'Der Fußball ist ein faszinierender Mikrokosmos, in vielerlei Hinsicht aber auch ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Ausgehend von seinen persönlichen Erfahrungen im Profifußball schlägt Oliver Bierhoff Brücken zu Themen wie Hierarchien, Solidarität, Konkurrenz, Erfolgsdruck und Kommerzialisierung, aber auch Migration und Verantwortung. In diesem Buch geht es Oliver Bierhoff um Perspektivwechsel, Toleranz und Offenheit für verschiedene Wege und Sichtweisen, um ein Ziel zu erreichen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2012Bierhoff entschleunigt
Beginnen wir, aus aktuellem Anlass, in Dublin. "Ein Leben voller Glück, es wäre nicht auszuhalten." Sagt George Bernhard Shaw. Der in der irischen Hauptstadt geborene Dramatiker ist einer von vielen Zitatgebern, die den Denk-Anstößen von Oliver Bierhoff Würze und Tiefe geben sollen. Einstein begegnen wir, Platon, Nietzsche, Adenauer, Churchill. Hier soll nicht gekleckert werden, hier will einer das große Ganze. Das ist ambitioniert. Wenn wir aber nicht gerade vom Teammanager der Fußball-Nationalmannschaft erklärt haben wollen, ob Länderfinanzausgleich oder Solidaritätszuschlag sinnvoll und gerecht sind? Dann müssen wir Bierhoffs "Spielunterbrechung", das BWL-Studium des Autors hin oder her, selektiv lesen.
Der Impuls, der hinter diesem Werk steckt, ist ja ehrenwert, vielleicht sogar geboten. Manchmal wünscht man sich einfach, dass im überhitzten und bisweilen überschätzten Fußballbetrieb mal einer "stopp" ruft oder zumindest das Tempo drosselt. Deshalb nehmen wir Bierhoffs Einladung, "mehr über den Fußball zu erfahren, als normalerweise in den Medien publiziert wird", gerne an - auch wenn Leitbegriffe wie "Entschleunigung" und "Entdramatisierung" nicht die ganz pralle Lektüre versprechen.
Was wir auf etwas über 300 Seiten finden, ist dann aber mehr oder weniger doch das, was in den Medien über Fußball publiziert wird - zumindest in denjenigen, die den Anspruch haben, über das "1:0" hinauszugehen. Bierhoff ist am besten, wenn er aus seiner eigenen Vita als Fußballprofi berichtet und dabei andeutet, wie nahe der vermeintliche Traumberuf zumindest in der Zeit vor dem Bosman-Urteil der Leibeigenschaft kam. Bierhoff ist selbstverständlich bestens eingespielt, wenn er über seine Arbeit als Teammanager berichtet, und lässt dabei deutlich werden, dass man die Themen Autorität und Hierarchie differenzierter betrachten kann, als in mancher schlagwortartigen Berichterstattung. Formschwankungen sind unübersehbar, wenn Bierhoff gesellschaftspolitisch wird. Natürlich kann der Fußball mitunter als Vorbild dienen, etwa beim Thema Integration, das Bierhoff sehr am Herzen liegt. Aber die Welt ist nicht alles, was der Ball ist. Und manchmal wäre es vielleicht hilfreich, auch die Unterschiede in den Blick zu nehmen statt immer nur die (angeblichen) Parallelen.
Und dann ist Bierhoff natürlich Bierhoff. Der - wie er selbst schreibt - "erste richtig professionell vermarktete Fußballspieler Deutschlands". Was dazu führt, dass man bei der Lektüre gar nicht anders kann, als sich zu fragen, ob nicht hinter manchem, was als Haltung verkauft wird, auch ein bisschen Image lauert. Für authentisch darf am Ende gelten: Bierhoff sieht sich als "Wettbewerbsmensch" mit einem sozialen Bewusstsein. Im Fußball wie im Leben legt er Wert auf ein menschliches Maß. Das Glück, von dem er bislang eher mehr als weniger hatte, versucht er zu teilen. Ein bisschen was von diesem Buch darf ruhig hängenbleiben.
camp.
