Mit diesem Band liegt erstmals die lange erwartete Übersetzung von Quest for Excitement vor, aus der im Deutschen bisher nur wenige Kapitel veröffentlicht waren. In Zusammenarbeit mit dem Sportsoziologen Eric Dunning skizziert Elias hier die Geschichte der Bändigung der Angriffslust im Sport. Die Texte handeln vom griechischen Ringen, von der Fuchsjagd englischer Gentlemen, von mittelalterlichen Formen des Ballspiels bis zum heutigen Fußball mit seinen gelegentlichen Gewaltausbrüchen im Publikum. Eine Vielzahl detaillierter historischer Beschreibungen bildet die Grundlage, auf der die Autoren eine soziologische Theorie der Entwicklung von Sport und Spiel im Zusammenhang mit dem Zivilisationsprozeß entfalten. Warum verbringen die Menschen ihren Feierabend und das Wochenende mit Sport? Welche Impulse sind an dieser Lust am Sport beteiligt? Welche seelischen Bedürfnisse und Neigungen bestimmen das spezifische Verhalten in der Sportgruppe und die dort ausgeübte körperliche Gewalt? Warum ist Sport männerdominiert? In einer Zeit, in der Sport eine immer größere Rolle in der Gesellschaft spielt, sind diese Fragen über den Geist des Sports von unmittelbar erkennbarer Relevanz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.2003Man möchte halt auch mal schreien
Sport als zivilisierte Erregung: Ein soziologischer Versuch von Norbert Elias und Eric Dunning
Der moderne Staat hat das Monopol auf physische Gewalt an sich gezogen. Gefühlsbetonte Gegnerschaften innerhalb seines Gebietes duldet er nur als körperlose. Die moderne Gesellschaft ist ihrerseits eine, die überall weltweiten Einflüssen unterliegt. Sie bietet insofern wenig Gelegenheit zu regionalen Hochgefühlen. Weder Städte noch Dörfer stellen autarke Gebilde dar, politische Einheiten sind sie nur noch im Sinne der Verwaltung von Infrastrukturen. Auch sie geben also kaum noch Anlaß zur Bildung von "Wir-Gruppen". Die einzige Gelegenheit, so meinen die Soziologen Norbert Elias und Eric Dunning, bei der große, komplexe und unpersönliche soziale Gebilde wie Städte und Nationalstaaten noch eine friedliche, aber konfliktbereite Einheit bilden können, deren Grundlage den Namen "Wir-Gefühl" verdient, ist unter gegenwärtigen Bedingungen der Sport. Nur bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften tritt die Nation noch zum offenen Konflikt an, nur hier grenzt sie sich ebenso deutlich wie intensiv gegen die anderen ab. Nur hier stehen "Wir" und "Sie" in einem empirisch faßbaren Sinne diesseits des Krieges einander gegenüber.
Elias hat gemeinsam mit seinem Schüler eine Reihe von sportsoziologischen Aufsätzen verfaßt, die allesamt den modernen Sport durch seinen Umgang mit körperlicher Gewalt zu erschließen suchen, und sie 1986, vier Jahre bevor er starb, auf englisch unter dem Titel "Quest for Excitement", Suche nach Erregung, herausgegeben. Jetzt liegen sie komplett auf deutsch vor. Bisweilen durch Wiederholung ermüdend, werden zwei Thesen entwickelt: Der Sport, wie wir ihn kennen, entsteht in England in einer politischen Situation, die ihm auch im weiteren seine wichtigsten Merkmale aufprägt. Und: Das moderne Sportgeschehen ist kompensatorisch auf die Unterdrückung von körperlichen Exzessen im Alltagsleben bezogen.
Sport war einst eine wilde Angelegenheit. "Der Ball in diesem Spiel kann mit einem höllischen Geist verglichen werden: wer immer ihn fängt, verhält sich sofort wie ein Verrückter: er wehrt sich und prügelt sich mit denen, die versuchen, ihn festzuhalten; und sobald er den Ball verloren hat, so gibt er sein Wüten an den nächsten Empfänger mit dem Ball weiter, und er selbst wird wieder friedfertig wie zuvor." So Richard Carew 1602 über Hurling, eine Art walisisches Rugby. In den Boxkämpfen der Antike zerschlugen die Beteiligten einander regelmäßig die Knochen, Doping war normal, und Arrhachion aus Phigalia errang seinen dritten Olympiasieg als Toter, der im Starrkrampf seinem Gegner noch die Zehen brach, so daß dieser aufgab.
