Das literarische Abenteuer aus Norwegen, das autobiographische Projekt von Karl Ove Knausgård geht weiter: Nach Sterben und Lieben nun Spielen - ein Roman über eine Kindheit, der eine Welt beschreibt, in der Kinder und Erwachsene parallele Leben führen, die sich nie begegnen. Alles beginnt mit einer traditionellen Familie: Vater, Mutter und zwei Jungen, die nach Südnorwegen ziehen, in ein neues Haus in einer neuen Siedlung. Es sind die frühen Siebzigerjahre, die Kinder sind klein, die Eltern jung, die Zukunft scheint offen und verheißungsvoll. Aber irgendwann beginnt sie sich zu schließen, irgendwann wird das, was mit großen Hoffnungen begann, klein und festgelegt. Was ist passiert? Wie konnte es dazu kommen?
»An einem milden und bewölkten Tag im August 1969 fuhr auf einer schmalen Straße am äußeren Ende einer südnorwegischen Insel, zwischen Wiesen und Felsen, Weiden und Wäldchen, ein Bus. Er gehörte der Arendal-Dampfschifffahrtsgesellschaft und war wie alle Busse des Unternehmens hell- und dunkelbraun. Er fuhr über eine Brücke, an einer schmalen Bucht entlang, blinkte rechts und hielt. Die Tür ging auf, eine kleine Familie stieg aus. Der Vater, ein großer und schlanker Mann in einem weißen Hemd und einer hellen Polyesterhose, trug zwei Koffer. Die Mutter, in einem beigen Mantel und mit einem hellblauen Kopftuch, das um die langen Haare geschlungen war, hielt an der einen Hand einen Kinderwagen und an der anderen einen kleinen Jungen. Als der Bus weitergefahren war, hing seine dicke, graue Abgaswolke noch für einen Moment über dem Asphalt.«
»An einem milden und bewölkten Tag im August 1969 fuhr auf einer schmalen Straße am äußeren Ende einer südnorwegischen Insel, zwischen Wiesen und Felsen, Weiden und Wäldchen, ein Bus. Er gehörte der Arendal-Dampfschifffahrtsgesellschaft und war wie alle Busse des Unternehmens hell- und dunkelbraun. Er fuhr über eine Brücke, an einer schmalen Bucht entlang, blinkte rechts und hielt. Die Tür ging auf, eine kleine Familie stieg aus. Der Vater, ein großer und schlanker Mann in einem weißen Hemd und einer hellen Polyesterhose, trug zwei Koffer. Die Mutter, in einem beigen Mantel und mit einem hellblauen Kopftuch, das um die langen Haare geschlungen war, hielt an der einen Hand einen Kinderwagen und an der anderen einen kleinen Jungen. Als der Bus weitergefahren war, hing seine dicke, graue Abgaswolke noch für einen Moment über dem Asphalt.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.04.2014Ein Roman wie Big Data
Karl Ove Knausgårds "Spielen" erzählt in allen Details
Mit der Erinnerung verhält es sich wie mit dem Gang in ein dunkles Gewölbe: Nur punktuell sieht man nach den ersten, mit geweiteten Pupillen bewältigten Metern, was der hin und her wandernde Lichtkegel der Lampe erfasst. Und nach dem Wiederausstieg ins Licht bleibt die Ungewissheit, ob man dem Gesehenen trauen darf.
Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård, ein Mann, den das Umschlagfoto in Bukowski-Pose vorstellt, wagt sich für sein monumentales, auf sechs Bände angelegtes Romanprojekt "Min Kamp" (das ist der vom deutschen Verlag gescheute Originaltitel der Reihe) immer wieder in das Gewölbe hinein. Jedes banale Detail schreibt er auf: schonungslos und ehrlich, wie man gemeinhin so sagt. Ein fleißiger Arbeiter im Weinberg des Herrn.
In Norwegen, wo es Knausgård zum Bestseller brachte, hat das zu einer polarisierten, einmal mehr von Jan Kjærstad angeschobenen Debatte darüber geführt, was die Schriftsteller einer neuen Generation, die Marketingabteilungen der Verlage und die Literaturkritik zu leisten in der Lage sind. Als hätten nicht auch schon Montaigne, die Kristiania-Boheme oder Per Olov Enquist über das eigene Leben geschrieben.