Oliver Bierhoff: Spielunterbrechung. Man muss nicht schnell laufen, man kann auch richtig stehen. Econ Verlag 2012, 304 Seiten, 19,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Beginnen wir, aus aktuellem Anlass, in Dublin. "Ein Leben voller Glück, es wäre nicht auszuhalten." Sagt George Bernhard Shaw. Der in der irischen Hauptstadt geborene Dramatiker ist einer von vielen Zitatgebern, die den Denk-Anstößen von Oliver Bierhoff Würze und Tiefe geben sollen. Einstein begegnen wir, Platon, Nietzsche, Adenauer, Churchill. Hier soll nicht gekleckert werden, hier will einer das große Ganze. Das ist ambitioniert. Wenn wir aber nicht gerade vom Teammanager der Fußball-Nationalmannschaft erklärt haben wollen, ob Länderfinanzausgleich oder Solidaritätszuschlag sinnvoll und gerecht sind? Dann müssen wir Bierhoffs "Spielunterbrechung", das BWL-Studium des Autors hin oder her, selektiv lesen.
Der Impuls, der hinter diesem Werk steckt, ist ja ehrenwert, vielleicht sogar geboten. Manchmal wünscht man sich einfach, dass im überhitzten und bisweilen überschätzten Fußballbetrieb mal einer "stopp" ruft oder zumindest das Tempo drosselt. Deshalb nehmen wir Bierhoffs Einladung, "mehr über den Fußball zu erfahren, als normalerweise in den Medien publiziert wird", gerne an - auch wenn Leitbegriffe wie "Entschleunigung" und "Entdramatisierung" nicht die ganz pralle Lektüre versprechen.
Was wir auf etwas über 300 Seiten finden, ist dann aber mehr oder weniger doch das, was in den Medien über Fußball publiziert wird - zumindest in denjenigen, die den Anspruch haben, über das "1:0" hinauszugehen. Bierhoff ist am besten, wenn er aus seiner eigenen Vita als Fußballprofi berichtet und dabei andeutet, wie nahe der vermeintliche Traumberuf zumindest in der Zeit vor dem Bosman-Urteil der Leibeigenschaft kam. Bierhoff ist selbstverständlich bestens eingespielt, wenn er über seine Arbeit als Teammanager berichtet, und lässt dabei deutlich werden, dass man die Themen Autorität und Hierarchie differenzierter betrachten kann, als in mancher schlagwortartigen Berichterstattung. Formschwankungen sind unübersehbar, wenn Bierhoff gesellschaftspolitisch wird. Natürlich kann der Fußball mitunter als Vorbild dienen, etwa beim Thema Integration, das Bierhoff sehr am Herzen liegt. Aber die Welt ist nicht alles, was der Ball ist. Und manchmal wäre es vielleicht hilfreich, auch die Unterschiede in den Blick zu nehmen statt immer nur die (angeblichen) Parallelen.
Und dann ist Bierhoff natürlich Bierhoff. Der - wie er selbst schreibt - "erste richtig professionell vermarktete Fußballspieler Deutschlands". Was dazu führt, dass man bei der Lektüre gar nicht anders kann, als sich zu fragen, ob nicht hinter manchem, was als Haltung verkauft wird, auch ein bisschen Image lauert. Für authentisch darf am Ende gelten: Bierhoff sieht sich als "Wettbewerbsmensch" mit einem sozialen Bewusstsein. Im Fußball wie im Leben legt er Wert auf ein menschliches Maß. Das Glück, von dem er bislang eher mehr als weniger hatte, versucht er zu teilen. Ein bisschen was von diesem Buch darf ruhig hängenbleiben.
camp.
