Wie hängt die private Geschichte mit dem Lauf der Welt zusammen?
Katja ist eine erfolgreiche Fotojournalistin: Bilder von privaten Dramen inmitten gesellschaftlicher Umbrüche haben sie berühmt gemacht. Jetzt, nach 20 Jahren des Reisens, ist sie ihresBerufs müde, und sie bemerkt, wie sehr auch ihr eigenes Leben von der großen Geschichte bestimmt wurde: von dem Geiseldrama bei den Olympischen Spielen in München, 1972. "Spiele" entwirft ein großes, hinreißend atmosphärisches Gesellschaftspanorama. Mitten darin und von den weltgeschichtlichen Ereignissen auf verblüffende Weise mitbestimmt: die virtuos erzählte Geschichte einer zarten, verhinderten Liebe.
München 1972 - für die 13jährige Katja eine spannende Zeit: Alles ist neu, die U-Bahn, die fremden Menschen, die vielen Sportübertragungen im geliehenen Fernseher. Und über allem das strahlende Münchner Föhn-Wetter. Doch auf einmal ist alles anders - der Vater hat eine neue Frau, und Max, den sie doch eigentlich so gerne mag, hat si
Katja ist eine erfolgreiche Fotojournalistin: Bilder von privaten Dramen inmitten gesellschaftlicher Umbrüche haben sie berühmt gemacht. Jetzt, nach 20 Jahren des Reisens, ist sie ihresBerufs müde, und sie bemerkt, wie sehr auch ihr eigenes Leben von der großen Geschichte bestimmt wurde: von dem Geiseldrama bei den Olympischen Spielen in München, 1972. "Spiele" entwirft ein großes, hinreißend atmosphärisches Gesellschaftspanorama. Mitten darin und von den weltgeschichtlichen Ereignissen auf verblüffende Weise mitbestimmt: die virtuos erzählte Geschichte einer zarten, verhinderten Liebe.
München 1972 - für die 13jährige Katja eine spannende Zeit: Alles ist neu, die U-Bahn, die fremden Menschen, die vielen Sportübertragungen im geliehenen Fernseher. Und über allem das strahlende Münchner Föhn-Wetter. Doch auf einmal ist alles anders - der Vater hat eine neue Frau, und Max, den sie doch eigentlich so gerne mag, hat si
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2005In München geschah es
Ulrike Draesner gräbt nach den Wurzeln des globalen Terrorismus
Um Gottes willen, lacht Max' Mutter: "warum denn das? Andere in deinem Alter demonstrieren auf der Straße gegen den Staat ... - und du willst zur Polizei?" Max aber hängt das "Jeder-darf-was-er-will" seiner Eltern aus dem Hals, außerdem gefällt ihm die Uniform. Bald trägt er sie stolz. Max, ein junger Mann, der die Tiere liebt und das Schachspielen - und Katja, für die er sogar ein barockes Liebesgedicht abschreibt, in dem es von der Liebe heißt, sie "sey ein Crocodil". Aber so etwas finden die meisten in dem Alter blöd und "völlig daneben", leider auch Katja.
Weil das alles nicht gutgehen kann, erfährt Max die gleich zweifache Katastrophe: von der frühpubertierenden Geliebten wird er verraten, in eine Falle gelockt; ohne Hose steht er vor ihr und den Gleichaltrigen da. Und bei seinem ersten Großeinsatz als Polizist wird Max verwundet: Schüsse ins Bein, auch die kommen von den eigenen Leuten. Sie treffen ihn auf dem Flughafen von Fürstenfeldbruck, in der Nacht des 5. September 1972, bei dem gescheiterten Versuch, die von der PLO-Gruppe "Schwarzer September" zuvor im Olympiadorf genommenen israelischen Geiseln zu befreien. Die Nachtausgaben der Zeitungen brachten damals zuerst die Wunschmeldung: alle Geiseln seien befreit, alle Terroristen tot.