Trotzdem scheint von dem Knausgårdschen Realismus-Experiment im Zeitalter der Selbstdarstellung und des digitalen Voyeurismus ein so großer Reiz auszugehen, dass die Begeisterung mit den ersten beiden (bereits ins Deutsche übertragenen) Bänden "Sterben" und "Lieben" mühelos ins Ausland überschwappte. Das erklärte Knausgård selbst so: "Es findet eine Identifikation mit dem Leben an sich statt."
Das mag sein. Widmete sich der Lehrersohn in den beiden Auftaktbänden der Erinnerung an den schwierigen Vater und der durchaus frustrierenden Aufgabe, sich um die eigene Familie zu kümmern, steigt Knausgård nun mit dem dritten Teil "Spielen" erschöpfend ausführlich in die eigene Kindheit. Und wieder triggert jede noch so triviale Entdeckung Karl Ove Knausgårds eine eigene, von den endlosen Stunden in der Schule bis hin zu den handlungsarmen Abenden daheim: "Wenn wir gegessen hatten, sahen wir fern." Er mag ein unbedeutender Egomane und Narziss sein. Aber wir sind es auch.
Allerdings kommt noch etwas dazu. Die Generation nach ihm kann den Rechner einschalten, wenn sie an die Kindheit zurückdenkt. Sie kann die Detailflut ihrer Facebook-, Twitter- und Flickr-Accounts sichten, eines Tages gar Unternehmen befragen, die sämtliche Kindheitsdaten von der Gesundheitsakte bis zu den Notizen der Kindergärtnerin und der Handyfotos der Klassenkameraden in ein Geschäftsmodell gießen lassen. Sie hat die Maschine, die vorgibt, ihr Leben erzählen zu können.
Der 1968 geborene Knausgård hat da vergleichsweise wenig. Lässt man das Soghafte der Sprache und die (im dritten Band leider weniger) starken essayistischen Passagen außen vor, dürfte auch das die breite Faszination für das Projekt zu entschlüsseln helfen. Wir lesen ihn, während wir über "Big Data" reden.
Dabei hat es seinen Sinn, dass die Details im Vergessen verschwinden. "Aus ihrem Mundwinkel lief ein wenig Spucke", heißt es bei Knausgård über dessen ersten, mehr sportlich in Angriff genommenen Kuss. Die Magie des Lebens käme uns ohne das Vergessen, Verdrängen und Geschichtenspinnen abhanden.
Das zu bemerken ist das Schönste an diesem Buch. Zumal es die phantastische Literatur war, Hugh Loftings "Doktor Dolittle" etwa oder Otfried Preußlers "Kleine Hexe", die den Knirps nach dem Zähneputzen und Gute-Nacht-Mama-Rufen aus dem banalen Alltag befreite so wie das unbeobachtete "Spielen" im Grünen bei Tag.
MATTHIAS HANNEMANN
Karl Ove Knausgård: "Spielen". Roman.
Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Literaturverlag, München 2014. 571 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Karl Ove Knausgårds "Spielen" erzählt in allen Details
Mit der Erinnerung verhält es sich wie mit dem Gang in ein dunkles Gewölbe: Nur punktuell sieht man nach den ersten, mit geweiteten Pupillen bewältigten Metern, was der hin und her wandernde Lichtkegel der Lampe erfasst. Und nach dem Wiederausstieg ins Licht bleibt die Ungewissheit, ob man dem Gesehenen trauen darf.
Der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård, ein Mann, den das Umschlagfoto in Bukowski-Pose vorstellt, wagt sich für sein monumentales, auf sechs Bände angelegtes Romanprojekt "Min Kamp" (das ist der vom deutschen Verlag gescheute Originaltitel der Reihe) immer wieder in das Gewölbe hinein. Jedes banale Detail schreibt er auf: schonungslos und ehrlich, wie man gemeinhin so sagt. Ein fleißiger Arbeiter im Weinberg des Herrn.
In Norwegen, wo es Knausgård zum Bestseller brachte, hat das zu einer polarisierten, einmal mehr von Jan Kjærstad angeschobenen Debatte darüber geführt, was die Schriftsteller einer neuen Generation, die Marketingabteilungen der Verlage und die Literaturkritik zu leisten in der Lage sind. Als hätten nicht auch schon Montaigne, die Kristiania-Boheme oder Per Olov Enquist über das eigene Leben geschrieben.