Oliver Bierhoff: Spielunterbrechung. Man muss nicht schnell laufen, man kann auch richtig stehen. Econ Verlag 2012, 304 Seiten, 19,99 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 12.12.2012Stillleben und Überleben
Oliver Bierhoff springt von Smartphone zu Yoga, und bei Lothar Matthäus sind fast immer die anderen schuld.
Uli Borowka hingegen beweist mit einer berührenden Alkoholiker-Beichte, was ein gutes Fußballer-Buch ausmacht
VON CLAUDIO CATUOGNO
Mönchengladbach, Anfang der achtziger Jahre: Zwei junge Männer starten hier fast gleichzeitig ihre Profikarriere. Deutscher Meister, Nationalspieler, Fußballpromi. Dreißig Jahre später, 2012, schreiben beide ein Buch. Der eine, Lothar Matthäus, schreibt über den anderen kein Wort. Der andere, Uli Borowka, schreibt über den einen: dass sie befreundet waren damals. „Mein Kumpel Lothar“, so heißt ein Kapitel. Was ist wichtig? Was lohnt sich zu erzählen? Es ist eben alles eine Frage der Perspektive.
Matthäus, der als Spieler alles erreicht hat, was man erreichen kann, und der sich deshalb an Uli Borowka nicht erinnern muss, formuliert dafür Gedanken wie diesen: „Maradona war ein begnadeter Fußballspieler, der alles erreicht hat, was man erreichen kann. Dann nahm er Drogen, wurde fett, hatte Affären, er schoss mit einem Luftgewehr auf einen Journalisten, aber er durfte in Argentinien Nationaltrainer werden. Ich griff weder zu Rauschmitteln noch zu einer Knarre. Doch mir blieb ein solches Amt bisher verwehrt. Es mag eine Mentalitätsfrage sein.“ Er meint die Mentalität der Deutschen.
Lothar Matthäus („Ganz oder gar nicht“) schreibt also ein Rechtfertigungsbuch, er schreibt aus der Perspektive des Weltfußballers, der später als Trainer immer irgendwie Pech hatte. Er räumt ein, dass er Fehler gemacht hat, meist „aus Gutmütigkeit“, er findet aber, dass im Wesentlichen andere schuld sind an seinem Image. Er will mit dem Buch „den Leuten, die mich Loddar nennen, zeigen, wer ich wirklich bin“. Und wenn man die 224 Seiten dann durch hat, weiß man tatsächlich recht gut, wer Loddar wirklich ist.
Uli Borowka („Volle Pulle“) schreibt aus der Perspektive desjenigen, der es selbst vermasselt hat. „Ich schütte die Tabletten ins Glas“, so geht es los, „eine Handbreit Schmerzmittel und Schlaftabletten vermengt mit Rotwein und Bier. Minutenlang sitze ich da und schaue auf den selbstgemachten Cocktail. Oder sind es Stunden? Jetzt. Ich nehme das Glas und leere es in einem Zug. Mein Name ist Uli Borowka und ich werde mir jetzt das Leben nehmen.“
Welches Buch liest man lieber?
Dass prominente Protagonisten des Fußballgewerbes – meist mithilfe von Co-Autoren – ihr Leben verschriften, ist seit Jahren in Mode. Stefan Effenberg, Oliver Kahn, Philipp Lahm, fast in jedem Jahr gibt es zum Weihnachtsgeschäft was für den Büchertisch neben der Rolltreppe. Aber 2012 ist bisheriger Fußballerbuch-Höhepunkt. Und da muss man noch nicht mal den ehemaligen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger („Die Zwanziger Jahre“) mitrechnen, der auch ein Rechtfertigungsbuch aufgelegt hat, das davon handelt, warum er ein toller Präsident war. Zwanzigers Werk, in dem er Sepp Blatter lobt und über seinen Nachfolger herzieht, muss man nur lesen, wenn man den letzten Beleg sucht, dass der Mann auch als deutscher Vertreter in Uefa und Fifa nicht mehr tragbar ist.