Als sich das Dunkel verzieht, wird dann die wahre Bilanz des größten Desasters der deutschen Polizei sichtbar: alle Geiseln tot, fünf Terroristen tot, drei gefangen. Das ist die Nachricht. Daneben bleibt unbeachtet, wie ein "auszubildender Polizist mitten im Kugelhagel zwischen Scharfschützen und Geiselnehmern über das Flugfeld rannte, hin und her wie ein aufgescheuchter Hase, eine vom Licht der brennenden Hubschrauber grell beleuchtete Gestalt".
Max überlebt beide Verletzungen, ein Hinkefuß bleibt. Er verläßt den Polizeidienst, studiert Biologie, gründet eine Familie und wird "Elefantenkoordinator" in Rotterdam. Was das für eine Funktion ist, bleibt ein wenig rätselhaft. Max' Funktion in Ulrike Draesners drittem, bisher umfangreichstem Roman dagegen ist deutlich. Am Fall des unglücklichen Jugendfreunds kann nämlich Katja, inzwischen eine erfolgreiche Fotoreporterin, die Gültigkeit eines "Familienmantras" erforschen.
Jozef, ihr aus Schlesien heimatvertriebener Großvater und Sammler von Zuckerstückchen, hat es formuliert: "Die große und die kleine Geschichte kümmern sich nicht umeinander, sie durchdringen sich bloß." Am Ende ihrer Recherche weiß Katja es genauer: "Jedes Durchdringen schließt Berührung ein, bedeutet Veränderung ... Das ,Unglück' im September 1972 war kein Unglück, ... sondern eine unwahrscheinliche Mischung aus exakter Planung, grober Nachlässigkeit, heiterer Sorglosigkeit; ein riesiges Puzzle mit einem Loch in der Mitte." Indem Katja die Ereignisse vom Sommer '72 rekonstruiert, kann sie schließlich ihre Schuld an Max' Unglück bestimmen: Wenn sie ihn nicht verraten hätte, wäre er nicht zur Polizei gegangen und nicht in das Schußfeld der "großen" Geschichte geraten. Dreißig Jahre danach kann sie sich entschuldigen, sie weiß jetzt, wofür. Ein knappes Telefonat; das Ergebnis ist typisch für die Ambivalenzen, die hier herrschen. Halb nimmt er die Entschuldigung an, halb läßt er sie abblitzen.
Mit erzählerischem Dispositionsgeschick entfaltet Ulrike Draesner die komplexen Verknotungs- und Durchdringungsverhältnisse von Privatgeschichte und Historie. Der 5. September 1972 war der Tag, an dem die "heiteren" Spiele von München zum Albtraum wurden. Die Fernsehbilder der vermummten Terroristen ("ob der Mann in der Maske wohl schwitzte? Es war warm.") überblenden sich für Katja mit dem skeptischen Blick auf die neue Freundin des Vaters, der quälenden Ungewißheit über den Unfalltod der Mutter. Als die Geiselnehmer in das Olympische Dorf eindrangen, war für sie "die Kindheit zu Ende. Sie wußte, daß das eine Konstruktion war, die Konstruktion entsprach ihrem Bedürfnis nach einer klaren Grenze, und Katja kam zupaß, daß die Grenze ein Datum im kollektiven Gedächtnis trug, der 5. September 1972, der dunkle Tag."
Aber: "The games must go on", hatte IOC-Präsident Avery Brundage damals gesagt. Sie gingen weiter bis zur Abschlußfeier. Da näherte sich dem vollbesetzten Olympiastadion, von Augsburg kommend, ein nicht identifizierbares Flugobjekt. Stadionsprecher Joachim Fuchsberger und August Everding, der Regisseur der Feier, entschieden, nichts zu sagen, um eine Panik zu verhindern. Es handelte sich um eine verirrte finnische Privatmaschine. Dies geschah am 11. September.
