Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.02.1997Die polyglotte Herberge am Fuß der babylonischen Ruine
Für Liebhaber der Sprachphilosophie bietet sich ein voluminöser Doppelband als neues Einkehrziel an
Die Genesis erzählt von der Zersplitterung der Menschheit: Noahs Kinder und Kindeskinder zogen ihrer Wege über die Erde, und nachdem der Turmbau zu Babel gescheitert war, verloren sie auch noch die Gabe, miteinander zu reden. Das Verstehen floh aus der Welt, statt dessen kamen die Sprachen. Seitdem haben die Menschen hunderterlei Zungen, um sich darüber zu verständigen, was Sprache ist.
Es ist nachgerade ein Akt der Bescheidenheit, wenn ein Handbuch über die Sprachphilosophie von der Antike bis in unsere Tage in nur drei Sprachen abgefaßt ist, zumal da das Französische neben dem Deutschen und dem Englischen eine winzige Nebenrolle spielt. 120 einschlägig bekannte Autoren haben für das Werk geschrieben, ihre Artikel spiegeln den Stand der Forschung und die eigenen Ansichten in wechselnden Verhältnissen.
War es zunächst ausgemachte Sache gewesen, daß die semitischen Sprachen die Abbilder des Originalidioms biblischer Zeiten gewesen seien, lebten in der frühen Neuzeit manche Gelehrte, die die Geschichte anders haben wollten: Der Niederländer Jan van Gorp schlug vor, daß nicht Sems Nachkommen, sondern die europäischen Kindeskinder Japhets dem Schöpfer nach dem Munde geredet hätten: Noah habe seinen Lieblingssohn Japhet davon abgehalten, am Turm zu Babel mitzubauen. Während die Semiten zu "babeln" begonnen hätten, blieben die Sprachen der japhetischen Skythen, Kimbern und Teutonen unverändert. "Alle de Griecken", die etwas anderes geschrieben hatten, "hebben geloghen", beschloß der aus Brügge gebürtige Adriaen van Scrieck.
Arno Borsts großartiges Werk über den "Turmbau zu Babel" und die "Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker" ist ein Stapel von Bänden, so hoch wie ein kleiner Turm. Jetzt haben vier Herausgeber die gesamte Philosophie der Sprache in zwei Büchern ausgebreitet. Was Borst in ungezählten Variationen betrachtete, wird hier auf vierzehn Seiten abgehandelt. Daß das Thema auf so kleinem Raum eigentlich nur beim Namen genannt werden kann, liegt auf der Hand. Auch der Wunsch nach Vollständigkeit ist bei diesem Handbuch fehl am Platz. Dafür glänzt es mit seiner erstklassigen Dramaturgie. Es gibt sechs Rubriken: geschichtliche und geographische Übersichten, "Personen", "Positionen", "Kontroversen", "Begriffe" und "Sprachphilosophische Aspekte in anderen Bereichen". Letztere zeigen uns die Sprachphilosophie am Werk: in der Jurisprudenz, der Ästhetik, der Psychoanalyse, der Ethik und wo immer die Zunge sonst noch hinreicht.
"Euver-op!" sollen in grauer Vorzeit die flämisch-teutonischen Horden gerufen haben, als sie sich anschickten, den sonnigen Süden zu erobern. Deshalb, so dachte zumindest van Scrieck, heißt unser Kontinent Europa. Die Herausgeber wollten sich nun nicht wie Barbaren betragen und haben den Eurozentrismus zu vermeiden gesucht. Über indische, arabische und chinesische Sprachphilosophie kann man denn auch manches lernen.
Der Darstellung gegenwärtiger Theorien wird viel Beachtung geschenkt. Ihre Nähe zur Mathematik und zur Logik macht sie außerordentlich komplex und dem Laien unzugänglich. Für die im weiteren Sinne historischen Partien gilt das nicht: Viele der Artikel sind ziemlich leicht verständlich, manche sind sogar schön geschrieben. In der 265 Seiten langen Bibliographie steht alles, was man braucht, um in die Tiefe der Themen vorzudringen. Soweit zum Nutzen dieses wichtigen Handbuchs als Ort der Konsultation. Daneben lädt es aber auch zum Verweilen ein, ist wie eine Herberge an der großen Straße, durch deren vielfarbige Butzenscheiben man Blicke auf die weiten Felder werfen kann, die sich zu Füßen der babylonischen Ruine erstrecken. FRANZISKA AUGSTEIN
"Sprachphilosophie". Philosophy of Language. La philosophie du langage. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. An International Handbook of Contemporary Research. Manuel international des recherches contemporaines. Herausgegeben von Marcelo Dascal, Dietfried Gerhardus, Kuno Lorenz, Georg Meggle. Halbbände 7/1 und 7/2. Verlag de Gruyter, Berlin, New York 1992-1996. XXXV/872 u. XI/1216 S., geb., 680,- u. 880,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Für Liebhaber der Sprachphilosophie bietet sich ein voluminöser Doppelband als neues Einkehrziel an
Die Genesis erzählt von der Zersplitterung der Menschheit: Noahs Kinder und Kindeskinder zogen ihrer Wege über die Erde, und nachdem der Turmbau zu Babel gescheitert war, verloren sie auch noch die Gabe, miteinander zu reden. Das Verstehen floh aus der Welt, statt dessen kamen die Sprachen. Seitdem haben die Menschen hunderterlei Zungen, um sich darüber zu verständigen, was Sprache ist.
