Mit diesem Band liegt erstmals die lange erwartete Übersetzung von Quest for Excitement vor, aus der im Deutschen bisher nur wenige Kapitel veröffentlicht waren. In Zusammenarbeit mit dem Sportsoziologen Eric Dunning skizziert Elias hier die Geschichte der Bändigung der Angriffslust im Sport. Die Texte handeln vom griechischen Ringen, von der Fuchsjagd englischer Gentlemen, von mittelalterlichen Formen des Ballspiels bis zum heutigen Fußball mit seinen gelegentlichen Gewaltausbrüchen im Publikum. Eine Vielzahl detaillierter historischer Beschreibungen bildet die Grundlage, auf der die Autoren eine soziologische Theorie der Entwicklung von Sport und Spiel im Zusammenhang mit dem Zivilisationsprozeß entfalten. Warum verbringen die Menschen ihren Feierabend und das Wochenende mit Sport? Welche Impulse sind an dieser Lust am Sport beteiligt? Welche seelischen Bedürfnisse und Neigungen bestimmen das spezifische Verhalten in der Sportgruppe und die dort ausgeübte körperliche Gewalt? Warum ist Sport männerdominiert? In einer Zeit, in der Sport eine immer größere Rolle in der Gesellschaft spielt, sind diese Fragen über den Geist des Sports von unmittelbar erkennbarer Relevanz.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.06.2003Man möchte halt auch mal schreien
Sport als zivilisierte Erregung: Ein soziologischer Versuch von Norbert Elias und Eric Dunning
Der moderne Staat hat das Monopol auf physische Gewalt an sich gezogen. Gefühlsbetonte Gegnerschaften innerhalb seines Gebietes duldet er nur als körperlose. Die moderne Gesellschaft ist ihrerseits eine, die überall weltweiten Einflüssen unterliegt. Sie bietet insofern wenig Gelegenheit zu regionalen Hochgefühlen. Weder Städte noch Dörfer stellen autarke Gebilde dar, politische Einheiten sind sie nur noch im Sinne der Verwaltung von Infrastrukturen. Auch sie geben also kaum noch Anlaß zur Bildung von "Wir-Gruppen". Die einzige Gelegenheit, so meinen die Soziologen Norbert Elias und Eric Dunning, bei der große, komplexe und unpersönliche soziale Gebilde wie Städte und Nationalstaaten noch eine friedliche, aber konfliktbereite Einheit bilden können, deren Grundlage den Namen "Wir-Gefühl" verdient, ist unter gegenwärtigen Bedingungen der Sport. Nur bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften tritt die Nation noch zum offenen Konflikt an, nur hier grenzt sie sich ebenso deutlich wie intensiv gegen die anderen ab. Nur hier stehen "Wir" und "Sie" in einem empirisch faßbaren Sinne diesseits des Krieges einander gegenüber.
Elias hat gemeinsam mit seinem Schüler eine Reihe von sportsoziologischen Aufsätzen verfaßt, die allesamt den modernen Sport durch seinen Umgang mit körperlicher Gewalt zu erschließen suchen, und sie 1986, vier Jahre bevor er starb, auf englisch unter dem Titel "Quest for Excitement", Suche nach Erregung, herausgegeben. Jetzt liegen sie komplett auf deutsch vor. Bisweilen durch Wiederholung ermüdend, werden zwei Thesen entwickelt: Der Sport, wie wir ihn kennen, entsteht in England in einer politischen Situation, die ihm auch im weiteren seine wichtigsten Merkmale aufprägt. Und: Das moderne Sportgeschehen ist kompensatorisch auf die Unterdrückung von körperlichen Exzessen im Alltagsleben bezogen.
Sport war einst eine wilde Angelegenheit. "Der Ball in diesem Spiel kann mit einem höllischen Geist verglichen werden: wer immer ihn fängt, verhält sich sofort wie ein Verrückter: er wehrt sich und prügelt sich mit denen, die versuchen, ihn festzuhalten; und sobald er den Ball verloren hat, so gibt er sein Wüten an den nächsten Empfänger mit dem Ball weiter, und er selbst wird wieder friedfertig wie zuvor." So Richard Carew 1602 über Hurling, eine Art walisisches Rugby. In den Boxkämpfen der Antike zerschlugen die Beteiligten einander regelmäßig die Knochen, Doping war normal, und Arrhachion aus Phigalia errang seinen dritten Olympiasieg als Toter, der im Starrkrampf seinem Gegner noch die Zehen brach, so daß dieser aufgab.
