Spolien sind gezielt und daher in der Regel sichtbar wiederverwendete Bauteile. Im weiten Feld der Wiederverwendung in der Architektur besetzen sie jenen Sektor, der mit besonderen Gestaltungs- und Bedeutungsabsichten verbunden ist. Durch ihre meist wahrnehmbare Differenz zum übrigen Bau regen sie dazu an, diesen mit weiteren Bedeutungen anzureichern. Mit der Rückkehr von Ornament und Geschichte in die zeitgenössische Architektur hat auch die Spolienverwendung wieder zugenommen. Wurden Spolien bisher entweder für die spätantike und mittelalterliche Architektur oder - sehr viel seltener - für die Architektur der Moderne untersucht, setzt dieser Band erstmals Phänomene der Spolienverwendung über die Epochen hinweg miteinander in Beziehung. Neben kulturwissenschaftlichen Aspekten wird auch die Rolle von Spolien im Entwurfsprozess beleuchtet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2021Heilige Säulen wirft man nicht weg
Nützliche Fertigteile oder ausgestelltes Erbe: Hans-Rudolf Meier zeigt, wie verbreitet das Recycling von Bauteilen in der abendländischen Architekturgeschichte ist.
Nach der Revolution 1789 stieg das gestürmte Bastille-Gefängnis in Paris zur begehrten Trophäe auf. Teils wurden die Steine wie Reliquien in alle Départements geschafft, teils dienten sie als Baumaterial für den Pont de la Concorde. Die schönsten Stücke aber trugen die Damen der Gesellschaft poliert als Schmuck. Fast spurlos dagegen beseitigten die Polen 1949 das verhasste Tannenberg-Denkmal in Ostpreußen, indem sie dessen Granitplatten im Warschauer Kulturpalast und im Zentrum der Arbeiterpartei verbauten. Und die roten Marmorwände aus Hitlers Reichskanzlei sollen, wenngleich bis heute nicht eindeutig bewiesen, zum Bau des sowjetischen Ehrenmals in Treptow und der U-Bahn-Station Mohrenstraße gedient haben.
Mit Dutzenden solcher bauhistorischen Detektivgeschichten weckt der in Weimar lehrende Mediävist Hans-Rudolf Meier das Interesse für eines der verwickeltsten Themen der Architekturgeschichte: die Wiederverwendung alter Substanz für neue Gebäude. Der Sammelbegriff "Spolien", der im Lateinischen für Raubgut und Beutestück steht, bezeichnet eine über zweitausend Jahre alte Praxis der gegenständlichen Überlieferung von Triumphen, Niederlagen und Erbansprüchen im Medium der Architektur. Meiers Buch platzt vor Literaturkenntnis und Anschauungsmaterial beinahe aus den Nähten und ist zudem so präzise illustriert, dass man von jedem Altbau fortan die Angabe von Herkunft und Inhaltsstoffen fordern möchte.
Der Autor schlägt einen Bogen vom spätantiken Rom über das europäische Mittelalter bis zur globalen Gegenwart, der er angesichts der architektonischen Wegwerfkultur eine neue Begeisterung für Spolien als "Identifikationsangebote" und "Authentizitätsversprechen" bescheinigt. Zwar gehörte in allen Epochen die Wiederverwendung älterer Bauglieder für Neubauten zur alltäglichen Materialbeschaffung. Aber Spolien als Bedeutungsträger, die entfernte Orte und Zeiten durch die Unmittelbarkeit dinglicher Objekte verbinden, sind erst seit dem Konstantinsbogen in Rom bekannt und erforscht. Für ihn wurde nicht nur der Bogen Marc Aurels geplündert, auch andere trajanische und hadrianische Vorläuferbauten lieferten Reliefspolien. Das erklärten Raffael und Vasari später mit dem spätantiken Verfall der Bildhauerei, der solchen Kunstklau erzwungen habe. Heutige Deutungen dagegen sehen eher die "Erbekonstruktion und Herrschaftslegitimation" Konstantins als Grund für die Anleihen bei seinen Vorgängern.
Im Gegensatz zu solchen Kontinuitätsversprechen standen die feindlichen Übernahmen seit Konstantin, als heidnische Bildwerke aus dem ganzen Reich in das "neue Rom" am Bosporus verschleppt wurden, um den christlichen Sieg über die Ungläubigen zu feiern. Eine legendäre Räuberpistole berichtet der Autor aus Jerusalem, wo nach der muslimischen Eroberung 1187 die Säulen des Grabes Christi zum Grab Mohammeds nach Medina (nicht Mekka, wie es im Buch irrtümlich heißt) abtransportiert wurden.