Oliver Bierhoff? Auch der Manager der Nationalelf („Spielunterbrechung“) hat ein paar Gedanken zwischen zwei Buchdeckel gepresst: dass in Zeiten von Smartphone und Internet alles immer schneller wird zum Beispiel. Bierhoff erzählt nicht in erster Linie über sich, sondern über den Fußball, das Business, das Leben. Er springt von Robert Enke zu Yoga und von David Beckham zum bengalischen Philosophen Rabindranath Tagore („Ich schlief und träumte, das Leben sei Freude. Ich erwachte und sah, das Leben ist Pflicht. Ich tat meine Pflicht, und siehe da, das Leben ward Freude“). Einerseits, andererseits, und bloß keinem weh tun. Ein Buch für Fußballfans, die auch lauwarmen Kamillentee trinken, wenn er nur fair gehandelt ist.
Im Grunde gilt auch für das Fußball-Buchjahr 2012: Die Wahrheit liegt auf dem Platz. Man will beim Lesen in die Kabine gucken. Am berührendsten ist das Konkrete. Etwa, wenn der Journalist Thomas Lötz die Karriere des Peter Neururer nachzeichnet („Peter Neururer. Aus dem Leben eines Bundesliga-Trainers“) – ein bisschen verklärend, aber nahe dran an einem Mann zwischen Genie und Wahnsinn, der nach knappen Siegen so Sachen sagte, wie „dass wir aus dieser äußerst großen Minimalchance – minimaler geht’s gar nicht mehr – eine etwas kleinere gemacht haben, die größer geworden ist“. Ehe der alternde Neururer erst keinen Job mehr bekam und schließlich einen Herzinfarkt, den er mit Glück überlebte. Das Neururer-Buch ist, was ein Fußball-Buch sein sollte: ein authentisch-konkretes Sittengemälde. Insofern muss man doch eine Lanze für Matthäus brechen. Denn bei allem Wehklagen hat er ein unterhaltsames Stück Fußballgeschichte aufgeschrieben. Ein süßlicher Geschichten-Cocktail. Kein Kamillentee.
Womit wir wieder bei Uli Borowka wären und der wohl schonungslosesten Autobiografie eines Fußballers. Weil da einer einräumt, dass er immer nur ein Grätscher und Zerstörer war, ohne viel Talent gesegnet – und weil Borowka dann aufarbeitet, wie er schon Jahre bevor er sein Länderspieldebüt gab, psychisch abhängig vom Alkohol war. Abgedruckt sind auch die Tagesberichte, die Borowka in der Fachklinik Fredeburg schrieb, im Jahr 2000, während seines Entzugs. Den Tablettencocktail, mit dem er etwas effektheischend einsteigt, hat Borowka damals überlebt. Die tägliche Dröhnung aus Bier, Schnaps, Rotwein beinahe nicht. Und wenn man die 302 Seiten dann durch hat, versteht man eine Menge über eine Branche, in der Saufen erlaubt ist, Schwächen zeigen aber verboten. Ein gutes Buch befremdet, verstört, aber es tut das durch seine Geschichte. Das unterscheidet das Borowka-Buch von manchem anderen, das unfreiwillig befremdet.
Lothar Matthäus (mit Martin Häusler): Ganz oder gar nicht. Lübbe, 224 Seiten, 19,99 Euro.
Uli Borowka (mit Alex Raack): Volle Pulle. Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker. Edel, 302 Seiten, 19,95 Euro.
Thomas Lötz: Peter Neururer. Aus dem Leben eines Bundesliga-Trainers. Delius Klasing, 188 Seiten, 19,90 Euro.
Oliver Bierhoff: Spielunterbrechung. Man muss nicht schnell laufen, man kann auch richtig stehen. Econ, 304 Seiten, 19,99 Euro.