Auf die zahlenmystischen Operationen, die Draesner hier bemüht, könnte man gut verzichten und wird kaum bezweifeln: Mit "München" ("Munich" in Steven Spielbergs kommender Filmfassung des Stoffs) begann die Geschichte des globalen Terrorismus, es war das Ende der Heiterkeit nicht nur dieser Olympischen Spiele. Wer Zusammenhänge sucht, findet sie. So gelangt auch irgendwann Katja bei einem Informanten in Hongkong in den Besitz einer erstklassigen (und schon in Alan Dershowitz' "Why terrorism works" nachzulesenden) Verschwörungstheorie, nach der die Entführung einer Lufthansa-Maschine im Oktober des Jahres, bei der die festgenommenen PLO-Kämpfer freigepreßt wurden, in Absprache zwischen der israelischen und der deutschen Seite inszeniert war, um die heiklen Gefangenen loszuwerden und sie für die Mordkommandos des israelischen Geheimdienstes erreichbar zu machen. Sogar die PLO soll das Spiel mitgespielt haben.
So hilft am Ende der vielleicht etwas zu langen, etwas zu ambitionierten Romankonstruktion der Politthriller dem trotz gutem Sex mit einem Bibliothekar namens "Soysal" und trotz manch schöner Siebziger-Jahre-Details ermattenden Erzählfluß wieder auf. Bisweilen ist der ehrgeizige geschichts- und existenzphilosophische Diskurs etwas angestrengt mit Alltag und Lebenswirklichkeit perforiert. Derlei geht bekanntermaßen auch bei Thomas Mann nicht immer gut. Draesners "Spiele" ist eine imponierend souverän gelegte Roman-Patience. Nur daß sie allzu glatt aufgeht. Ganz am Schluß läßt Katja ihren bis dahin stets streng geschlossenen BH fallen, und das auf offener Straße. Ein schöner Moment der Befreiung, ein bißchen spät.
HOLGER NOLTZE
Ulrike Draesner: "Spiele". Roman. Luchterhand Literaturverlag. München 2005. 494 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulrike Draesner gräbt nach den Wurzeln des globalen Terrorismus
Um Gottes willen, lacht Max' Mutter: "warum denn das? Andere in deinem Alter demonstrieren auf der Straße gegen den Staat ... - und du willst zur Polizei?" Max aber hängt das "Jeder-darf-was-er-will" seiner Eltern aus dem Hals, außerdem gefällt ihm die Uniform. Bald trägt er sie stolz. Max, ein junger Mann, der die Tiere liebt und das Schachspielen - und Katja, für die er sogar ein barockes Liebesgedicht abschreibt, in dem es von der Liebe heißt, sie "sey ein Crocodil". Aber so etwas finden die meisten in dem Alter blöd und "völlig daneben", leider auch Katja.
Weil das alles nicht gutgehen kann, erfährt Max die gleich zweifache Katastrophe: von der frühpubertierenden Geliebten wird er verraten, in eine Falle gelockt; ohne Hose steht er vor ihr und den Gleichaltrigen da. Und bei seinem ersten Großeinsatz als Polizist wird Max verwundet: Schüsse ins Bein, auch die kommen von den eigenen Leuten. Sie treffen ihn auf dem Flughafen von Fürstenfeldbruck, in der Nacht des 5. September 1972, bei dem gescheiterten Versuch, die von der PLO-Gruppe "Schwarzer September" zuvor im Olympiadorf genommenen israelischen Geiseln zu befreien. Die Nachtausgaben der Zeitungen brachten damals zuerst die Wunschmeldung: alle Geiseln seien befreit, alle Terroristen tot.
Als sich das Dunkel verzieht, wird dann die wahre Bilanz des größten Desasters der deutschen Polizei sichtbar: alle Geiseln tot, fünf Terroristen tot, drei gefangen. Das ist die Nachricht. Daneben bleibt unbeachtet, wie ein "auszubildender Polizist mitten im Kugelhagel zwischen Scharfschützen und Geiselnehmern über das Flugfeld rannte, hin und her wie ein aufgescheuchter Hase, eine vom Licht der brennenden Hubschrauber grell beleuchtete Gestalt".
Max überlebt beide Verletzungen, ein Hinkefuß bleibt. Er verläßt den Polizeidienst, studiert Biologie, gründet eine Familie und wird "Elefantenkoordinator" in Rotterdam. Was das für eine Funktion ist, bleibt ein wenig rätselhaft. Max' Funktion in Ulrike Draesners drittem, bisher umfangreichstem Roman dagegen ist deutlich. Am Fall des unglücklichen Jugendfreunds kann nämlich Katja, inzwischen eine erfolgreiche Fotoreporterin, die Gültigkeit eines "Familienmantras" erforschen.