Seit der römischen Antike flossen gewaltige Stoffströme aus Bauteilen durch den Mittelmeerraum von Jerusalem nach Rom, Konstantinopel, Ravenna, Venedig bis nach Aachen. So durfte Karl der Große mit päpstlicher Genehmigung seine nachrömische Reichsübertragung mit Spolien aus Rom und Ravenna feiern, die bis heute seine Pfalzkapelle in Aachen schmücken. Und die Seerepublik Venedig klaute, um das Fehlen ihrer antiken Vergangenheit zu kompensieren, nach der Eroberung Konstantinopels 1204 dort so viel Raubkunst, dass Markusdom und Piazzetta zur weltgrößten Spoliensammlung wurden.
Alte Bauteile bekamen häufig Wunderkräfte wie Reliquien zugeschrieben, etwa im neuen Petersdom. Weithin sichtbar sind im Hauptschiff die originalen Weinrankensäulen des Petrusgrabes aus dem Vorgängerbau ebenbürtig mit den Hauptreliquien des Christentums eingebaut. Dort gibt es auch die "Colonna santa", an der der junge Jesus im Tempel zu Jerusalem gelehnt haben soll und der jahrhundertelang Heilwirkungen nachgesagt wurden. Von "kontaktmagischer Spolienverwendung" spricht der Autor bei der Auflösung von Altsubstanzen in Neubauten, wie es mit Marmorfragmenten in Mosaikfußböden oder Trümmerschutt bei Wiederaufbaukirchen geschah. Dass diese Einverleibung, ähnlich wie die gläubige Einnahme von pulverisierten Andachtsbildern und Mumienresten, auf kannibalische Praktiken verweist, deutet der Autor leider nur kurz an.
Wiederverwendungen hatten nicht nur politische oder kultische Gründe. Vielmehr sorgten sie jahrhundertelang für eine kontinuierliche Entwurfspraxis, weil alte Bauglieder die Proportionen für Neubauten gleich mitlieferten. Vasari beschrieb als Erster, dass alle großen Bauten der Antike aus Spolien entstanden seien und Architekten die gewünschte Baugestalt daraus ablesen konnten. Meier führt dazu das Schiffswrack von Marzamemi bei Sizilien an, das mit sämtlichen Gliedern eines Tempels aus justinianischer Zeit gesunken war - ohne jedoch zu klären, ob es Spolien oder Fertigteile der damaligen Baustoffindustrie waren.
Über die historische Generalinventur hinaus untersucht der Autor Dutzende aktueller Wiederverwendungen. Bei den spoliengesättigten Rekonstruktionen der Stadtschlösser von Braunschweig, Potsdam und Berlin schaudert es den Autor, während er sich über Pavillon-Neubauten aus originalen "Horten-Kacheln" in Magdeburg oder DDR-Kaufhäuser mit renovierten Alu-Wabenfassaden in Dresden und Leipzig als "Anklänge an das vertraute Bild" freut. Etwas unfair schmäht der Autor die Spolien-Collage der neuen Frankfurter Altstadt als gescheiterte "renovatio urbis" nach dem Vorbild des alten Rom.
Zugunsten einer strengen Systematisierung ordnet der Autor sein Material nicht nach historisch-geographischen, sondern funktionslogischen Kategorien wie Bedeutungszweck, Objektcharakter, Materialität und Kulturpraktiken. Dabei greift er zu Theoremen über Präsenz, Absenz und Verkörperung, deren Gegenstandsferne es erfordern, dass die gemeinten Bauten im Buch auf verwirrende Weise mehrfach auftauchen. Das ändert nichts an Meiers Verdienst, Spolienbauten neben allen geistigen Gehalten auch als ökologische Praxis der Ressourceneinsparung wiederzuentdecken, bei der das Recyclingdenken im Kopf beginnt, lange bevor das Abbruchmaterial auf der Sondermülldeponie landet.
MICHAEL MÖNNINGER
Hans-Rudolf Meier: "Spolien". Phänomene
der Wiederverwendung in der Architektur. Jovis Verlag, Berlin 2020. 239 S., Abb., geb., 38,- [Euro].
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Nützliche Fertigteile oder ausgestelltes Erbe: Hans-Rudolf Meier zeigt, wie verbreitet das Recycling von Bauteilen in der abendländischen Architekturgeschichte ist.