Die Wahrheit liegt
auf dem Platz – man will
beim Lesen in die Kabine gucken
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Oliver Bierhoff springt von Smartphone zu Yoga, und bei Lothar Matthäus sind fast immer die anderen schuld.
Uli Borowka hingegen beweist mit einer berührenden Alkoholiker-Beichte, was ein gutes Fußballer-Buch ausmacht
VON CLAUDIO CATUOGNO
Mönchengladbach, Anfang der achtziger Jahre: Zwei junge Männer starten hier fast gleichzeitig ihre Profikarriere. Deutscher Meister, Nationalspieler, Fußballpromi. Dreißig Jahre später, 2012, schreiben beide ein Buch. Der eine, Lothar Matthäus, schreibt über den anderen kein Wort. Der andere, Uli Borowka, schreibt über den einen: dass sie befreundet waren damals. „Mein Kumpel Lothar“, so heißt ein Kapitel. Was ist wichtig? Was lohnt sich zu erzählen? Es ist eben alles eine Frage der Perspektive.
Matthäus, der als Spieler alles erreicht hat, was man erreichen kann, und der sich deshalb an Uli Borowka nicht erinnern muss, formuliert dafür Gedanken wie diesen: „Maradona war ein begnadeter Fußballspieler, der alles erreicht hat, was man erreichen kann. Dann nahm er Drogen, wurde fett, hatte Affären, er schoss mit einem Luftgewehr auf einen Journalisten, aber er durfte in Argentinien Nationaltrainer werden. Ich griff weder zu Rauschmitteln noch zu einer Knarre. Doch mir blieb ein solches Amt bisher verwehrt. Es mag eine Mentalitätsfrage sein.“ Er meint die Mentalität der Deutschen.
Lothar Matthäus („Ganz oder gar nicht“) schreibt also ein Rechtfertigungsbuch, er schreibt aus der Perspektive des Weltfußballers, der später als Trainer immer irgendwie Pech hatte. Er räumt ein, dass er Fehler gemacht hat, meist „aus Gutmütigkeit“, er findet aber, dass im Wesentlichen andere schuld sind an seinem Image. Er will mit dem Buch „den Leuten, die mich Loddar nennen, zeigen, wer ich wirklich bin“. Und wenn man die 224 Seiten dann durch hat, weiß man tatsächlich recht gut, wer Loddar wirklich ist.
Uli Borowka („Volle Pulle“) schreibt aus der Perspektive desjenigen, der es selbst vermasselt hat. „Ich schütte die Tabletten ins Glas“, so geht es los, „eine Handbreit Schmerzmittel und Schlaftabletten vermengt mit Rotwein und Bier. Minutenlang sitze ich da und schaue auf den selbstgemachten Cocktail. Oder sind es Stunden? Jetzt. Ich nehme das Glas und leere es in einem Zug. Mein Name ist Uli Borowka und ich werde mir jetzt das Leben nehmen.“
Welches Buch liest man lieber?
Dass prominente Protagonisten des Fußballgewerbes – meist mithilfe von Co-Autoren – ihr Leben verschriften, ist seit Jahren in Mode. Stefan Effenberg, Oliver Kahn, Philipp Lahm, fast in jedem Jahr gibt es zum Weihnachtsgeschäft was für den Büchertisch neben der Rolltreppe. Aber 2012 ist bisheriger Fußballerbuch-Höhepunkt. Und da muss man noch nicht mal den ehemaligen DFB-Präsidenten Theo Zwanziger („Die Zwanziger Jahre“) mitrechnen, der auch ein Rechtfertigungsbuch aufgelegt hat, das davon handelt, warum er ein toller Präsident war. Zwanzigers Werk, in dem er Sepp Blatter lobt und über seinen Nachfolger herzieht, muss man nur lesen, wenn man den letzten Beleg sucht, dass der Mann auch als deutscher Vertreter in Uefa und Fifa nicht mehr tragbar ist.