Ob Johan Huizinga diese alte Raufkultur meinte, als er festhielt, in der Industriegesellschaft sei dem Sport das Sorglos-Fröhliche abhanden gekommen? Fest steht, daß im achtzehnten Jahrhundert auf der Insel unter "sport" etwas viel stärker Poliertes verstanden wurde. Die Regeln, die man dem Fußball und dem Cricket, dem Boxen und der Fuchsjagd damals gab, sieht Elias als Spätprodukt der englischen Bürgerkriege. Deren Befriedung schuf ein System politischer Konkurrenz und ein labiles Konfliktsystem der Debatte zwischen Whigs und Tories, Stadt und Land, kleinem und großem Adel, das zunehmend selber sportive Züge annahm. Der Gentleman und sein Sport, Höflichkeit und Fairneß, traten zusammen hervor. In der Politik riß man sich ebenso wie auf dem grünen Rasen, von dem es in England reichlich gab, zusammen. Das Spiel selber wurde in Demokratie und Wettkampf zum Wert, nicht nur sein Ausgang. Auch der Sport, nicht nur die Politik, legitimierte sich durch Verfahren.
Die Begeisterung der Beteiligten am dergestalt zivilisierten Kampfgeschehen aber rührt von etwas anderem her. Je mehr der Alltag von Industrie und Büro, also von manierlichem Verhalten bestimmt ist, desto weniger kommen körperliche Impulse und blinde Wir-Gefühle auf ihre Kosten. Man möchte manchmal nur noch schreien - auf dem Sportplatz kann man es. Man möchte manchmal davonlaufen - mit dem Ball am Fuß ist es erlaubt. Man möchte es manchmal allen so richtig zeigen - nimm einen Tennisschläger, und tue es, wenn du kannst. Es ist die Langeweile des modernen Lebens, die, dieser Theorie zufolge, das Interesse am Sport hervorbringt. Kollektive Aufregung ist körperlich nur noch hier zu haben.
Nimmt man beide Thesen zusammen, dann ist Sport zivilisierte Erregung. Seine Geschichte läßt sich schreiben als der Versuch, beides in der Balance zu halten: die Erregung und die Regelhaftigkeit. Seine Faszination für den Zuschauer ist, wie dies gelingt, wie innerhalb von strikten Regeln kleine Exzesse möglich sind. Das gilt für die Spieler, aber auch für das Publikum. Dessen kleiner Exzeß ist das Wir-Gefühl, das friedlich nur noch im Stadion möglich ist - oder ohne Gegner bei Demonstrationen. Daß dem Fußballer inzwischen per Regel verboten wird, sich das Trikot vom Leib zu reißen, ist vor diesem Hintergrund ein Skandal. Und daß sich bislang niemand mit einer Europaauswahl im Fußball identifiziert, ist vor diesem Hintergrund eine interessante Tatsache.
JÜRGEN KAUBE
Norbert Elias, Eric Dunning, "Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation" (Norbert Elias, Gesammelte Schriften, Band 7). Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 529 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sport als zivilisierte Erregung: Ein soziologischer Versuch von Norbert Elias und Eric Dunning
Der moderne Staat hat das Monopol auf physische Gewalt an sich gezogen. Gefühlsbetonte Gegnerschaften innerhalb seines Gebietes duldet er nur als körperlose. Die moderne Gesellschaft ist ihrerseits eine, die überall weltweiten Einflüssen unterliegt. Sie bietet insofern wenig Gelegenheit zu regionalen Hochgefühlen. Weder Städte noch Dörfer stellen autarke Gebilde dar, politische Einheiten sind sie nur noch im Sinne der Verwaltung von Infrastrukturen. Auch sie geben also kaum noch Anlaß zur Bildung von "Wir-Gruppen". Die einzige Gelegenheit, so meinen die Soziologen Norbert Elias und Eric Dunning, bei der große, komplexe und unpersönliche soziale Gebilde wie Städte und Nationalstaaten noch eine friedliche, aber konfliktbereite Einheit bilden können, deren Grundlage den Namen "Wir-Gefühl" verdient, ist unter gegenwärtigen Bedingungen der Sport. Nur bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften tritt die Nation noch zum offenen Konflikt an, nur hier grenzt sie sich ebenso deutlich wie intensiv gegen die anderen ab. Nur hier stehen "Wir" und "Sie" in einem empirisch faßbaren Sinne diesseits des Krieges einander gegenüber.