Jozef, ihr aus Schlesien heimatvertriebener Großvater und Sammler von Zuckerstückchen, hat es formuliert: "Die große und die kleine Geschichte kümmern sich nicht umeinander, sie durchdringen sich bloß." Am Ende ihrer Recherche weiß Katja es genauer: "Jedes Durchdringen schließt Berührung ein, bedeutet Veränderung ... Das ,Unglück' im September 1972 war kein Unglück, ... sondern eine unwahrscheinliche Mischung aus exakter Planung, grober Nachlässigkeit, heiterer Sorglosigkeit; ein riesiges Puzzle mit einem Loch in der Mitte." Indem Katja die Ereignisse vom Sommer '72 rekonstruiert, kann sie schließlich ihre Schuld an Max' Unglück bestimmen: Wenn sie ihn nicht verraten hätte, wäre er nicht zur Polizei gegangen und nicht in das Schußfeld der "großen" Geschichte geraten. Dreißig Jahre danach kann sie sich entschuldigen, sie weiß jetzt, wofür. Ein knappes Telefonat; das Ergebnis ist typisch für die Ambivalenzen, die hier herrschen. Halb nimmt er die Entschuldigung an, halb läßt er sie abblitzen.
Mit erzählerischem Dispositionsgeschick entfaltet Ulrike Draesner die komplexen Verknotungs- und Durchdringungsverhältnisse von Privatgeschichte und Historie. Der 5. September 1972 war der Tag, an dem die "heiteren" Spiele von München zum Albtraum wurden. Die Fernsehbilder der vermummten Terroristen ("ob der Mann in der Maske wohl schwitzte? Es war warm.") überblenden sich für Katja mit dem skeptischen Blick auf die neue Freundin des Vaters, der quälenden Ungewißheit über den Unfalltod der Mutter. Als die Geiselnehmer in das Olympische Dorf eindrangen, war für sie "die Kindheit zu Ende. Sie wußte, daß das eine Konstruktion war, die Konstruktion entsprach ihrem Bedürfnis nach einer klaren Grenze, und Katja kam zupaß, daß die Grenze ein Datum im kollektiven Gedächtnis trug, der 5. September 1972, der dunkle Tag."
Aber: "The games must go on", hatte IOC-Präsident Avery Brundage damals gesagt. Sie gingen weiter bis zur Abschlußfeier. Da näherte sich dem vollbesetzten Olympiastadion, von Augsburg kommend, ein nicht identifizierbares Flugobjekt. Stadionsprecher Joachim Fuchsberger und August Everding, der Regisseur der Feier, entschieden, nichts zu sagen, um eine Panik zu verhindern. Es handelte sich um eine verirrte finnische Privatmaschine. Dies geschah am 11. September.
Auf die zahlenmystischen Operationen, die Draesner hier bemüht, könnte man gut verzichten und wird kaum bezweifeln: Mit "München" ("Munich" in Steven Spielbergs kommender Filmfassung des Stoffs) begann die Geschichte des globalen Terrorismus, es war das Ende der Heiterkeit nicht nur dieser Olympischen Spiele. Wer Zusammenhänge sucht, findet sie. So gelangt auch irgendwann Katja bei einem Informanten in Hongkong in den Besitz einer erstklassigen (und schon in Alan Dershowitz' "Why terrorism works" nachzulesenden) Verschwörungstheorie, nach der die Entführung einer Lufthansa-Maschine im Oktober des Jahres, bei der die festgenommenen PLO-Kämpfer freigepreßt wurden, in Absprache zwischen der israelischen und der deutschen Seite inszeniert war, um die heiklen Gefangenen loszuwerden und sie für die Mordkommandos des israelischen Geheimdienstes erreichbar zu machen. Sogar die PLO soll das Spiel mitgespielt haben.
