'Das Wort ist tot, und in seiner Hülle lebt, von seinem Sinn ernährt, als falsche Natur die Phrase.' Die mündliche Rede plappert, man nimmt ihr das nicht übel, der Sprechakt als live-act ist reines Geschehen; aber dass die Literatur vielfach auf dasselbe Niveau herabgestiegen ist, nimmt Dorothea Dieckmann zum Anlass, wieder an einstige Ansprüche zu erinnern: Ingeborg Bachmann und Kafka werden zu ihren Kronzeugen, wenn sie der allgemeinen Beliebigkeit des unterhaltsamen und mediengerechten Vorsichhinplauderns das Verstummen der dichterischen Stimme gegenüberstellt. 'Worte zu machen, ohne Worte zu machen, zu schreiben, ohne ein Sterbenswort zu sagen', das wäre die Aufgabe der Kunst: das nächtliche Dunkel zu erhellen, ohne es an den Tag zu verkaufen, vom Verborgenen zu handeln, ohne es zu verraten. Die Schnelligkeit aber, mit der der Markt nicht nur die Kunstwerke selbst in seine Zirkulation hineinholt, sondern auch die Wörter entwertet, die Sätze auf den Strich schickt, ist beängstigend und alarmierend. Dorothea Dieckmann hat mit Sprachversagen einen klugen, unerschrockenen Essay geschrieben, unerschrocken im genauen Hinsehen, unerschrocken auch im genauen Benennen. Wie kann man auf den 'wahren Sätzen' (Bachmann) beharren, wenn wir modernen interaktiven Individuen in einer Kultur leben, in der Indifferenz an die Stelle der Differenz getreten ist und der Begriff Literatur auch oft nur mehr den schalen Geschmack eines 'bedeutungsvollen' Ornaments hat?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2002Abituriententreffen mit Apollo
Schreiben ist Schweigen: Mit einem Essay und einem Roman zieht Dorothea Dieckmann die Grenze zwischen Rede und Schrift
Der Essay ist eine unzeitgemäße Form: Das Ziel, das er seit Montaigne verfolgt, jedermanns Verrichtung und Erfahrung - Freundschaften, Spazierengehen, Essen, Träumen - durch Reflexion und Stil auf das Niveau einer kulturellen Leistung emporzuheben, muß scheitern, wenn es ein Bildungsbürgertum nicht mehr gibt, das das kleine Ereignis aus dem engen Alltag in die weite Tradition von Sprache und Poesie einzubetten bereit ist. Der Roman konnte statt dessen zur bevorzugten Lektüre werden, weil er dem Bedürfnis entgegenkommt, banale, vergängliche Geschehnisse in ähnlich kurzlebige, aufgeregte Erlebnisse zu verwandeln, in Seelendramen, die das Herz höher schlagen und den Kopf in Ruhe lassen.
Mit einem Essay und zugleich mit einem Roman stellt sich in dieser Saison Dorothea Dieckmann vor. Beide Veröffentlichungen verhalten sich zueinander wie das Werk und sein Programm. Der Essay "Sprachversagen" versucht sich an einer Theorie des Schreibens, der Roman "Damen und Herren" wird zum Prüfstein, der zeigt, wie weit diese Theorie trägt. "Sprachversagen", eine Hommage an Ingeborg Bachmann, die Leitfigur schreibender Frauen, analysiert die Rede der österreichischen Schriftstellerin zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises 1972, in der sie, anders als heutige Dichter noch nicht an den öffentlichen Auftritt gewöhnt, mündliche Rede und geschriebene Sprache als unvereinbar darstellt. Bachmanns Vortrag, so Dieckmann, ziehe die "Grenze zwischen zwei Welten, die unbedingt auseinandergehalten werden müssen", zwischen dem Sprachspiel für andere (die Rede) und dem Selbstgespräch (die Schrift).
Diese Opposition enthält die aparte, der pointierten Form des Essays durchaus angemessene Wendung, daß für den Dichter Schreiben Schweigen bedeute. Es braucht die Degradierung der üblichen Kommunikationsformen, um mit um so größerer Emphase das Geheimnis des Schreibens zu verkünden: "Was das Reden verriet, soll das Schreiben bewahren." Anders als es das Publikum haben will, bedeutet Schreiben für den Autor nicht Offenbarung, sondern Verhüllung der Seele. Das Papier schützt wie eine Haut das Ich. Die Einheit von Haut und Papier, von Literatur und Scham findet schließlich ihre Inkarnation in Daphne, deren Gestalt Ingeborg Bachmann annimmt, um immer wieder aufs neue dem "Kunstgötzen Apollo" zu entfliehen, sich "in einen Baum zu verwandeln, endlich stumm".
Vom Schweigen und Verschweigen, zu dem sich der Essay bekennt, läßt der Roman "Damen und Herren" wenig ahnen. Das Abituriententreffen einer gemischten Gymnasialklasse nach zwanzig Jahren wäre kein ungeeigneter Stoff, gesellschaftliche Äußerung und privates Lebensgeheimnis durch Romanfiguren ins Bild zu setzen. Dieckmann verleugnet nicht nur die Intelligenz, die sie im Essay bewies, um das übliche Einerlei an Typen vorzustellen. Sie gibt auch die Beobachterrolle auf, indem sie sich mit einem unaufgearbeiteten Liebestraum in das Geschehen selbst verwickelt.