Elias hat gemeinsam mit seinem Schüler eine Reihe von sportsoziologischen Aufsätzen verfaßt, die allesamt den modernen Sport durch seinen Umgang mit körperlicher Gewalt zu erschließen suchen, und sie 1986, vier Jahre bevor er starb, auf englisch unter dem Titel "Quest for Excitement", Suche nach Erregung, herausgegeben. Jetzt liegen sie komplett auf deutsch vor. Bisweilen durch Wiederholung ermüdend, werden zwei Thesen entwickelt: Der Sport, wie wir ihn kennen, entsteht in England in einer politischen Situation, die ihm auch im weiteren seine wichtigsten Merkmale aufprägt. Und: Das moderne Sportgeschehen ist kompensatorisch auf die Unterdrückung von körperlichen Exzessen im Alltagsleben bezogen.
Sport war einst eine wilde Angelegenheit. "Der Ball in diesem Spiel kann mit einem höllischen Geist verglichen werden: wer immer ihn fängt, verhält sich sofort wie ein Verrückter: er wehrt sich und prügelt sich mit denen, die versuchen, ihn festzuhalten; und sobald er den Ball verloren hat, so gibt er sein Wüten an den nächsten Empfänger mit dem Ball weiter, und er selbst wird wieder friedfertig wie zuvor." So Richard Carew 1602 über Hurling, eine Art walisisches Rugby. In den Boxkämpfen der Antike zerschlugen die Beteiligten einander regelmäßig die Knochen, Doping war normal, und Arrhachion aus Phigalia errang seinen dritten Olympiasieg als Toter, der im Starrkrampf seinem Gegner noch die Zehen brach, so daß dieser aufgab.
Ob Johan Huizinga diese alte Raufkultur meinte, als er festhielt, in der Industriegesellschaft sei dem Sport das Sorglos-Fröhliche abhanden gekommen? Fest steht, daß im achtzehnten Jahrhundert auf der Insel unter "sport" etwas viel stärker Poliertes verstanden wurde. Die Regeln, die man dem Fußball und dem Cricket, dem Boxen und der Fuchsjagd damals gab, sieht Elias als Spätprodukt der englischen Bürgerkriege. Deren Befriedung schuf ein System politischer Konkurrenz und ein labiles Konfliktsystem der Debatte zwischen Whigs und Tories, Stadt und Land, kleinem und großem Adel, das zunehmend selber sportive Züge annahm. Der Gentleman und sein Sport, Höflichkeit und Fairneß, traten zusammen hervor. In der Politik riß man sich ebenso wie auf dem grünen Rasen, von dem es in England reichlich gab, zusammen. Das Spiel selber wurde in Demokratie und Wettkampf zum Wert, nicht nur sein Ausgang. Auch der Sport, nicht nur die Politik, legitimierte sich durch Verfahren.
Die Begeisterung der Beteiligten am dergestalt zivilisierten Kampfgeschehen aber rührt von etwas anderem her. Je mehr der Alltag von Industrie und Büro, also von manierlichem Verhalten bestimmt ist, desto weniger kommen körperliche Impulse und blinde Wir-Gefühle auf ihre Kosten. Man möchte manchmal nur noch schreien - auf dem Sportplatz kann man es. Man möchte manchmal davonlaufen - mit dem Ball am Fuß ist es erlaubt. Man möchte es manchmal allen so richtig zeigen - nimm einen Tennisschläger, und tue es, wenn du kannst. Es ist die Langeweile des modernen Lebens, die, dieser Theorie zufolge, das Interesse am Sport hervorbringt. Kollektive Aufregung ist körperlich nur noch hier zu haben.