Nach der Revolution 1789 stieg das gestürmte Bastille-Gefängnis in Paris zur begehrten Trophäe auf. Teils wurden die Steine wie Reliquien in alle Départements geschafft, teils dienten sie als Baumaterial für den Pont de la Concorde. Die schönsten Stücke aber trugen die Damen der Gesellschaft poliert als Schmuck. Fast spurlos dagegen beseitigten die Polen 1949 das verhasste Tannenberg-Denkmal in Ostpreußen, indem sie dessen Granitplatten im Warschauer Kulturpalast und im Zentrum der Arbeiterpartei verbauten. Und die roten Marmorwände aus Hitlers Reichskanzlei sollen, wenngleich bis heute nicht eindeutig bewiesen, zum Bau des sowjetischen Ehrenmals in Treptow und der U-Bahn-Station Mohrenstraße gedient haben.
Mit Dutzenden solcher bauhistorischen Detektivgeschichten weckt der in Weimar lehrende Mediävist Hans-Rudolf Meier das Interesse für eines der verwickeltsten Themen der Architekturgeschichte: die Wiederverwendung alter Substanz für neue Gebäude. Der Sammelbegriff "Spolien", der im Lateinischen für Raubgut und Beutestück steht, bezeichnet eine über zweitausend Jahre alte Praxis der gegenständlichen Überlieferung von Triumphen, Niederlagen und Erbansprüchen im Medium der Architektur. Meiers Buch platzt vor Literaturkenntnis und Anschauungsmaterial beinahe aus den Nähten und ist zudem so präzise illustriert, dass man von jedem Altbau fortan die Angabe von Herkunft und Inhaltsstoffen fordern möchte.
Der Autor schlägt einen Bogen vom spätantiken Rom über das europäische Mittelalter bis zur globalen Gegenwart, der er angesichts der architektonischen Wegwerfkultur eine neue Begeisterung für Spolien als "Identifikationsangebote" und "Authentizitätsversprechen" bescheinigt. Zwar gehörte in allen Epochen die Wiederverwendung älterer Bauglieder für Neubauten zur alltäglichen Materialbeschaffung. Aber Spolien als Bedeutungsträger, die entfernte Orte und Zeiten durch die Unmittelbarkeit dinglicher Objekte verbinden, sind erst seit dem Konstantinsbogen in Rom bekannt und erforscht. Für ihn wurde nicht nur der Bogen Marc Aurels geplündert, auch andere trajanische und hadrianische Vorläuferbauten lieferten Reliefspolien. Das erklärten Raffael und Vasari später mit dem spätantiken Verfall der Bildhauerei, der solchen Kunstklau erzwungen habe. Heutige Deutungen dagegen sehen eher die "Erbekonstruktion und Herrschaftslegitimation" Konstantins als Grund für die Anleihen bei seinen Vorgängern.
Im Gegensatz zu solchen Kontinuitätsversprechen standen die feindlichen Übernahmen seit Konstantin, als heidnische Bildwerke aus dem ganzen Reich in das "neue Rom" am Bosporus verschleppt wurden, um den christlichen Sieg über die Ungläubigen zu feiern. Eine legendäre Räuberpistole berichtet der Autor aus Jerusalem, wo nach der muslimischen Eroberung 1187 die Säulen des Grabes Christi zum Grab Mohammeds nach Medina (nicht Mekka, wie es im Buch irrtümlich heißt) abtransportiert wurden.
Seit der römischen Antike flossen gewaltige Stoffströme aus Bauteilen durch den Mittelmeerraum von Jerusalem nach Rom, Konstantinopel, Ravenna, Venedig bis nach Aachen. So durfte Karl der Große mit päpstlicher Genehmigung seine nachrömische Reichsübertragung mit Spolien aus Rom und Ravenna feiern, die bis heute seine Pfalzkapelle in Aachen schmücken. Und die Seerepublik Venedig klaute, um das Fehlen ihrer antiken Vergangenheit zu kompensieren, nach der Eroberung Konstantinopels 1204 dort so viel Raubkunst, dass Markusdom und Piazzetta zur weltgrößten Spoliensammlung wurden.
Alte Bauteile bekamen häufig Wunderkräfte wie Reliquien zugeschrieben, etwa im neuen Petersdom. Weithin sichtbar sind im Hauptschiff die originalen Weinrankensäulen des Petrusgrabes aus dem Vorgängerbau ebenbürtig mit den Hauptreliquien des Christentums eingebaut. Dort gibt es auch die "Colonna santa", an der der junge Jesus im Tempel zu Jerusalem gelehnt haben soll und der jahrhundertelang Heilwirkungen nachgesagt wurden. Von "kontaktmagischer Spolienverwendung" spricht der Autor bei der Auflösung von Altsubstanzen in Neubauten, wie es mit Marmorfragmenten in Mosaikfußböden oder Trümmerschutt bei Wiederaufbaukirchen geschah. Dass diese Einverleibung, ähnlich wie die gläubige Einnahme von pulverisierten Andachtsbildern und Mumienresten, auf kannibalische Praktiken verweist, deutet der Autor leider nur kurz an.
