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Produktdetails
  • Verlag: Murmann Publishers
  • Seitenzahl: 302
  • Abmessung: 225mm
  • Gewicht: 513g
  • ISBN-13: 9783932425004
  • Artikelnr.: 07082972
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

Man weiß so wenig
Doch wir bringen den Zufall zu Fall / Von Ernst Horst

Rein genetisch ist der Mensch bestens zur Auerochsenjagd und zu ähnlichen Tätigkeiten geeignet. Die Evolution hat dafür gesorgt, daß er in der Lage ist, ohne lange zu überlegen, sofort zu entscheiden, welches Risiko er sinnvollerweise eingehen darf, um sich einen saftigen Spießbraten zu sichern. Wenn er dabei noch nachdenken müßte, wäre sein Abendessen längst am Horizont verschwunden. Leider ist die Evolution etwas langsam. Bis wir in der Lage sein werden, mit derselben Effizienz Auto zu fahren, mit der wir Auerochsen jagen könnten, dürfte der letzte Tropfen Erdöl längst in Treibhausgas umgewandelt sein. Die natürliche Auslese findet auf unseren Autobahnen zwar offensichtlich statt, hat aber ihr Ziel noch nicht erreicht. Immer öfter müssen wir in unseren Industriegesellschaften Entscheidungen mit dem Gehirn statt mit dem Rückenmark treffen. Ein Instrument dazu ist die Wahrscheinlichkeitstheorie. Die Ministerin, die neue Atomkraftwerke fordert, der Manager, der die vierhunderteinundneunzigste Kaugummisorte auf den Markt wirft, die Hausfrau, die im Supermarkt billiges Rindfleisch einkauft, der Freier, der kein Präservativ verwendet; sie alle wären gut beraten, Wahrscheinlichkeits-Überlegungen anzustellen.

Darum besteht ein offensichtlicher Bedarf für Bücher, die dem Nichtfachmann kompetent erklären, wie er Risiken vernünftig abwägt. Das Buch von Didier Dacunha-Castelle ist aber leider kein solcher Ratgeber. Für Laien ist es sehr wohl geschrieben. Es hält sich an die bekannte Regel, daß jede mathematische Formel die verkaufte Auflage halbiert. Leider mißachtet es die andere Maxime, daß sich aufregende Bücher besser verkaufen als fade. Wenn Richard Dawkins ein neues Buch geschrieben hat, nimmt man sich vor, im nächsten Leben Biologe zu werden, und sei es auch nur, um seine gewagteren Theorien zu widerlegen. Das vorliegende Buch erzeugt keine solche Begeisterung. Es plätschert mehr so dahin. Der Herr Professor führt seine Besucher Stockwerk für Stockwerk durch seinen geliebten Elfenbeinturm. Kenntnisreich erläutert er viele architektonische Einzelheiten, immer darauf bedacht, mit seinen Erklärungen nicht zu überfordern. Manchmal sieht man durch eines der vielen kleinen Fenster eine aufregende Szene im Freien. Diese wird mit zwei, drei Sätzen kurz abgehandelt, dann folgt schon das nächste Thema.

Wie die gallische Heimat des Autors zerfällt das Buch in drei Teile. Der erste Teil "Mathematik des Zufalls" führt in das Thema ein. Die Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird gestreift, dann folgt die Erläuterung der wichtigsten Konzepte. Hier hätte man schön ein paar konkrete, lehrreiche Beispiele einflechten können. Es gibt doch genug Zahlenmaterial. Machen wir doch, ohne lange zu überlegen, einen Vorschlag, damit klar wird, was wir vermissen: Man zeichne Kurven der Schuhgröße von kanadischen Rekruten, der Samenzahl von belgischen Löwenzahnpflanzen und der Regierungszeit von sumerischen Königen. Dann vergleiche man mit der zugehörigen Glockenkurve. Entweder hat man eine gute Übereinstimmung, oder man versucht zu begründen, warum nicht. Auf jeden Fall hat sich der Leser dann für den Rest seines Lebens das Prinzip der gaußschen Normalverteilung gemerkt.