Nimmt man beide Thesen zusammen, dann ist Sport zivilisierte Erregung. Seine Geschichte läßt sich schreiben als der Versuch, beides in der Balance zu halten: die Erregung und die Regelhaftigkeit. Seine Faszination für den Zuschauer ist, wie dies gelingt, wie innerhalb von strikten Regeln kleine Exzesse möglich sind. Das gilt für die Spieler, aber auch für das Publikum. Dessen kleiner Exzeß ist das Wir-Gefühl, das friedlich nur noch im Stadion möglich ist - oder ohne Gegner bei Demonstrationen. Daß dem Fußballer inzwischen per Regel verboten wird, sich das Trikot vom Leib zu reißen, ist vor diesem Hintergrund ein Skandal. Und daß sich bislang niemand mit einer Europaauswahl im Fußball identifiziert, ist vor diesem Hintergrund eine interessante Tatsache.
JÜRGEN KAUBE
Norbert Elias, Eric Dunning, "Sport und Spannung im Prozeß der Zivilisation" (Norbert Elias, Gesammelte Schriften, Band 7). Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 529 S., geb., 34,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.09.2003Willkommen im Club
Ausgereift: Norbert Elias über Sport und Spannung
Könnte eigentlich einmal, wie es in Schillers „Wallenstein” heißt, die Erde urplötzlich aus ihrer Bahn treten? Zum Beispiel, wenn Millionen Fernsehzuschauer gleichzeitig schreiend aus ihren Sitzen springen und einen entsprechenden Rückstoß erzeugen? An einem Montag im Juli hätte es so weit sein können: Bei der „Königsetappe” der Tour de France nach Luz-Ardiden verfing sich der Rennradlenker von Lance Armstrong in der Stofftasche eines Zuschauers, und der Favorit landete unsanft auf der Straße. Einige Sekunden lang schien alles möglich. Doch Armstrong rappelte sich hoch, Jan Ullrich wartete fair auf ihn – und hatte schließlich das Nachsehen, als der Amerikaner adrenalingetrieben zum Etappensieg davonflog.
Alles blieb somit beim Alten; die Erde zog weiter ungerührt ihre Bahn, und von dem Ganzen blieben nichts als einige Sekunden unvergesslicher Dramatik und Spannung. Nur – wie entsteht eigentlich diese Spannung? Wie kann ein so banales Ereignis bei Millionen von Menschen so heftige Emotionen erzeugen, dass sie den Adrenalinschub förmlich am eigenen Körper spüren? Und hat diese Emotionsmaschine Sport, das Urbild aller leidenschaftlichen Spektakel, eine soziale Bedeutung und Funktion?
Die Philosophie und auch ihre späten Enkel, die Sozialwissenschaften, haben sich mit dem Sport lange Zeit kaum beschäftigt – und wenn, dann eher indigniert. Für Thorstein Veblen zum Beispiel stellte er eine Art Rest-Barbarei in der Moderne dar, den „Ausdruck einer zum Stillstand gekommenen geistigen und moralischen Entwicklung”; Adorno, ihm folgend, galten Sportveranstaltungen als „Modelle der totalitären Massenversammlungen” und der Sport als Dressur des Menschen zur Maschine. Erst seit den sechziger Jahren begann sich ein differenzierteres, weniger kulturpessimistisches Bild des Sports in der Soziologie abzuzeichnen, wozu vor allem die Aufsätze Norbert Elias’ beitrugen. Zusammen mit Arbeiten seines Schülers Eric Dunning sind sie nun, reichlich verspätet, gesammelt auch in deutscher Übersetzung erschienen.
In den weit ausgreifenden Beiträgen zur Genese des Sports, zu Freizeit und Muße, Gewalt und Zuschauerausschreitungen kehren einige Leitgedanken immer wieder: Der Sport ist nicht isoliert, sondern nur in Relation zur Gesamtgesellschaft sinnvoll zu betrachten – also zu ihren Organisationsformen von Arbeit und Zeit, ihren Ungleichheits- und Gruppenstrukturen und vor allem ihren Mustern der Gewaltkontrolle und Gewaltausübung. Gewiss führt der Sport ein „Eigenleben”, doch verstehen kann man seine Bedeutung nicht aus sich allein: Unübersehbar ist seine exorbitante Ausweitung im 19. und 20. Jahrhundert eine Parallelgeschichte der Industrialisierung.
