Produktdetails
- Verlag: Verlag Antje Kunstmann
- Seitenzahl: 336
- Abmessung: 31mm x 145mm x 214mm
- Gewicht: 548g
- ISBN-13: 9783888972386
- ISBN-10: 3888972388
- Artikelnr.: 25442393
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2000Pack den Tiger in den Schrank
Wie Kinder spielend das Geburtstrauma überwinden
Am Ende jeder Folge mahnt eine Stimme aus dem Off, dass es für die Teletubbies nun Zeit sei, sich zu verabschieden. Winkend tauchen sie daraufhin hinter den Wiesenhügeln weg, um sogleich wieder unter Kichern und Jauchzen hervorzukommen. Erst nach der zweiten Aufforderung verabschieden sie sich im Ernst, nicht im Spiel.
Diese Idee greift eine Spielhandlung auf, die Kleinkinder Anfang des zweiten Lebensjahres in der Kommunikation mit ihren Bezugspersonen entwickeln. Sie verstecken ihr Gesicht, ihren Blick, um wieder hinschauen zu können und gesehen zu werden. Die Handlungsabfolge leitet sich von der Grunderfahrung der fortgehenden und zurückkehrenden Mutter her. Sie ist, mit Jean Piaget zu reden, ein "Symbolspiel". Während Piaget die frühkindlichen Symbolspiele als eine Stufe im Prozess der kognitiven Entwicklung betrachtet, deutet Johannes Merkel sie als Ausgangsform dessen, was für ihn das Spiel generell ausmacht: "Der Raum der spielerischen und kulturellen Schöpfung, der sich aus dem gesellschaftlichen Lebensraum ausgrenzt", schreibt er in Anknüpfung an Johan Huizinga, "ist der menschliche Innenraum, der im Spiel und den davon abgeleiteten kulturellen Gestaltungen sichtbare, greifbare und kommunizierbare Gestalt gewinnt." Pointe und Risiko bei dieser Formulierung liegen in der Ausschließlichkeit, mit der das Spiel zum Medium der Psyche erklärt wird. Denn so viel darf gesagt werden, ohne Falsches zu sagen: Wie dem Sinnbezirk der Liebe, so eignet auch dem Spiel Multifunktionalität.
Das Grundmuster kindlichen Selbstempfindens im ersten Lebensjahrzehnt sieht Merkel in der Geburtserfahrung begründet. Thesen der prä- und perinatalen Psychologie aufgreifend, geht er davon aus, dass die physische Extrembelastung und Totalumstellung während der Geburt zu einem Trauma führt, das zwar dem Bewusstsein entzogen bleibt, sich aber in symbolischer Gestaltung vielfältig Bahn bricht. Die Dramatik des erlebten Statuswechsels vom Fötus zum Säugling begründe gewissermaßen die "Grammatik" aller Geschichten, geträumter wie erzählter, kindlicher wie überlieferter: Das Einbrechen des Unerwarteten ins Vertraute und dessen Bewältigung zu einem guten Ende und neuen Anfang. Nicht von ungefähr fällt der von C. G. Jung geprägte Begriff des "kollektiven Unbewussten".
Anfangs verfügen Kinder allerdings nur über Teile der "Grammatik". Sie komplett zu erwerben bedarf es des Rollenspiels mit erwachsenen Bezugspersonen, Gleichaltrigen oder verlebendigtem Spielzeug. Denn in den ersten Lebensjahren sind Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, inneres Vorstellen und Außenwelt noch nicht scharf voneinander geschieden. Die Stufen der Ausdifferenzierung von Phantasie und Alltagserfahrung zeichnet Merkel anhand von Einschlafmonologen, Traumberichten und Erzählungen nach. Dass er dabei durchweg auf bereits vorhandene Protokolle zurückgreift, wird durch den Umstand der kritischen Kommentierung aufgewogen.
Im Ergebnis, so Merkel, bleibe die innere Welt bis ins schulfähige Alter hinein vom Geburtstrauma bestimmt. Die Träume der Kinder handeln von Situationen lebensbedrohlicher Ausweglosigkeit, ihre Erzählungen vermögen dem unerwartet Einbrechenden selten etwas entgegenzustellen. Eindringlichstes Beispiel, das er aus Kindermund zitiert: "Es war einmal ein Mädchen, das ging durch den Wald. Da kam ein Tiger, der aß das Mädchen auf." Rettendes wächst dem Mädchen in Gestalt der kulturellen Überformung des Geburtstraumas zu. Mit zehn Jahren wird es gelernt haben, Imaginiertes erzählerisch zu verarbeiten, es zu einem guten Ende zu bringen oder zu einem bösen, letzteres dann jedoch lustvoll, weil ästhetisch reflektiert. Die Fähigkeit, "grammatikalisch" vollgültige Geschichten zu erfinden, befriedet die Gesichte der Kindheit.