Ob Johan Huizinga diese alte Raufkultur meinte, als er festhielt, in der Industriegesellschaft sei dem Sport das Sorglos-Fröhliche abhanden gekommen? Fest steht, daß im achtzehnten Jahrhundert auf der Insel unter "sport" etwas viel stärker Poliertes verstanden wurde. Die Regeln, die man dem Fußball und dem Cricket, dem Boxen und der Fuchsjagd damals gab, sieht Elias als Spätprodukt der englischen Bürgerkriege. Deren Befriedung schuf ein System politischer Konkurrenz und ein labiles Konfliktsystem der Debatte zwischen Whigs und Tories, Stadt und Land, kleinem und großem Adel, das zunehmend selber sportive Züge annahm. Der Gentleman und sein Sport, Höflichkeit und Fairneß, traten zusammen hervor. In der Politik riß man sich ebenso wie auf dem grünen Rasen, von dem es in England reichlich gab, zusammen. Das Spiel selber wurde in Demokratie und Wettkampf zum Wert, nicht nur sein Ausgang. Auch der Sport, nicht nur die Politik, legitimierte sich durch Verfahren.
Die Begeisterung der Beteiligten am dergestalt zivilisierten Kampfgeschehen aber rührt von etwas anderem her. Je mehr der Alltag von Industrie und Büro, also von manierlichem Verhalten bestimmt ist, desto weniger kommen körperliche Impulse und blinde Wir-Gefühle auf ihre Kosten. Man möchte manchmal nur noch schreien - auf dem Sportplatz kann man es. Man möchte manchmal davonlaufen - mit dem Ball am Fuß ist es erlaubt. Man möchte es manchmal allen so richtig zeigen - nimm einen Tennisschläger, und tue es, wenn du kannst. Es ist die Langeweile des modernen Lebens, die, dieser Theorie zufolge, das Interesse am Sport hervorbringt. Kollektive Aufregung ist körperlich nur noch hier zu haben.
Nimmt man beide Thesen zusammen, dann ist Sport zivilisierte Erregung. Seine Geschichte läßt sich schreiben als der Versuch, beides in der Balance zu halten: die Erregung und die Regelhaftigkeit. Seine Faszination für den Zuschauer ist, wie dies gelingt, wie innerhalb von strikten Regeln kleine Exzesse möglich sind. Das gilt für die Spieler, aber auch für das Publikum. Dessen kleiner Exzeß ist das Wir-Gefühl, das friedlich nur noch im Stadion möglich ist - oder ohne Gegner bei Demonstrationen. Daß dem Fußballer inzwischen per Regel verboten wird, sich das Trikot vom Leib zu reißen, ist vor diesem Hintergrund ein Skandal. Und daß sich bislang niemand mit einer Europaauswahl im Fußball identifiziert, ist vor diesem Hintergrund eine interessante Tatsache.
JÜRGEN KAUBE
Norbert Elias, Eric Dunning, "Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation" (Norbert Elias, Gesammelte Schriften, Band 7). Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 529 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sport als zivilisierte Erregung: Ein soziologischer Versuch von Norbert Elias und Eric Dunning
Der moderne Staat hat das Monopol auf physische Gewalt an sich gezogen. Gefühlsbetonte Gegnerschaften innerhalb seines Gebietes duldet er nur als körperlose. Die moderne Gesellschaft ist ihrerseits eine, die überall weltweiten Einflüssen unterliegt. Sie bietet insofern wenig Gelegenheit zu regionalen Hochgefühlen. Weder Städte noch Dörfer stellen autarke Gebilde dar, politische Einheiten sind sie nur noch im Sinne der Verwaltung von Infrastrukturen. Auch sie geben also kaum noch Anlaß zur Bildung von "Wir-Gruppen". Die einzige Gelegenheit, so meinen die Soziologen Norbert Elias und Eric Dunning, bei der große, komplexe und unpersönliche soziale Gebilde wie Städte und Nationalstaaten noch eine friedliche, aber konfliktbereite Einheit bilden können, deren Grundlage den Namen "Wir-Gefühl" verdient, ist unter gegenwärtigen Bedingungen der Sport. Nur bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften tritt die Nation noch zum offenen Konflikt an, nur hier grenzt sie sich ebenso deutlich wie intensiv gegen die anderen ab. Nur hier stehen "Wir" und "Sie" in einem empirisch faßbaren Sinne diesseits des Krieges einander gegenüber.
Elias hat gemeinsam mit seinem Schüler eine Reihe von sportsoziologischen Aufsätzen verfaßt, die allesamt den modernen Sport durch seinen Umgang mit körperlicher Gewalt zu erschließen suchen, und sie 1986, vier Jahre bevor er starb, auf englisch unter dem Titel "Quest for Excitement", Suche nach Erregung, herausgegeben. Jetzt liegen sie komplett auf deutsch vor. Bisweilen durch Wiederholung ermüdend, werden zwei Thesen entwickelt: Der Sport, wie wir ihn kennen, entsteht in England in einer politischen Situation, die ihm auch im weiteren seine wichtigsten Merkmale aufprägt. Und: Das moderne Sportgeschehen ist kompensatorisch auf die Unterdrückung von körperlichen Exzessen im Alltagsleben bezogen.