Und wie nicht anders zu erwarten, scheint dabei als Basistheorem stets Elias’ berühmtes Modell der Zivilisationstheorie durch: Die soziale Evolution der Neuzeit ist eine der Verinnerlichung sozialen Zwangs, der „Zivilisierung” archaischer Affekte und der Verfeinerung von Verhaltensstandards; dem damit entstehenden Zwang zur Selbstbeherrschung bietet der Sport ein sozial kontrolliertes Ausgleichsfeld, in dem (bis zu einem bestimmten Punkt) Affekte ausgelebt werden können, ohne Reue und Peinlichkeit gebrüllt und gekämpft werden darf, in dem aber auch begrenzende Regeln (wie jene der Fairness) eingeübt und Gemeinschaft gestiftet wird: Willkommen im Club.
Gerade die für die spätere Forschung wegweisenden historischen Analysen – zur Entstehung des Fußballs und des Boxens in England beispielsweise – sind noch immer lesenswert: Die Entwicklung der Sportarten bis zu einem bestimmten Stadium der „Reife”, des voll ausgeprägten Regelwerks, integrierte oft ganz unterschiedliche Bedürfnisse und unterlag vielen Faktoren; nur höchst selten kam ja eine Sportart sozusagen fertig auf die Welt (wie beim Basketball, das ein gewisser Dr. James Naismith aus Springfield, Massachusetts, erfand). Elias’ Beobachtungen zum Fußball oder auch zur Jagd bieten einen faszinierenden Blick auf die „Naturalisierung” der Regeln, die häufig erst von den nationalen Verbänden vereinheitlicht wurden, deren Änderung – siehe „Golden” bzw. neuerdings „Silver Goal” – stets prekär bleiben und den Fernseh-Kommentatoren minutenlange Erläuterungen abverlangen.
Trödeln am Fernseher
Unübersehbar ist freilich, dass die Texte, von denen die frühesten schon aus den 60er Jahren stammen, auch einige Patina angesetzt haben: So wird häufig das Wettrüsten der Supermächte erwähnt; und von Spannung ist zwar seitenlang die Rede, oft aber wenig zu spüren. Verständlich, jedoch nicht immer gut verträglich ist auch, dass der Sport hier häufig weniger Gegenstand als Anschauungsbeispiel für weitergehende methodische oder theoretische Überlegungen herhalten muss: Die Darstellung schwankt zwischen einer gewissen Banalität („Man vertrödelt also seine Zeit bei Radio und Fernsehen”) und einer forciert abstrakten Terminologie von „figurationaler Dynamik” und „kontrolliert fluktuierender Spannungsbalance”.
Wichtiger aber ist wohl ein anderes Defizit: Während die Geschlechterforschung wenigstens in den letzten Texten noch wahrgenommen und Sport auch als Männlichkeitsdomäne untersucht wird, bleibt die Frage der Medien, ihres Rückkopplungs- und Katalysatoreffekts nahezu völlig außen vor. Elias und Dunning untersuchen Sport stets als Praxis körperlicher Präsenz und sozialer Naherfahrung; um die Identifikationseffekte, die emotionalen Ausbrüche und auch die ökonomischen Exzesse des modernen Sports zu analysieren, reicht das allerdings nicht aus. Dass die Tour de France keine Erfindung leidenschaftlicher Freizeitradler war, sondern von Beginn an das Produkt einer Sportzeitung, nimmt zwar vielen Einsichten Elias’ nichts von ihrer Triftigkeit; doch wird die künftige Sportsoziologie ohne Medienanalyse wohl keinen Berg mehr hochkommen – oder allenfalls im Besenwagen.