So hilft am Ende der vielleicht etwas zu langen, etwas zu ambitionierten Romankonstruktion der Politthriller dem trotz gutem Sex mit einem Bibliothekar namens "Soysal" und trotz manch schöner Siebziger-Jahre-Details ermattenden Erzählfluß wieder auf. Bisweilen ist der ehrgeizige geschichts- und existenzphilosophische Diskurs etwas angestrengt mit Alltag und Lebenswirklichkeit perforiert. Derlei geht bekanntermaßen auch bei Thomas Mann nicht immer gut. Draesners "Spiele" ist eine imponierend souverän gelegte Roman-Patience. Nur daß sie allzu glatt aufgeht. Ganz am Schluß läßt Katja ihren bis dahin stets streng geschlossenen BH fallen, und das auf offener Straße. Ein schöner Moment der Befreiung, ein bißchen spät.
HOLGER NOLTZE
Ulrike Draesner: "Spiele". Roman. Luchterhand Literaturverlag. München 2005. 494 S., geb., 21,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2005Der Tod spielt mit
Warum sich die Autorin Ulrike Draesner in ihrem neuen Roman mit dem Münchner Attentat von 1972 beschäftigt
Es gibt viele gute Gründe für eine weite Reise. Das Bedürfnis, etwas hinter sich zu lassen etwa. Oder die heimliche Hoffnung, man selbst könne an einem fremden Ort ein Anderer werden. Ist man wieder zurück, hat man meist das Gefühl, dass nichts mehr so ist, wie es vorher war. Dass der Bäcker um die Ecke zwar morgens noch grantelt wie immer, und der Kirchturm nebenan noch genauso hoch in den Himmel ragt - aber man selbst wird den Abstand nicht los und fühlt sich irgendwie fremd in der Umgebung, in der man doch zu Hause ist. Eine solche Rückkehr erlebt Katja, die Protagonistin in Ulrike Draesners neuem Roman „Spiele”, aus dem die Autorin morgen um 20 Uhr im Literaturhaus liest.
Im Mittelpunkt des Romans steht das Geiseldrama bei den Olympischen Spielen 1972. Die Fotojournalistin Katja macht sich 2002, nach Jahren im Ausland, auf die Suche nach ihrer Identität und fährt in ihre Geburtsstadt München. Ihre erste große Liebe, der Polizist Max, wurde bei dem Großeinsatz auf dem Flughafen in Fürstenfeldbruck lebensgefährlich verletzt. Sie selbst plagten damals Schuldgefühle, die Flucht war ihre Konsequenz, die verlorene Liebe ein Bruch in ihrem Leben. Nun, als reife Frau, beschließt sie, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.
Dass die gebürtige Münchnerin Ulrike Draesner, die seit zehn Jahren in Berlin lebt, sich mit ihrem neuesten Werk auf heimisches Terrain begibt, ist kein Zufall. „Ich glaube, dieser Stoff war mir einfach mit auf den Weg gegeben”, sagt sie und versucht, sich bei einer Tasse Tee in ihrer Altbau-Wohnung in Prenzlauer Berg zu erinnern, was sie als Zehnjährige mitbekommen hat von den Ereignissen im Herbst 1972. „Als ich in Planegg in die Schule kam, hatten die Straßen noch keinen Asphalt und man musste Stunden auf den Zug warten. Mit den Spielen kamen die U- und die S-Bahn, für mich war das eine einschneidende technische Neuerung, fast so wie bei meiner Großmutter das erste Telefon.” Hat sie verstanden, was damals passierte? „Nein, als Kind ging ich vor dem Attentat ins Bett, und am nächsten Morgen hatten alle Erwachsenen lange Gesichter. Es fielen Worte wie Palästina und Israel, für mich waren das nur historische Begriffe aus dem Religionsunterricht. Das einzige, was ich gespürt habe, war, dass die Erwachsenen, die einen beschützen sollten, mir selbst schutzlos vorkamen.”