Im zweiten Teil "Zufall und Gesellschaft" geht es um das Risiko, insonderheit in der Medizin, um Versicherungen, um Börse und Finanz und um unberechenbare Risiken. Und wieder wurden viele interessante Themen verschenkt. Warum erfahren wir beispielsweise nicht mehr über Aids? Entsprechende Forschungsarbeiten gibt es ja. Wie groß ist das Risiko, aufgeschlüsselt nach Heimatland, Geschlecht, sexueller Neigung oder was auch immer? Wie könnte sich die Epidemie vielleicht entwickeln? Natürlich sind Faktoren wie die Entdeckung neuer Medikamente nicht kalkulierbar, aber auch aus unzutreffenden Prognosen kann man lernen. Apropos unzutreffende Prognosen: Der Rasmussen-Report über die Gefahren der Atomenergie (1975, vor Three Mile Island und Tschernobyl) war ja wohl sehr optimistisch. Könnte man daran nicht zeigen, wie irreale Annahmen zu absurden Ergebnissen führen (garbage in, garbage out)?

Teil drei "Information und kulturelle Dimension des Zufalls" beschäftigt sich dann noch mit verwandten Begriffen wie Information, Komplexität und Entropie. Der Stellenwert der Wahrscheinlichkeitstheorie in der Mathematik der Vergangenheit und Gegenwart wird beschrieben. Und im Epilog "Anstiftung zu einer Pädagogik des Zufalls" wird der berechtigte Wunsch geäußert, daß die Politiker und die Studenten doch fundiertere Kenntnisse über Wahrscheinlichkeitstheorie erwerben mögen.

Dazu müßte man sie interessanter präsentieren. Zum Beispiel wird das Lottospiel kurz gestreift. Der Großteil der Bevölkerung hält die Zahlenkombination "1, 2, 3, 4, 5, 6" für extrem unwahrscheinlich und würde sie nie spielen. In Wirklichkeit ist sie natürlich genauso wahrscheinlich wie jede andere auch. Allerdings ist es naiv, wie der Autor zu glauben, man sollte diese Zahlen gerade deshalb verwenden, weil man dann mit höheren Quoten rechnen kann. Es gibt nämlich zu viele andere, etwas aufgeklärtere Spieler, die genauso denken. Der nächste Schritt wäre, Zahlen zu tippen, die dem naiven Spieler zwar auch unwahrscheinlich erscheinen, aber doch etwas weniger unwahrscheinlich. Man denkt vielleicht an "27, 28, 29, 30, 31, 32" oder "1, 2, 4, 5, 7, 8", nur gibt es gar nicht so viele von diesen Kombinationen. Man müßte also wissen, wie hoch der Anteil der "nicht naiven" Spieler ist, um abzuschätzen, ob eine solche Strategie erfolgversprechend ist.

Die Situation wird weiter dadurch kompliziert, daß viele Spieler Geburtsdaten spielen, was eine besondere Häufigkeit der Zahlen bis 31 bewirkt. Manch einer spielt die niederländischen Zahlen der Vorwoche. Weiterhin gelten die Zahlen als besonders erfolgversprechend, die lange nicht gezogen wurden, was mit Verlaub ein totaler Blödsinn ist. Kurz und gut, man könnte ein ganzes Kapitel mit nichttrivialen Überlegungen zum Lottospiel füllen. Dacunha-Castelle macht das aber nicht.

Das Lottospiel ist nämlich kein Pflichtthema für ein solches Buch. Man könnte, um ein weiteres Beispiel zu nennen, auch über das Casinospiel Blackjack schreiben. Dabei handelt es sich um den seltenen Fall, daß der Spieler bei einer optimalen Strategie der Spielbank überlegen ist. Allerdings muß man so komplizierte Berechnungen im Kopf durchführen, daß kaum jemand dazu in der Lage ist. Es gibt sie aber, die Spieler, die auf diese Art ihren Lebensunterhalt verdienen, bis sie irgendwann in allen Casinos Hausverbot haben. Solche Geschichten erfreuen das Herz des Lesers, und er lernt etwas dabei.

F ür den Dauphin, den Sohn Ludwigs XIV., wurden die Bücher, mit denen man ihn unterrichtete, sorgfältig vereinfacht und gereinigt. Man nannte das "ad usum delphini". Bei Erwachsenen ist von dieser pädagogischen Methode eher abzuraten. Der Rezensent wagt die Prognose, daß von den 97,3 Prozent der Käufer des Buchs, die diese Besprechung nicht gelesen haben, 64,1 Prozent die Lektüre wenig fasziniert beenden werden.

Didier Dacunha-Castelle: "Spiele des Zufalls". Instrumente zum Umgang mit Risiken. Aus dem Französischen von Bernd Wilczek. Gerling Akademie Verlag, München 1997. 304 S., geb., 59,- DM.

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