MICHAEL OTT
NORBERT ELIAS, ERIC DUNNING: Sport und Spannung im Prozess der Zivilisation. Übersetzt von Detlef Bremecke, Wilhelm Hopf und Reinhardt Peter Nippert (Gesammelte Schriften, Bd. 7). Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 529 Seiten, 34,90 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Ausgereift: Norbert Elias über Sport und Spannung
Könnte eigentlich einmal, wie es in Schillers „Wallenstein” heißt, die Erde urplötzlich aus ihrer Bahn treten? Zum Beispiel, wenn Millionen Fernsehzuschauer gleichzeitig schreiend aus ihren Sitzen springen und einen entsprechenden Rückstoß erzeugen? An einem Montag im Juli hätte es so weit sein können: Bei der „Königsetappe” der Tour de France nach Luz-Ardiden verfing sich der Rennradlenker von Lance Armstrong in der Stofftasche eines Zuschauers, und der Favorit landete unsanft auf der Straße. Einige Sekunden lang schien alles möglich. Doch Armstrong rappelte sich hoch, Jan Ullrich wartete fair auf ihn – und hatte schließlich das Nachsehen, als der Amerikaner adrenalingetrieben zum Etappensieg davonflog.
Alles blieb somit beim Alten; die Erde zog weiter ungerührt ihre Bahn, und von dem Ganzen blieben nichts als einige Sekunden unvergesslicher Dramatik und Spannung. Nur – wie entsteht eigentlich diese Spannung? Wie kann ein so banales Ereignis bei Millionen von Menschen so heftige Emotionen erzeugen, dass sie den Adrenalinschub förmlich am eigenen Körper spüren? Und hat diese Emotionsmaschine Sport, das Urbild aller leidenschaftlichen Spektakel, eine soziale Bedeutung und Funktion?
Die Philosophie und auch ihre späten Enkel, die Sozialwissenschaften, haben sich mit dem Sport lange Zeit kaum beschäftigt – und wenn, dann eher indigniert. Für Thorstein Veblen zum Beispiel stellte er eine Art Rest-Barbarei in der Moderne dar, den „Ausdruck einer zum Stillstand gekommenen geistigen und moralischen Entwicklung”; Adorno, ihm folgend, galten Sportveranstaltungen als „Modelle der totalitären Massenversammlungen” und der Sport als Dressur des Menschen zur Maschine. Erst seit den sechziger Jahren begann sich ein differenzierteres, weniger kulturpessimistisches Bild des Sports in der Soziologie abzuzeichnen, wozu vor allem die Aufsätze Norbert Elias’ beitrugen. Zusammen mit Arbeiten seines Schülers Eric Dunning sind sie nun, reichlich verspätet, gesammelt auch in deutscher Übersetzung erschienen.
In den weit ausgreifenden Beiträgen zur Genese des Sports, zu Freizeit und Muße, Gewalt und Zuschauerausschreitungen kehren einige Leitgedanken immer wieder: Der Sport ist nicht isoliert, sondern nur in Relation zur Gesamtgesellschaft sinnvoll zu betrachten – also zu ihren Organisationsformen von Arbeit und Zeit, ihren Ungleichheits- und Gruppenstrukturen und vor allem ihren Mustern der Gewaltkontrolle und Gewaltausübung. Gewiss führt der Sport ein „Eigenleben”, doch verstehen kann man seine Bedeutung nicht aus sich allein: Unübersehbar ist seine exorbitante Ausweitung im 19. und 20. Jahrhundert eine Parallelgeschichte der Industrialisierung.
Und wie nicht anders zu erwarten, scheint dabei als Basistheorem stets Elias’ berühmtes Modell der Zivilisationstheorie durch: Die soziale Evolution der Neuzeit ist eine der Verinnerlichung sozialen Zwangs, der „Zivilisierung” archaischer Affekte und der Verfeinerung von Verhaltensstandards; dem damit entstehenden Zwang zur Selbstbeherrschung bietet der Sport ein sozial kontrolliertes Ausgleichsfeld, in dem (bis zu einem bestimmten Punkt) Affekte ausgelebt werden können, ohne Reue und Peinlichkeit gebrüllt und gekämpft werden darf, in dem aber auch begrenzende Regeln (wie jene der Fairness) eingeübt und Gemeinschaft gestiftet wird: Willkommen im Club.