Es ist nachgerade ein Akt der Bescheidenheit, wenn ein Handbuch über die Sprachphilosophie von der Antike bis in unsere Tage in nur drei Sprachen abgefaßt ist, zumal da das Französische neben dem Deutschen und dem Englischen eine winzige Nebenrolle spielt. 120 einschlägig bekannte Autoren haben für das Werk geschrieben, ihre Artikel spiegeln den Stand der Forschung und die eigenen Ansichten in wechselnden Verhältnissen.
War es zunächst ausgemachte Sache gewesen, daß die semitischen Sprachen die Abbilder des Originalidioms biblischer Zeiten gewesen seien, lebten in der frühen Neuzeit manche Gelehrte, die die Geschichte anders haben wollten: Der Niederländer Jan van Gorp schlug vor, daß nicht Sems Nachkommen, sondern die europäischen Kindeskinder Japhets dem Schöpfer nach dem Munde geredet hätten: Noah habe seinen Lieblingssohn Japhet davon abgehalten, am Turm zu Babel mitzubauen. Während die Semiten zu "babeln" begonnen hätten, blieben die Sprachen der japhetischen Skythen, Kimbern und Teutonen unverändert. "Alle de Griecken", die etwas anderes geschrieben hatten, "hebben geloghen", beschloß der aus Brügge gebürtige Adriaen van Scrieck.
Arno Borsts großartiges Werk über den "Turmbau zu Babel" und die "Geschichte der Meinungen über Ursprung und Vielfalt der Sprachen und Völker" ist ein Stapel von Bänden, so hoch wie ein kleiner Turm. Jetzt haben vier Herausgeber die gesamte Philosophie der Sprache in zwei Büchern ausgebreitet. Was Borst in ungezählten Variationen betrachtete, wird hier auf vierzehn Seiten abgehandelt. Daß das Thema auf so kleinem Raum eigentlich nur beim Namen genannt werden kann, liegt auf der Hand. Auch der Wunsch nach Vollständigkeit ist bei diesem Handbuch fehl am Platz. Dafür glänzt es mit seiner erstklassigen Dramaturgie. Es gibt sechs Rubriken: geschichtliche und geographische Übersichten, "Personen", "Positionen", "Kontroversen", "Begriffe" und "Sprachphilosophische Aspekte in anderen Bereichen". Letztere zeigen uns die Sprachphilosophie am Werk: in der Jurisprudenz, der Ästhetik, der Psychoanalyse, der Ethik und wo immer die Zunge sonst noch hinreicht.
"Euver-op!" sollen in grauer Vorzeit die flämisch-teutonischen Horden gerufen haben, als sie sich anschickten, den sonnigen Süden zu erobern. Deshalb, so dachte zumindest van Scrieck, heißt unser Kontinent Europa. Die Herausgeber wollten sich nun nicht wie Barbaren betragen und haben den Eurozentrismus zu vermeiden gesucht. Über indische, arabische und chinesische Sprachphilosophie kann man denn auch manches lernen.
Der Darstellung gegenwärtiger Theorien wird viel Beachtung geschenkt. Ihre Nähe zur Mathematik und zur Logik macht sie außerordentlich komplex und dem Laien unzugänglich. Für die im weiteren Sinne historischen Partien gilt das nicht: Viele der Artikel sind ziemlich leicht verständlich, manche sind sogar schön geschrieben. In der 265 Seiten langen Bibliographie steht alles, was man braucht, um in die Tiefe der Themen vorzudringen. Soweit zum Nutzen dieses wichtigen Handbuchs als Ort der Konsultation. Daneben lädt es aber auch zum Verweilen ein, ist wie eine Herberge an der großen Straße, durch deren vielfarbige Butzenscheiben man Blicke auf die weiten Felder werfen kann, die sich zu Füßen der babylonischen Ruine erstrecken. FRANZISKA AUGSTEIN
"Sprachphilosophie". Philosophy of Language. La philosophie du langage. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. An International Handbook of Contemporary Research. Manuel international des recherches contemporaines. Herausgegeben von Marcelo Dascal, Dietfried Gerhardus, Kuno Lorenz, Georg Meggle. Halbbände 7/1 und 7/2. Verlag de Gruyter, Berlin, New York 1992-1996. XXXV/872 u. XI/1216 S., geb., 680,- u. 880,- DM.
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