Wiederverwendungen hatten nicht nur politische oder kultische Gründe. Vielmehr sorgten sie jahrhundertelang für eine kontinuierliche Entwurfspraxis, weil alte Bauglieder die Proportionen für Neubauten gleich mitlieferten. Vasari beschrieb als Erster, dass alle großen Bauten der Antike aus Spolien entstanden seien und Architekten die gewünschte Baugestalt daraus ablesen konnten. Meier führt dazu das Schiffswrack von Marzamemi bei Sizilien an, das mit sämtlichen Gliedern eines Tempels aus justinianischer Zeit gesunken war - ohne jedoch zu klären, ob es Spolien oder Fertigteile der damaligen Baustoffindustrie waren.
Über die historische Generalinventur hinaus untersucht der Autor Dutzende aktueller Wiederverwendungen. Bei den spoliengesättigten Rekonstruktionen der Stadtschlösser von Braunschweig, Potsdam und Berlin schaudert es den Autor, während er sich über Pavillon-Neubauten aus originalen "Horten-Kacheln" in Magdeburg oder DDR-Kaufhäuser mit renovierten Alu-Wabenfassaden in Dresden und Leipzig als "Anklänge an das vertraute Bild" freut. Etwas unfair schmäht der Autor die Spolien-Collage der neuen Frankfurter Altstadt als gescheiterte "renovatio urbis" nach dem Vorbild des alten Rom.
Zugunsten einer strengen Systematisierung ordnet der Autor sein Material nicht nach historisch-geographischen, sondern funktionslogischen Kategorien wie Bedeutungszweck, Objektcharakter, Materialität und Kulturpraktiken. Dabei greift er zu Theoremen über Präsenz, Absenz und Verkörperung, deren Gegenstandsferne es erfordern, dass die gemeinten Bauten im Buch auf verwirrende Weise mehrfach auftauchen. Das ändert nichts an Meiers Verdienst, Spolienbauten neben allen geistigen Gehalten auch als ökologische Praxis der Ressourceneinsparung wiederzuentdecken, bei der das Recyclingdenken im Kopf beginnt, lange bevor das Abbruchmaterial auf der Sondermülldeponie landet.
MICHAEL MÖNNINGER
Hans-Rudolf Meier: "Spolien". Phänomene
der Wiederverwendung in der Architektur. Jovis Verlag, Berlin 2020. 239 S., Abb., geb., 38,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Michael Mönninger freut sich über Hans-Rudolf Meiers materialsatte und plastische Darstellung über die Wiederverwertung alter Baumaterialien und Raubkunst seit der Spätantike bis in die Gegenwart. Für Mönninger ein ganz besonderer Teil der Architekturgeschichte, den der Autor als penibel illustrierte "bauhistorische Detektivgeschichte" präsentiert. Ob Karl der Große oder die Dogen Venedigs - Meier nagelt die Räuber fest und identifiziert noch den letzten Stein aus Konstantinopel an Pfalzkapelle und Markusdom, staunt der Rezensent. Der "funktionslogischen" Ordnung im Band kann Mönninger gut folgen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"This book is a must-read for anyone seriously interested in spolia. The pleasures of the text are matched by the colorful, well-captioned illustrations, which are precisely chosen, perfectly rectified, and beautifully laid out. Kudos to the press for producing such a fine-looking volume." (Dale Kinney in sehepunkte, 10.2021)
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"Das Werk [...] verbindet das Wissen über die fernen Zeugen der Geschichte überaus anschaulich und anregend mit der architektonischen Praxis der Gegenwart." (Thomas Will in: https://www.bauwelt.de/rubriken/buecher/Spolien-Phaenomene-der-Wiederverwendung-in-der-Architektur-3884105.html (04.01.2023))
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"Das Werk [...] verbindet das Wissen über die fernen Zeugen der Geschichte überaus anschaulich und anregend mit der architektonischen Praxis der Gegenwart." (Thomas Will in: https://www.bauwelt.de/rubriken/buecher/Spolien-Phaenomene-der-Wiederverwendung-in-der-Architektur-3884105.html (04.01.2023))