Oliver Bierhoff? Auch der Manager der Nationalelf („Spielunterbrechung“) hat ein paar Gedanken zwischen zwei Buchdeckel gepresst: dass in Zeiten von Smartphone und Internet alles immer schneller wird zum Beispiel. Bierhoff erzählt nicht in erster Linie über sich, sondern über den Fußball, das Business, das Leben. Er springt von Robert Enke zu Yoga und von David Beckham zum bengalischen Philosophen Rabindranath Tagore („Ich schlief und träumte, das Leben sei Freude. Ich erwachte und sah, das Leben ist Pflicht. Ich tat meine Pflicht, und siehe da, das Leben ward Freude“). Einerseits, andererseits, und bloß keinem weh tun. Ein Buch für Fußballfans, die auch lauwarmen Kamillentee trinken, wenn er nur fair gehandelt ist.
Im Grunde gilt auch für das Fußball-Buchjahr 2012: Die Wahrheit liegt auf dem Platz. Man will beim Lesen in die Kabine gucken. Am berührendsten ist das Konkrete. Etwa, wenn der Journalist Thomas Lötz die Karriere des Peter Neururer nachzeichnet („Peter Neururer. Aus dem Leben eines Bundesliga-Trainers“) – ein bisschen verklärend, aber nahe dran an einem Mann zwischen Genie und Wahnsinn, der nach knappen Siegen so Sachen sagte, wie „dass wir aus dieser äußerst großen Minimalchance – minimaler geht’s gar nicht mehr – eine etwas kleinere gemacht haben, die größer geworden ist“. Ehe der alternde Neururer erst keinen Job mehr bekam und schließlich einen Herzinfarkt, den er mit Glück überlebte. Das Neururer-Buch ist, was ein Fußball-Buch sein sollte: ein authentisch-konkretes Sittengemälde. Insofern muss man doch eine Lanze für Matthäus brechen. Denn bei allem Wehklagen hat er ein unterhaltsames Stück Fußballgeschichte aufgeschrieben. Ein süßlicher Geschichten-Cocktail. Kein Kamillentee.
Womit wir wieder bei Uli Borowka wären und der wohl schonungslosesten Autobiografie eines Fußballers. Weil da einer einräumt, dass er immer nur ein Grätscher und Zerstörer war, ohne viel Talent gesegnet – und weil Borowka dann aufarbeitet, wie er schon Jahre bevor er sein Länderspieldebüt gab, psychisch abhängig vom Alkohol war. Abgedruckt sind auch die Tagesberichte, die Borowka in der Fachklinik Fredeburg schrieb, im Jahr 2000, während seines Entzugs. Den Tablettencocktail, mit dem er etwas effektheischend einsteigt, hat Borowka damals überlebt. Die tägliche Dröhnung aus Bier, Schnaps, Rotwein beinahe nicht. Und wenn man die 302 Seiten dann durch hat, versteht man eine Menge über eine Branche, in der Saufen erlaubt ist, Schwächen zeigen aber verboten. Ein gutes Buch befremdet, verstört, aber es tut das durch seine Geschichte. Das unterscheidet das Borowka-Buch von manchem anderen, das unfreiwillig befremdet.
Lothar Matthäus (mit Martin Häusler): Ganz oder gar nicht. Lübbe, 224 Seiten, 19,99 Euro.
Uli Borowka (mit Alex Raack): Volle Pulle. Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker. Edel, 302 Seiten, 19,95 Euro.
Thomas Lötz: Peter Neururer. Aus dem Leben eines Bundesliga-Trainers. Delius Klasing, 188 Seiten, 19,90 Euro.
Oliver Bierhoff: Spielunterbrechung. Man muss nicht schnell laufen, man kann auch richtig stehen. Econ, 304 Seiten, 19,99 Euro.
Die Wahrheit liegt
auf dem Platz – man will
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