Der Anschlag auf die Sportler war eine unerhörte Begebenheit: Alle israelischen Geiseln zahlten mit ihrem Leben für den Beginn des globalisierten Terrors - eigentlich ein perfektes Novellenthema. Warum entschied sich Ulrike Draesner für einen mehr als 400 Seiten starken Roman? „Ich wollte zeigen, wie ein politischer Konflikt die Lebensläufe der Menschen verändert”, so Draesner. Die Geschichte ist deshalb auch eher eine komplizierte Familiensaga mit vielen verwirrenden Rückblenden als ein fesselnder Thriller.
Und wie immer, wenn es um Familien geht, spielt der Begriff Heimat eine große Rolle. „Heimat ist, wo Du nicht erklären musst, wer Du bist. Weil sie glauben, Dich zu kennen”, sagt Katja einmal. Ulrike Draesner hat ihre Heimat München aus genau diesem Grund verlassen. Weil es ihr „zu eng” wurde, sie lieber anonymer lebt in Berlin, wo keiner sie auf der Straße erkennt. „Ich hatte nie ein ungebrochenes Heimatverhältnis. Mein Vater war nach dem Krieg aus Schlesien nach Bayern geflohen, er gehörte nicht richtig dazu. Und ich als Mädchen sprach nicht bayerisch und war protestantisch. Da fühlte man sich schnell als Ausländerin.”
War das Schreiben eine Vergangenheitsbewältigung? „Jein. Ähnlich wie Katja frage ich mich heute, nach jahrelanger Abwesenheit: Was ist das eigentlich für ein Ort, aus dem ich komme? München, die ,Weltstadt mit Herz, hat schon immer versucht, ein positives Bild von sich zu präsentieren. Das Bedürfnis, vor der Welt gut dazustehen ist ein Effekt der globalisierten Medialität von Gesellschaft. Bei den Spielen 1972 standen dahinter klare wirtschaftliche Interessen: Man investierte Geld in das Bild einer freundlichen Stadt, und durch die Ausstrahlung in die Welt hoffte man, Investoren anzulocken.” Der Image-Schaden nach dem Terror war enorm. Und die Behörden verbreiteten allzu schnell die Falschmeldung, alle Geiseln seien frei. Dass vieles beim Polizeieinsatz schief lief, passte nicht zu der Rolle Münchens als perfekter Gastgeber für Sportler und Besucher aus aller Welt.
Auch naheliegende Vergleiche zum 11. September zieht das Buch. „1972 war zum ersten Mal klar, dass man als Terrorist dahin gehen muss, wo man gerade die größte Aufmerksamkeit der Medien bekommt”, sagt Ulrike Draesner. Im Gegensatz zur Berichterstattung nach Nine Eleven werden in „Spiele” die Attentäter jedoch nicht als Bestien, sondern als fast sympathische junge Männer dargestellt. Mit Absicht? „Ja”, so Ulrike Draesner. „Gefährlich finde ich den Versuch, den Attentätern jede Menschlichkeit abzusprechen, um sich nicht mit ihren Motiven beschäftigen zu müssen. Man muss ergründen, wie solche Menschen ticken. Nur so kann man Terror verhindern.”
Um Fremdes zu ergründen, eine andere Mentalität besser kennen zu lernen, zog Ulrike Draesner auch einst in den Osten. Nur hier, sagt sie, habe sie die nötige Distanz gehabt, um über ein Münchner Thema zu schreiben. Eine andere geworden sei sie in der Hauptstadt nicht, nur arbeiten könne man im schnelllebigen Berlin besser als im gemütlichen Bayern. Zu Besuch ist sie, Im Gegensatz zu früher, heute wieder gern in München. Was sie mitnimmt in ihr neues Zuhause? Ganz klar: Brezn oder Torte. „Die können sie in Berlin nämlich nicht so gut backen.”
ISA HOFFINGER
Der Anfang und das schreckliche Ende: Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele im Olympiastadion und der ausgebrannte Hubschrauber auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck. Ulrike Draesner hat über die Ereignisse im September 1972 einen Roman geschrieben.
