Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen? Zwölf einflussreiche Sprachdenker des letzten Jahrhunderts werden so dargestellt, dass ihre Antwort auf diese Frage hervortritt. Dabei ergibt sich ein überraschendes Bild: Die »pragmatische Wende« trennt Saussure und Chomsky nicht mehr von Searle und Habermas. Denn diese Autoren stimmen überein in der Annahme vom logisch-genealogischen Primat der Sprache gegenüber dem jedesmaligen Sprechen. Doch für Denker wie Wittgenstein, Austin, Luhmann, Davidson, Lacan, Derrida, Butler und Bourdieu ist das sprachliche Können keineswegs fundiert in einem Wissen um die universellen Regeln von Sprache und Kommunikation.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.07.2001Zwei Welten
Sybille Krämer entschlüsselt die Sprachtheorie neu
Ein Kompendium der "belangvollen und anschlußfähigen" unter den Sprachtheorien des 20. Jahrhunderts liegt jetzt aus der Feder von Sybille Krämer vor. Die Berliner Philosophin hat ihr Sujet nach einem originellen Ordnungsschema aufgeschlüsselt: Sie unterscheidet nicht, wie üblich, die Theorien vor und die nach der sogenannten pragmatischen Wende, sondern Theorien mit Zwei-Welten-Modell von solchen mit Performanz-Modell.
In ersteren findet sich die - meist stillschweigende - Annahme, daß es hinter der gesprochenen oder geschriebenen Sprache, der "parole", eine Art reine Sprache, die "langue", gibt, die sich in den konkreten Sprechakten lediglich manifestiert. Die Performanz-Theoretiker haben dagegen eine "flache Ontologie", Sprache gibt es für sie nur in ihrer jeweiligen konkreten Erscheinungsform. Krämer hält mit ihrer Sympathie für das Performanz-Modell nicht hinter dem Berg, will jedoch auch die Intellektualisten, wie sie die andere Fraktion nennt, nicht verdammt wissen. Denn zum einen schufen sie der Sprachwissenschaft einen autarken Gegenstand, die Sprache hinter dem Sprechen. Zum anderen wurde das Zwei-Welten-Modell auch von den Performanzlern nicht verworfen, sondern umgebildet in eine Unterscheidung auf der Seite des Sprechens selbst. Anhand dieses Leitgedankens gibt Krämer knappe, aber deutlich über ein Einführungsniveau hinausgehende Darstellungen der Positionen von Saussure, Chomsky, Searle und Habermas, die sie unter die Intellektualisten rechnet, sowie von Wittgenstein, Austin, Luhmann, Davidson, Lacan, Derrida und Judith Butler, die für die Performanzfraktion stehen.
Eine ungewöhnliche Reihenfolge. Üblicherweise findet man Austin als Wegbereiter von Habermas und Searle und alle zusammen als "Sprachpragmatiker" auf der anderen Seite als Saussure und Chomsky. Doch Searle und Habermas verbindet mit letzteren ein methodisches Band, meint Krämer: Searle unterscheidet zwar nicht mehr Sprache und Sprechen, doch er führt eine ähnliche Unterscheidung ein, indem er zwischen universalem Sprechakt und seinem partikulären Vollzug unterscheidet. Bei Habermas manifestiert sich die "Logosauszeichnung der Sprache" in der Annahme, daß der Sprachgebrauch nicht nur rational rekonstruierbar ist, sondern Rationalität selbst hervorbringt. Und Austin? Er steht auf der Seite der "logoskritischen Sprachdenker", weil Krämer ihn vor allem als Skeptiker gegenüber der Möglichkeit, Sprache und Sprechen in einem dualen Schema zu erfassen, betrachtet.
Es mag überraschen, Judith Butler in diesem Band zu finden, die nicht eben als Sprachtheoretikerin bekannt ist. Zu Unrecht, wie Krämer darlegt. Butler geht von der Beobachtung aus, daß die Theorie des Sprechens als Handeln auch eine Legitimationsbasis für den Staat sein kann, Sprechakte zu sanktionieren. Dieser Instrumentalisierung stellt sie die These entgegen, daß es in der Verbindung von Sprechen und Tun keine Zwangsläufigkeit gibt.
Die Sprachtheorie hat, wie Krämer andeutet, ihre beste Zeit nicht schon hinter sich, sondern durchaus noch etwas vor: nicht mehr zwischen Sprache und Sprechen, sondern zwischen verschiedenen Sprachgebräuchen zu unterscheiden und herauszufinden, was für diese spezifisch ist.
