligen "nachhaltig verbessern" will, gehört zum Standardrepertoire jeder Analyse. Bedenken jedoch referiert Fromm eher knapp, mehr Wert legt er auf deren Zerstreuung: Sein einziges wörtliches Zitat zu Qatars expansivem Vorgehen im Sport ist der deutschen Sprinterin Gina Lückenkemper vorbehalten, die zugespitzt sagte: "Warum nehmen wir uns das Recht raus, anderen Nationen zu verbieten, solche Meisterschaften ausrichten zu dürfen?"
Bilanzierend offenbart Fromm eine Vision, die so auch in jedem WM-Werbeprospekt der FIFA stehen könnte: Qatar könne "nach Innen und Außen seine Weltoffenheit und internationale Wettbewerbsfähigkeit zeigen", "durch gelebte Gastfreundschaft und eine reibungslose WM Vorwürfe und Vorurteile" entkräften. Sodann: "Gäste und Gastgeber haben es weitgehend selbst in der Hand, die Veranstaltung zu entpolitisieren und die WM zu einem Vorbild der Weltoffenheit und des interkulturellen Austauschs zu machen." Spätestens an dieser Stelle fragt sich der kritische Leser, in welcher (Sport-)Welt der Autor lebt. Ein Land, das seit Jahren einen Sport-Botschafter im Außenministerium hat, versteht Sport immer politisch.
Vielfalt und Rivalität in Nahost
Wie sehr der Sport und insbesondere der Fußball Teil einer außenpolitischen Rivalität der Golfstaaten ist, zeigen zwei lesenswerte Bücher aus dem Werkstatt Verlag. Schon Anfang des Jahres erschien "Spielball der Scheichs" des Islamwissenschaftlers Jakob Krais, kürzlich folgte der von Jan Busse und René Wildangel herausgegebene Sammelband "Das rebellische Spiel". Thematisch bieten die Bücher jeweils eine tiefgründige Tour d'Horizon durch den Fußball im arabischen Raum, auch inhaltlich überschneiden sie sich stark. Leser können entscheiden, ob sie Analysen über den Fußball in Nordafrika und Nahost eher aus einer Hand präsentiert bekommen wollen wie von Krais oder aus verschiedenen Perspektiven und mit integrierten Kurztexten zu bedeutenden Spielern und Vereinen wie bei Busse/Wildangel.
In beiden Büchern gelingt es, Eigenheiten und Unterschiede der einzelnen Länder im arabischen Raum instruktiv herauszuarbeiten: welche Rolle der Fußball im Arabischen Frühling gespielt hat; warum Sunniten, Schiiten, Kurden und Christen im Irak Finalsiege gegen den Erzrivalen Saudi-Arabien gemeinsam feiern; wie regimekritisch die Ultra-Fans in Ägypten sind; wie Sportlerinnen und weibliche Fans in Iran um Gleichberechtigung kämpfen. Und man erfährt, dass den Golfstaaten nicht generell eine Fußballkultur abgesprochen werden sollte: In Bahrain lebt das Erbe der britischen Kolonisation fort, dort ist Kicken Breitensport. Immerhin seit rund fünfzig Jahren sind die Golfstaaten auch FIFA-Mitglieder und tragen Länderspiele aus. Vor allem aber gewinnt der Fußball seit rund zwanzig Jahren als "Soft-Power-Instrument", wie Busse und Wildangel es nennen, an Bedeutung: einerseits um zur Modernisierung der Gesellschaft beizutragen, andererseits um die Leute von den Alltagserschwernissen abzulenken - Opium fürs Wüstenvolk gewissermaßen.
Von herausragender Bedeutung ist der Wettstreit der Golfstaaten untereinander. Wie sehr sie sich dabei auszustechen versuchen, sich im Sport als globale Marke zu etablieren, zeigt sich vor allem am Fußball. Einerseits setzen die Scheichtümer Unsummen Geld ein, wie sich an ihren Lieblingsspielzeugen Manchester City (in Händen des Emirats Abu Dhabi) und Paris Saint-Germain (Eigentümer Qatar) ebenso zeigt wie am Sponsoring von Vereinen wie Real Madrid und dem FC Bayern. Andererseits versuchen sie, sich gegenseitig schlechtzumachen. "Dabei heißt es normalerweise: Qatar gegen den Rest", schreibt Krais. Das hat nach seiner Ansicht zwei Gründe: In der Region haben in der jüngeren Vergangenheit jüngere Herrscher die Macht übernommen und wollen Stärke zeigen. Zudem gehe es darum, "wer sich als modernster, exklusivster und generell erfolgreichster 'Mikrostaat' am Golf etabliert". Dass es dabei auch um Mauscheleien und Bestechung von Funktionären wie vor der WM-Vergabe 2010 geht, vollziehen beide Bücher in eigenen Kapiteln nach.
Sosehr Qatar als WM-Ausrichter den Nachbarn gegenwärtig den Rang abgelaufen hat: Das Turnier birgt für die Herrscherfamilie Al Thani auch Risiken. Ohne die Vergabe hätte sich der Rest der Welt weiter wenig um die Menschenrechtslage in Qatar geschert. Seit 2010 und vor allem nach Beginn der Stadionbauarbeiten jedoch wird genauer hingeschaut. Berichte und Proteste haben dazu geführt, dass sich die Lage der von qatarischen Bürgen abhängigen Arbeitsmigranten ein wenig verbessert hat. Ihre langen Arbeitszeiten unter harten Witterungsbedingungen bleiben aber herausfordernd, zudem müssen sie damit rechnen, dass sie ihre Löhne verspätet oder womöglich gar nicht bekommen, erläutert Regina Spöttl von Amnesty International in ihrem Beitrag zu "Das rebellische Spiel". Die Welt sollte laut Spöttl genau darauf achten, wie es auch nach der globalen Fußballmesse um die Menschenrechte bestellt sein wird: "Denn wenn nach der WM die Weltöffentlichkeit nicht mehr so konsequent nach Qatar schaut, wird die qatarische Wirtschaft noch immer in einem hohen Maße von der Arbeitsleistung von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten abhängen."
Amnesty-Vertreterin Spöttl hält eine von Qatar ausgehende "Signalwirkung" auf die Golfstaaten durchaus für möglich. Auch Frauen und so manche Männer verbinden mit der WM eine Hoffnung auf Veränderung oder gar Mobilisierung am Golf. Der Journalist Robert Kempe, der im Sammelband über Qatar, FIFA und Korruption schreibt, gibt sich dagegen illusionslos: "Spätestens wenn die ganze Welt mit Spannung auf den Anpfiff des größten Sportereignisses blickt, werden die Vorwürfe wohl gänzlich in den Hintergrund treten."
Robert Chatterjee,
Leo Wigger: Katar 2022: So eine WM gab es noch nie
Deutscher Levante Verlag 2022, 152 Seiten, 14,90 Euro.
Jan Busse / René Wildangel (Hrsg.): Das rebellische Spiel. Die Macht des Fußballs im Nahen Osten und die Katar-WM
Verlag Die Werkstatt 2022, 272 Seiten, 22 Euro.
Jakob Krais: Spielball der Scheichs. Der arabische Fußball und die WM in Katar.
Verlag Die Werkstatt 2022, 256 Seiten, 19,90 Euro.
Nicolas Fromm: Katar.
Sand, Geld und Spiele
Verlag C.H.Beck 2022, 170 Seiten, 16,95 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main