Fotos: Jürgen Bauer, SZ-Archiv / dpa (2)
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Warum sich die Autorin Ulrike Draesner in ihrem neuen Roman mit dem Münchner Attentat von 1972 beschäftigt
Es gibt viele gute Gründe für eine weite Reise. Das Bedürfnis, etwas hinter sich zu lassen etwa. Oder die heimliche Hoffnung, man selbst könne an einem fremden Ort ein Anderer werden. Ist man wieder zurück, hat man meist das Gefühl, dass nichts mehr so ist, wie es vorher war. Dass der Bäcker um die Ecke zwar morgens noch grantelt wie immer, und der Kirchturm nebenan noch genauso hoch in den Himmel ragt - aber man selbst wird den Abstand nicht los und fühlt sich irgendwie fremd in der Umgebung, in der man doch zu Hause ist. Eine solche Rückkehr erlebt Katja, die Protagonistin in Ulrike Draesners neuem Roman „Spiele”, aus dem die Autorin morgen um 20 Uhr im Literaturhaus liest.
Im Mittelpunkt des Romans steht das Geiseldrama bei den Olympischen Spielen 1972. Die Fotojournalistin Katja macht sich 2002, nach Jahren im Ausland, auf die Suche nach ihrer Identität und fährt in ihre Geburtsstadt München. Ihre erste große Liebe, der Polizist Max, wurde bei dem Großeinsatz auf dem Flughafen in Fürstenfeldbruck lebensgefährlich verletzt. Sie selbst plagten damals Schuldgefühle, die Flucht war ihre Konsequenz, die verlorene Liebe ein Bruch in ihrem Leben. Nun, als reife Frau, beschließt sie, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.
Dass die gebürtige Münchnerin Ulrike Draesner, die seit zehn Jahren in Berlin lebt, sich mit ihrem neuesten Werk auf heimisches Terrain begibt, ist kein Zufall. „Ich glaube, dieser Stoff war mir einfach mit auf den Weg gegeben”, sagt sie und versucht, sich bei einer Tasse Tee in ihrer Altbau-Wohnung in Prenzlauer Berg zu erinnern, was sie als Zehnjährige mitbekommen hat von den Ereignissen im Herbst 1972. „Als ich in Planegg in die Schule kam, hatten die Straßen noch keinen Asphalt und man musste Stunden auf den Zug warten. Mit den Spielen kamen die U- und die S-Bahn, für mich war das eine einschneidende technische Neuerung, fast so wie bei meiner Großmutter das erste Telefon.” Hat sie verstanden, was damals passierte? „Nein, als Kind ging ich vor dem Attentat ins Bett, und am nächsten Morgen hatten alle Erwachsenen lange Gesichter. Es fielen Worte wie Palästina und Israel, für mich waren das nur historische Begriffe aus dem Religionsunterricht. Das einzige, was ich gespürt habe, war, dass die Erwachsenen, die einen beschützen sollten, mir selbst schutzlos vorkamen.”
Der Anschlag auf die Sportler war eine unerhörte Begebenheit: Alle israelischen Geiseln zahlten mit ihrem Leben für den Beginn des globalisierten Terrors - eigentlich ein perfektes Novellenthema. Warum entschied sich Ulrike Draesner für einen mehr als 400 Seiten starken Roman? „Ich wollte zeigen, wie ein politischer Konflikt die Lebensläufe der Menschen verändert”, so Draesner. Die Geschichte ist deshalb auch eher eine komplizierte Familiensaga mit vielen verwirrenden Rückblenden als ein fesselnder Thriller.
Und wie immer, wenn es um Familien geht, spielt der Begriff Heimat eine große Rolle. „Heimat ist, wo Du nicht erklären musst, wer Du bist. Weil sie glauben, Dich zu kennen”, sagt Katja einmal. Ulrike Draesner hat ihre Heimat München aus genau diesem Grund verlassen. Weil es ihr „zu eng” wurde, sie lieber anonymer lebt in Berlin, wo keiner sie auf der Straße erkennt. „Ich hatte nie ein ungebrochenes Heimatverhältnis. Mein Vater war nach dem Krieg aus Schlesien nach Bayern geflohen, er gehörte nicht richtig dazu. Und ich als Mädchen sprach nicht bayerisch und war protestantisch. Da fühlte man sich schnell als Ausländerin.”