Gerade die für die spätere Forschung wegweisenden historischen Analysen – zur Entstehung des Fußballs und des Boxens in England beispielsweise – sind noch immer lesenswert: Die Entwicklung der Sportarten bis zu einem bestimmten Stadium der „Reife”, des voll ausgeprägten Regelwerks, integrierte oft ganz unterschiedliche Bedürfnisse und unterlag vielen Faktoren; nur höchst selten kam ja eine Sportart sozusagen fertig auf die Welt (wie beim Basketball, das ein gewisser Dr. James Naismith aus Springfield, Massachusetts, erfand). Elias’ Beobachtungen zum Fußball oder auch zur Jagd bieten einen faszinierenden Blick auf die „Naturalisierung” der Regeln, die häufig erst von den nationalen Verbänden vereinheitlicht wurden, deren Änderung – siehe „Golden” bzw. neuerdings „Silver Goal” – stets prekär bleiben und den Fernseh-Kommentatoren minutenlange Erläuterungen abverlangen.
Trödeln am Fernseher
Unübersehbar ist freilich, dass die Texte, von denen die frühesten schon aus den 60er Jahren stammen, auch einige Patina angesetzt haben: So wird häufig das Wettrüsten der Supermächte erwähnt; und von Spannung ist zwar seitenlang die Rede, oft aber wenig zu spüren. Verständlich, jedoch nicht immer gut verträglich ist auch, dass der Sport hier häufig weniger Gegenstand als Anschauungsbeispiel für weitergehende methodische oder theoretische Überlegungen herhalten muss: Die Darstellung schwankt zwischen einer gewissen Banalität („Man vertrödelt also seine Zeit bei Radio und Fernsehen”) und einer forciert abstrakten Terminologie von „figurationaler Dynamik” und „kontrolliert fluktuierender Spannungsbalance”.
Wichtiger aber ist wohl ein anderes Defizit: Während die Geschlechterforschung wenigstens in den letzten Texten noch wahrgenommen und Sport auch als Männlichkeitsdomäne untersucht wird, bleibt die Frage der Medien, ihres Rückkopplungs- und Katalysatoreffekts nahezu völlig außen vor. Elias und Dunning untersuchen Sport stets als Praxis körperlicher Präsenz und sozialer Naherfahrung; um die Identifikationseffekte, die emotionalen Ausbrüche und auch die ökonomischen Exzesse des modernen Sports zu analysieren, reicht das allerdings nicht aus. Dass die Tour de France keine Erfindung leidenschaftlicher Freizeitradler war, sondern von Beginn an das Produkt einer Sportzeitung, nimmt zwar vielen Einsichten Elias’ nichts von ihrer Triftigkeit; doch wird die künftige Sportsoziologie ohne Medienanalyse wohl keinen Berg mehr hochkommen – oder allenfalls im Besenwagen.
MICHAEL OTT
NORBERT ELIAS, ERIC DUNNING: Sport und Spannung im Prozess der Zivilisation. Übersetzt von Detlef Bremecke, Wilhelm Hopf und Reinhardt Peter Nippert (Gesammelte Schriften, Bd. 7). Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003. 529 Seiten, 34,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Norbert Elias' Aufsätze über den Sport, die nun zusammen mit Arbeiten seines Schülers Eric Dunning in deutscher Übersetzung vorliegen, haben Rezensent Michael Ott im Großen und Ganzen überzeugt. Wie Ott berichtet, kehren in den "weit ausgreifenden" Beiträgen einige Leitgedanken immer wieder, etwa, dass der Sport nur im Blick auf die Gesamtgesellschaft sinnvoll zu betrachten sei. Auch Elias' Modell der Zivilisationstheorie, wonach die soziale Entwicklung der Neuzeit eine Verinnerlichung sozialen Zwangs, der "Zivilisierung" archaischer Affekte und der Verfeinerung von Verhaltensstandards, darstellt, scheint laut Ott immer wieder durch. Insbesondere die historischen Analysen, etwa zur Entstehung des Fußballs und des Boxens in England, findet er "noch immer lesenswert". Einige der Texte - die frühesten stammen aus den 1960er Jahren - haben Ott zufolge allerdings ein wenig Patina angesetzt. Zudem geht es ihm bisweilen allzu theoretisch abstrakt zu. Als wirkliches Defizit wertet er, dass die Frage nach der Rolle der Medien im Sport, ihres Rückkopplungs- und Katalysatoreffekts nahezu unberücksichtigt bleibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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