Sport war einst eine wilde Angelegenheit. "Der Ball in diesem Spiel kann mit einem höllischen Geist verglichen werden: wer immer ihn fängt, verhält sich sofort wie ein Verrückter: er wehrt sich und prügelt sich mit denen, die versuchen, ihn festzuhalten; und sobald er den Ball verloren hat, so gibt er sein Wüten an den nächsten Empfänger mit dem Ball weiter, und er selbst wird wieder friedfertig wie zuvor." So Richard Carew 1602 über Hurling, eine Art walisisches Rugby. In den Boxkämpfen der Antike zerschlugen die Beteiligten einander regelmäßig die Knochen, Doping war normal, und Arrhachion aus Phigalia errang seinen dritten Olympiasieg als Toter, der im Starrkrampf seinem Gegner noch die Zehen brach, so daß dieser aufgab.
Ob Johan Huizinga diese alte Raufkultur meinte, als er festhielt, in der Industriegesellschaft sei dem Sport das Sorglos-Fröhliche abhanden gekommen? Fest steht, daß im achtzehnten Jahrhundert auf der Insel unter "sport" etwas viel stärker Poliertes verstanden wurde. Die Regeln, die man dem Fußball und dem Cricket, dem Boxen und der Fuchsjagd damals gab, sieht Elias als Spätprodukt der englischen Bürgerkriege. Deren Befriedung schuf ein System politischer Konkurrenz und ein labiles Konfliktsystem der Debatte zwischen Whigs und Tories, Stadt und Land, kleinem und großem Adel, das zunehmend selber sportive Züge annahm. Der Gentleman und sein Sport, Höflichkeit und Fairneß, traten zusammen hervor. In der Politik riß man sich ebenso wie auf dem grünen Rasen, von dem es in England reichlich gab, zusammen. Das Spiel selber wurde in Demokratie und Wettkampf zum Wert, nicht nur sein Ausgang. Auch der Sport, nicht nur die Politik, legitimierte sich durch Verfahren.
Die Begeisterung der Beteiligten am dergestalt zivilisierten Kampfgeschehen aber rührt von etwas anderem her. Je mehr der Alltag von Industrie und Büro, also von manierlichem Verhalten bestimmt ist, desto weniger kommen körperliche Impulse und blinde Wir-Gefühle auf ihre Kosten. Man möchte manchmal nur noch schreien - auf dem Sportplatz kann man es. Man möchte manchmal davonlaufen - mit dem Ball am Fuß ist es erlaubt. Man möchte es manchmal allen so richtig zeigen - nimm einen Tennisschläger, und tue es, wenn du kannst. Es ist die Langeweile des modernen Lebens, die, dieser Theorie zufolge, das Interesse am Sport hervorbringt. Kollektive Aufregung ist körperlich nur noch hier zu haben.
Nimmt man beide Thesen zusammen, dann ist Sport zivilisierte Erregung. Seine Geschichte läßt sich schreiben als der Versuch, beides in der Balance zu halten: die Erregung und die Regelhaftigkeit. Seine Faszination für den Zuschauer ist, wie dies gelingt, wie innerhalb von strikten Regeln kleine Exzesse möglich sind. Das gilt für die Spieler, aber auch für das Publikum. Dessen kleiner Exzeß ist das Wir-Gefühl, das friedlich nur noch im Stadion möglich ist - oder ohne Gegner bei Demonstrationen. Daß dem Fußballer inzwischen per Regel verboten wird, sich das Trikot vom Leib zu reißen, ist vor diesem Hintergrund ein Skandal. Und daß sich bislang niemand mit einer Europaauswahl im Fußball identifiziert, ist vor diesem Hintergrund eine interessante Tatsache.
JÜRGEN KAUBE
Norbert Elias, Eric Dunning, "Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation" (Norbert Elias, Gesammelte Schriften, Band 7). Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 529 S., geb., 34,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Norbert Elias' Aufsätze über den Sport, die nun zusammen mit Arbeiten seines Schülers Eric Dunning in deutscher Übersetzung vorliegen, haben Rezensent Michael Ott im Großen und Ganzen überzeugt. Wie Ott berichtet, kehren in den "weit ausgreifenden" Beiträgen einige Leitgedanken immer wieder, etwa, dass der Sport nur im Blick auf die Gesamtgesellschaft sinnvoll zu betrachten sei. Auch Elias' Modell der Zivilisationstheorie, wonach die soziale Entwicklung der Neuzeit eine Verinnerlichung sozialen Zwangs, der "Zivilisierung" archaischer Affekte und der Verfeinerung von Verhaltensstandards, darstellt, scheint laut Ott immer wieder durch. Insbesondere die historischen Analysen, etwa zur Entstehung des Fußballs und des Boxens in England, findet er "noch immer lesenswert". Einige der Texte - die frühesten stammen aus den 1960er Jahren - haben Ott zufolge allerdings ein wenig Patina angesetzt. Zudem geht es ihm bisweilen allzu theoretisch abstrakt zu. Als wirkliches Defizit wertet er, dass die Frage nach der Rolle der Medien im Sport, ihres Rückkopplungs- und Katalysatoreffekts nahezu unberücksichtigt bleibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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