War das Schreiben eine Vergangenheitsbewältigung? „Jein. Ähnlich wie Katja frage ich mich heute, nach jahrelanger Abwesenheit: Was ist das eigentlich für ein Ort, aus dem ich komme? München, die ,Weltstadt mit Herz, hat schon immer versucht, ein positives Bild von sich zu präsentieren. Das Bedürfnis, vor der Welt gut dazustehen ist ein Effekt der globalisierten Medialität von Gesellschaft. Bei den Spielen 1972 standen dahinter klare wirtschaftliche Interessen: Man investierte Geld in das Bild einer freundlichen Stadt, und durch die Ausstrahlung in die Welt hoffte man, Investoren anzulocken.” Der Image-Schaden nach dem Terror war enorm. Und die Behörden verbreiteten allzu schnell die Falschmeldung, alle Geiseln seien frei. Dass vieles beim Polizeieinsatz schief lief, passte nicht zu der Rolle Münchens als perfekter Gastgeber für Sportler und Besucher aus aller Welt.
Auch naheliegende Vergleiche zum 11. September zieht das Buch. „1972 war zum ersten Mal klar, dass man als Terrorist dahin gehen muss, wo man gerade die größte Aufmerksamkeit der Medien bekommt”, sagt Ulrike Draesner. Im Gegensatz zur Berichterstattung nach Nine Eleven werden in „Spiele” die Attentäter jedoch nicht als Bestien, sondern als fast sympathische junge Männer dargestellt. Mit Absicht? „Ja”, so Ulrike Draesner. „Gefährlich finde ich den Versuch, den Attentätern jede Menschlichkeit abzusprechen, um sich nicht mit ihren Motiven beschäftigen zu müssen. Man muss ergründen, wie solche Menschen ticken. Nur so kann man Terror verhindern.”
Um Fremdes zu ergründen, eine andere Mentalität besser kennen zu lernen, zog Ulrike Draesner auch einst in den Osten. Nur hier, sagt sie, habe sie die nötige Distanz gehabt, um über ein Münchner Thema zu schreiben. Eine andere geworden sei sie in der Hauptstadt nicht, nur arbeiten könne man im schnelllebigen Berlin besser als im gemütlichen Bayern. Zu Besuch ist sie, Im Gegensatz zu früher, heute wieder gern in München. Was sie mitnimmt in ihr neues Zuhause? Ganz klar: Brezn oder Torte. „Die können sie in Berlin nämlich nicht so gut backen.”
ISA HOFFINGER
Der Anfang und das schreckliche Ende: Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele im Olympiastadion und der ausgebrannte Hubschrauber auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck. Ulrike Draesner hat über die Ereignisse im September 1972 einen Roman geschrieben.
Fotos: Jürgen Bauer, SZ-Archiv / dpa (2)
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Rezensent Paul Michael Lützeler könnte es verstehen, wenn man Ulrike Draesners Roman nach den ersten Seiten weglegen wollte - und warnt dennoch davor. Auf eine erste Passage voller Metaphern und "Plauderrinnsalen" folgt nämlich eine wahre "Überraschung". Die Autorin erzählt die Vorgeschichte des 11. September und geht dabei bis zur Geiselnahme während der Olympiade 1972 zurück. Ihre Protagonistin, eine Fotografin, erforscht die Hintergründe des Terrorismus und trifft bei ihren Recherchen auf zahlreiche interessante Spuren. Schön findet der Rezensent die "Spekulationen", die die Romanheldin über einzelne Politiker und Regierungen anstellt; und auch die detaillierte Beschreibung ihres Liebeslebens - "nur das Kamasutra ist ausführlicher" - stört ihn nicht. Aber obwohl das Buch sich nach und nach in einen "rasanten Erzählstrom" verwandelt, bleiben die "stilistischen Schwächen" nicht zu übersehen. Fürs nächste Mal empfiehlt der Kritiker eine "Metaphern-Entschlackungskur".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Draesners 'Spiele' ist eine imponierend souverän gelegte Roman-Patience.« Frankfurter Allgemeine Zeitung