MANUELA LENZEN
Sybille Krämer: "Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001, 287 S. br., 24,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sybille Krämer entschlüsselt die Sprachtheorie neu
Ein Kompendium der "belangvollen und anschlußfähigen" unter den Sprachtheorien des 20. Jahrhunderts liegt jetzt aus der Feder von Sybille Krämer vor. Die Berliner Philosophin hat ihr Sujet nach einem originellen Ordnungsschema aufgeschlüsselt: Sie unterscheidet nicht, wie üblich, die Theorien vor und die nach der sogenannten pragmatischen Wende, sondern Theorien mit Zwei-Welten-Modell von solchen mit Performanz-Modell.
In ersteren findet sich die - meist stillschweigende - Annahme, daß es hinter der gesprochenen oder geschriebenen Sprache, der "parole", eine Art reine Sprache, die "langue", gibt, die sich in den konkreten Sprechakten lediglich manifestiert. Die Performanz-Theoretiker haben dagegen eine "flache Ontologie", Sprache gibt es für sie nur in ihrer jeweiligen konkreten Erscheinungsform. Krämer hält mit ihrer Sympathie für das Performanz-Modell nicht hinter dem Berg, will jedoch auch die Intellektualisten, wie sie die andere Fraktion nennt, nicht verdammt wissen. Denn zum einen schufen sie der Sprachwissenschaft einen autarken Gegenstand, die Sprache hinter dem Sprechen. Zum anderen wurde das Zwei-Welten-Modell auch von den Performanzlern nicht verworfen, sondern umgebildet in eine Unterscheidung auf der Seite des Sprechens selbst. Anhand dieses Leitgedankens gibt Krämer knappe, aber deutlich über ein Einführungsniveau hinausgehende Darstellungen der Positionen von Saussure, Chomsky, Searle und Habermas, die sie unter die Intellektualisten rechnet, sowie von Wittgenstein, Austin, Luhmann, Davidson, Lacan, Derrida und Judith Butler, die für die Performanzfraktion stehen.
Eine ungewöhnliche Reihenfolge. Üblicherweise findet man Austin als Wegbereiter von Habermas und Searle und alle zusammen als "Sprachpragmatiker" auf der anderen Seite als Saussure und Chomsky. Doch Searle und Habermas verbindet mit letzteren ein methodisches Band, meint Krämer: Searle unterscheidet zwar nicht mehr Sprache und Sprechen, doch er führt eine ähnliche Unterscheidung ein, indem er zwischen universalem Sprechakt und seinem partikulären Vollzug unterscheidet. Bei Habermas manifestiert sich die "Logosauszeichnung der Sprache" in der Annahme, daß der Sprachgebrauch nicht nur rational rekonstruierbar ist, sondern Rationalität selbst hervorbringt. Und Austin? Er steht auf der Seite der "logoskritischen Sprachdenker", weil Krämer ihn vor allem als Skeptiker gegenüber der Möglichkeit, Sprache und Sprechen in einem dualen Schema zu erfassen, betrachtet.
Es mag überraschen, Judith Butler in diesem Band zu finden, die nicht eben als Sprachtheoretikerin bekannt ist. Zu Unrecht, wie Krämer darlegt. Butler geht von der Beobachtung aus, daß die Theorie des Sprechens als Handeln auch eine Legitimationsbasis für den Staat sein kann, Sprechakte zu sanktionieren. Dieser Instrumentalisierung stellt sie die These entgegen, daß es in der Verbindung von Sprechen und Tun keine Zwangsläufigkeit gibt.
Die Sprachtheorie hat, wie Krämer andeutet, ihre beste Zeit nicht schon hinter sich, sondern durchaus noch etwas vor: nicht mehr zwischen Sprache und Sprechen, sondern zwischen verschiedenen Sprachgebräuchen zu unterscheiden und herauszufinden, was für diese spezifisch ist.
MANUELA LENZEN
Sybille Krämer: "Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001, 287 S. br., 24,90 DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Manuela Lenzen sah sich durch diesen Band weniger zu einer Kritik als zu einer resümierenden Notiz veranlasst. Immerhin erfährt man, dass Krämer die Sprachtheorien nicht, wie sonst üblich, in die Theorien vor und nach der "Pragmatischen Wende", sondern in Theorien mit "Zwei-Welten-Modell" und Theorien mit "Performanz-Modell" einordnet. Versteht man Lenzen richtig, so unterscheiden die ersteren Sprache von Sprechen, während die letzteren in einer "flachen Ontologie" die Sprache in "ihrer jeweiligen konkreten Erscheinungsform" untersuchen. Die Zuordnung von Sprachforschern wie Saussure, Chomsky und Habermas einerseits und Luhmann, Derrida und Judith Butler andererseits erscheinen Lenzen zwar als "ungewöhnlich", aber nicht als unlogisch. Sie schließt ihre Kritik mit den optimistischen Prognosen Krämers für die Zukunft ihrer Disziplin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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