Trotzdem scheint von dem Knausgårdschen Realismus-Experiment im Zeitalter der Selbstdarstellung und des digitalen Voyeurismus ein so großer Reiz auszugehen, dass die Begeisterung mit den ersten beiden (bereits ins Deutsche übertragenen) Bänden "Sterben" und "Lieben" mühelos ins Ausland überschwappte. Das erklärte Knausgård selbst so: "Es findet eine Identifikation mit dem Leben an sich statt."
Das mag sein. Widmete sich der Lehrersohn in den beiden Auftaktbänden der Erinnerung an den schwierigen Vater und der durchaus frustrierenden Aufgabe, sich um die eigene Familie zu kümmern, steigt Knausgård nun mit dem dritten Teil "Spielen" erschöpfend ausführlich in die eigene Kindheit. Und wieder triggert jede noch so triviale Entdeckung Karl Ove Knausgårds eine eigene, von den endlosen Stunden in der Schule bis hin zu den handlungsarmen Abenden daheim: "Wenn wir gegessen hatten, sahen wir fern." Er mag ein unbedeutender Egomane und Narziss sein. Aber wir sind es auch.
Allerdings kommt noch etwas dazu. Die Generation nach ihm kann den Rechner einschalten, wenn sie an die Kindheit zurückdenkt. Sie kann die Detailflut ihrer Facebook-, Twitter- und Flickr-Accounts sichten, eines Tages gar Unternehmen befragen, die sämtliche Kindheitsdaten von der Gesundheitsakte bis zu den Notizen der Kindergärtnerin und der Handyfotos der Klassenkameraden in ein Geschäftsmodell gießen lassen. Sie hat die Maschine, die vorgibt, ihr Leben erzählen zu können.
Der 1968 geborene Knausgård hat da vergleichsweise wenig. Lässt man das Soghafte der Sprache und die (im dritten Band leider weniger) starken essayistischen Passagen außen vor, dürfte auch das die breite Faszination für das Projekt zu entschlüsseln helfen. Wir lesen ihn, während wir über "Big Data" reden.
Dabei hat es seinen Sinn, dass die Details im Vergessen verschwinden. "Aus ihrem Mundwinkel lief ein wenig Spucke", heißt es bei Knausgård über dessen ersten, mehr sportlich in Angriff genommenen Kuss. Die Magie des Lebens käme uns ohne das Vergessen, Verdrängen und Geschichtenspinnen abhanden.
Das zu bemerken ist das Schönste an diesem Buch. Zumal es die phantastische Literatur war, Hugh Loftings "Doktor Dolittle" etwa oder Otfried Preußlers "Kleine Hexe", die den Knirps nach dem Zähneputzen und Gute-Nacht-Mama-Rufen aus dem banalen Alltag befreite so wie das unbeobachtete "Spielen" im Grünen bei Tag.
MATTHIAS HANNEMANN
Karl Ove Knausgård: "Spielen". Roman.
Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Literaturverlag, München 2014. 571 S., geb., 22,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Und nun der dritte Teil dieser spannenden Vorabendserie namens "Min Kamp" von Karl Ove Knausgård, deren Thema Alex Rühle auf die Frage "Wer bin ich und wenn ja, warum?" reduziert. Der Rezensent verschlingt das wie nichts, auch wenn er nicht weiß, wo die Wirklichkeit, wo die Einbildungskraft des Autors am Werk ist. Egal, Hauptsache ehrlich, findet Rühle und taucht mit ein in die Welt der 70er, die Kindheitswelt des Autors und auch, wie Rühle feststellt, die eigene. Das liegt am ungefilterten Aufguss, den Kanusgard vorlegt, auch wenn kein Plot erkennbar wird, zwischen Hüpfgummispielen und Comic-Lektüre des Erzählers. Hypnotisch sei der Text, so Rühle, und mehr als oberflächliches Sammelsurium, nämlich eine Art norwegischer Proust, detailreich und das Leben bei der Arbeit zeigend. Also: Zeit nehmen und einsteigen! Rät Rühle.
© Perlentaucher Medien GmbH
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