Die Zusammenhänge zwischen kindlicher Spiel- und Erzählentwicklung sind detailreich und plausibel dargelegt. Der Schlussteil hingegen überzeugt so wenig, dass er einen Schatten auf das Vorherige wirft: Johannes Merkel betrachtet den Tagtraum als Dämmerzone zwischen äußerer und innerer Welt. Darin könnten "verdrängte Lebenserfahrung, Prägungen des vorsprachlichen Kindes und der vorgeburtlichen Existenz oder auch noch tiefer lagernde archetypische Gestaltungen" bildhaft erstehen, wäre da nicht, so Merkel, die fatale Neigung, im Tagtraum den Trivialbildern der Massenmedien nachzuhängen. Verwandelten doch die Medien alles Ferne, Fremde und Mehrdeutige in Nahes, Bekanntes, Eindeutiges. In Merkels Beispielen steht Mythos gegen Soap, Kafka gegen Karl May. Gemessen an dem Stand gegenwärtiger Kulturtheorien, haben Merkels Ansichten - mit Verlaub - die Konsistenz von Tubbie-Pudding.
RALF DROST
Johannes Merkel: "Spielen, Erzählen, Phantasieren". Die Sprache der inneren Welt. Verlag Antje Kunstmann, München 2000. 337 S., geb., 42,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wie Kinder spielend das Geburtstrauma überwinden
Am Ende jeder Folge mahnt eine Stimme aus dem Off, dass es für die Teletubbies nun Zeit sei, sich zu verabschieden. Winkend tauchen sie daraufhin hinter den Wiesenhügeln weg, um sogleich wieder unter Kichern und Jauchzen hervorzukommen. Erst nach der zweiten Aufforderung verabschieden sie sich im Ernst, nicht im Spiel.
Diese Idee greift eine Spielhandlung auf, die Kleinkinder Anfang des zweiten Lebensjahres in der Kommunikation mit ihren Bezugspersonen entwickeln. Sie verstecken ihr Gesicht, ihren Blick, um wieder hinschauen zu können und gesehen zu werden. Die Handlungsabfolge leitet sich von der Grunderfahrung der fortgehenden und zurückkehrenden Mutter her. Sie ist, mit Jean Piaget zu reden, ein "Symbolspiel". Während Piaget die frühkindlichen Symbolspiele als eine Stufe im Prozess der kognitiven Entwicklung betrachtet, deutet Johannes Merkel sie als Ausgangsform dessen, was für ihn das Spiel generell ausmacht: "Der Raum der spielerischen und kulturellen Schöpfung, der sich aus dem gesellschaftlichen Lebensraum ausgrenzt", schreibt er in Anknüpfung an Johan Huizinga, "ist der menschliche Innenraum, der im Spiel und den davon abgeleiteten kulturellen Gestaltungen sichtbare, greifbare und kommunizierbare Gestalt gewinnt." Pointe und Risiko bei dieser Formulierung liegen in der Ausschließlichkeit, mit der das Spiel zum Medium der Psyche erklärt wird. Denn so viel darf gesagt werden, ohne Falsches zu sagen: Wie dem Sinnbezirk der Liebe, so eignet auch dem Spiel Multifunktionalität.
Das Grundmuster kindlichen Selbstempfindens im ersten Lebensjahrzehnt sieht Merkel in der Geburtserfahrung begründet. Thesen der prä- und perinatalen Psychologie aufgreifend, geht er davon aus, dass die physische Extrembelastung und Totalumstellung während der Geburt zu einem Trauma führt, das zwar dem Bewusstsein entzogen bleibt, sich aber in symbolischer Gestaltung vielfältig Bahn bricht. Die Dramatik des erlebten Statuswechsels vom Fötus zum Säugling begründe gewissermaßen die "Grammatik" aller Geschichten, geträumter wie erzählter, kindlicher wie überlieferter: Das Einbrechen des Unerwarteten ins Vertraute und dessen Bewältigung zu einem guten Ende und neuen Anfang. Nicht von ungefähr fällt der von C. G. Jung geprägte Begriff des "kollektiven Unbewussten".
Anfangs verfügen Kinder allerdings nur über Teile der "Grammatik". Sie komplett zu erwerben bedarf es des Rollenspiels mit erwachsenen Bezugspersonen, Gleichaltrigen oder verlebendigtem Spielzeug. Denn in den ersten Lebensjahren sind Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, inneres Vorstellen und Außenwelt noch nicht scharf voneinander geschieden. Die Stufen der Ausdifferenzierung von Phantasie und Alltagserfahrung zeichnet Merkel anhand von Einschlafmonologen, Traumberichten und Erzählungen nach. Dass er dabei durchweg auf bereits vorhandene Protokolle zurückgreift, wird durch den Umstand der kritischen Kommentierung aufgewogen.
Im Ergebnis, so Merkel, bleibe die innere Welt bis ins schulfähige Alter hinein vom Geburtstrauma bestimmt. Die Träume der Kinder handeln von Situationen lebensbedrohlicher Ausweglosigkeit, ihre Erzählungen vermögen dem unerwartet Einbrechenden selten etwas entgegenzustellen. Eindringlichstes Beispiel, das er aus Kindermund zitiert: "Es war einmal ein Mädchen, das ging durch den Wald. Da kam ein Tiger, der aß das Mädchen auf." Rettendes wächst dem Mädchen in Gestalt der kulturellen Überformung des Geburtstraumas zu. Mit zehn Jahren wird es gelernt haben, Imaginiertes erzählerisch zu verarbeiten, es zu einem guten Ende zu bringen oder zu einem bösen, letzteres dann jedoch lustvoll, weil ästhetisch reflektiert. Die Fähigkeit, "grammatikalisch" vollgültige Geschichten zu erfinden, befriedet die Gesichte der Kindheit.
Die Zusammenhänge zwischen kindlicher Spiel- und Erzählentwicklung sind detailreich und plausibel dargelegt. Der Schlussteil hingegen überzeugt so wenig, dass er einen Schatten auf das Vorherige wirft: Johannes Merkel betrachtet den Tagtraum als Dämmerzone zwischen äußerer und innerer Welt. Darin könnten "verdrängte Lebenserfahrung, Prägungen des vorsprachlichen Kindes und der vorgeburtlichen Existenz oder auch noch tiefer lagernde archetypische Gestaltungen" bildhaft erstehen, wäre da nicht, so Merkel, die fatale Neigung, im Tagtraum den Trivialbildern der Massenmedien nachzuhängen. Verwandelten doch die Medien alles Ferne, Fremde und Mehrdeutige in Nahes, Bekanntes, Eindeutiges. In Merkels Beispielen steht Mythos gegen Soap, Kafka gegen Karl May. Gemessen an dem Stand gegenwärtiger Kulturtheorien, haben Merkels Ansichten - mit Verlaub - die Konsistenz von Tubbie-Pudding.
RALF DROST
Johannes Merkel: "Spielen, Erzählen, Phantasieren". Die Sprache der inneren Welt. Verlag Antje Kunstmann, München 2000. 337 S., geb., 42,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Woher stammt das Spielen und Phantasieren, warum ist das Erzählen wichtig? Mit den Antworten des Autors hat sich Barbara von Becker beschäftigt und ist in vielem dem Autor fasziniert gefolgt. Wenig interessiert sie dabei die Zurückweisung des Autors von Piagets Thesen; dagegen vollzieht sie ausführlich nach, dass das Geburtstrauma Ursache des Rollenspiels und des Erzählens über Bedrohung und Entkommen sein soll. Ebenso überzeugt hat sie offenbar die Bedeutung der Tagträume in der Pubertät; sie sind Merkel zufolge eine Art Neuentwurf des Individuums und schützen es vor wahnhaften Projektionen auf die Außenwelt. Die Rezensentin kritisiert die "Überfülle des Stoffs", die der Autor zur Absicherung seiner Thesen vorstellt, wobei er ihrer Meinung nach manchmal seine eigenen Thesen aus den Augen verliert. "Man würde sich bisweilen einen stärker strukturierenden Zugriff und eine stärkere synoptische Aufbereitung wünschen."
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Spielend, erzählend, träumend erfindet sich der Mensch. Ziel des Buches ist es, die Verwandtschaft der dafür jeweils benötigten Formsprache zu belegen und zu zeigen, wie eindrücklich sich in diesen Sprachen unsere innere Welt abbilden lässt." (Barbara v. Becker, Süddeutsche Zeitung) "Detailreich und plausibel." (Ralf Drost, FAZ)