Das Herz der Erzählerin hat einen der ehemaligen Mitschüler nicht vergessen können, ihre neuerwachten Hoffnungen helfen, den Faden zu spinnen, an dem sich Nachrichten über belanglose Lebensläufe zum Roman zusammenfügen. An den Figuren kommen gerade so viel Eigenheiten zum Vorschein, wie sie jedermann bei einem Klassentreffen an seinen Mitschülern wird entdecken können. Der einzige Gedanke, der die Aufzeichnung dieser Begegnung leitet, ist die Feststellung, daß die Vergangenheit nicht vergangen ist. Eine der Teilnehmerinnen resümiert denn auch im Sinne der Autorin: "Wir sind uns eben treu geblieben! Und das ist doch schon mal ein tolles Ergebnis für ein Abitreffen, oder?"
Für einen Roman ist das kein "tolles Ergebnis", selbst wenn er durch die gelegentliche Erinnerung an den Selbstmord einer Klassenkameradin einen Schrecken aus der Vergangenheit zur Gegenwart des Lesers werden läßt: In einem exzentrischen Schauspiel hatte einst die Gefährdete ihren Selbstmord vor den Mitschülern vorweg zelebriert, die das "Menschenopfer" mit einem Tanz im "Dschungelrhythmus" begleiteten. Diese gesuchte Szene, die dem Schulalltag in der Erinnerung einige Dämonie beibringt, hat ihr Pendant in der Erfüllung der Liebe, die die erotische Phantasie der Ich-Erzählerin beschäftigt. Über Liebe läßt sich heute, zumal von einer Frau, nur noch im Stil Elfriede Jelineks sprechen. Der ironische Ton, in dem Dieckmann die pornographischen Liebesspiele ausmalt, ist nicht weniger unwahr als die Reden der Gesellschaft, die der Essay so heftig anklagt.
Dieckmann zitiert in "Damen und Herren" nur einen Stilgestus, der dem "Kunstgötzen Apollo" gezollt ist - vor dem Ingeborg Bachmann als Daphne floh -, damit er dem Roman einigen Erfolg beschere. Der Essay ist lange nach Apoll erfunden worden: Ihn schützt kein Gott. Die in Poesie verwandelte Nachdenklichkeit, die auch Dieckmann in ihrem Essay einigermaßen gelingt, wird daher kaum auf höheren Beistand hoffen dürfen.
Dorothea Dieckmann: "Sprachversagen". Literaturverlag Droschl, Graz, Wien 2002. 88 S., geb., 12,-.
Dorothea Dieckmann: "Damen & Herren". Roman. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2002. 319 S., geb., 19,-.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schreiben ist Schweigen: Mit einem Essay und einem Roman zieht Dorothea Dieckmann die Grenze zwischen Rede und Schrift
Der Essay ist eine unzeitgemäße Form: Das Ziel, das er seit Montaigne verfolgt, jedermanns Verrichtung und Erfahrung - Freundschaften, Spazierengehen, Essen, Träumen - durch Reflexion und Stil auf das Niveau einer kulturellen Leistung emporzuheben, muß scheitern, wenn es ein Bildungsbürgertum nicht mehr gibt, das das kleine Ereignis aus dem engen Alltag in die weite Tradition von Sprache und Poesie einzubetten bereit ist. Der Roman konnte statt dessen zur bevorzugten Lektüre werden, weil er dem Bedürfnis entgegenkommt, banale, vergängliche Geschehnisse in ähnlich kurzlebige, aufgeregte Erlebnisse zu verwandeln, in Seelendramen, die das Herz höher schlagen und den Kopf in Ruhe lassen.
Mit einem Essay und zugleich mit einem Roman stellt sich in dieser Saison Dorothea Dieckmann vor. Beide Veröffentlichungen verhalten sich zueinander wie das Werk und sein Programm. Der Essay "Sprachversagen" versucht sich an einer Theorie des Schreibens, der Roman "Damen und Herren" wird zum Prüfstein, der zeigt, wie weit diese Theorie trägt. "Sprachversagen", eine Hommage an Ingeborg Bachmann, die Leitfigur schreibender Frauen, analysiert die Rede der österreichischen Schriftstellerin zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises 1972, in der sie, anders als heutige Dichter noch nicht an den öffentlichen Auftritt gewöhnt, mündliche Rede und geschriebene Sprache als unvereinbar darstellt. Bachmanns Vortrag, so Dieckmann, ziehe die "Grenze zwischen zwei Welten, die unbedingt auseinandergehalten werden müssen", zwischen dem Sprachspiel für andere (die Rede) und dem Selbstgespräch (die Schrift).
Diese Opposition enthält die aparte, der pointierten Form des Essays durchaus angemessene Wendung, daß für den Dichter Schreiben Schweigen bedeute. Es braucht die Degradierung der üblichen Kommunikationsformen, um mit um so größerer Emphase das Geheimnis des Schreibens zu verkünden: "Was das Reden verriet, soll das Schreiben bewahren." Anders als es das Publikum haben will, bedeutet Schreiben für den Autor nicht Offenbarung, sondern Verhüllung der Seele. Das Papier schützt wie eine Haut das Ich. Die Einheit von Haut und Papier, von Literatur und Scham findet schließlich ihre Inkarnation in Daphne, deren Gestalt Ingeborg Bachmann annimmt, um immer wieder aufs neue dem "Kunstgötzen Apollo" zu entfliehen, sich "in einen Baum zu verwandeln, endlich stumm".
Vom Schweigen und Verschweigen, zu dem sich der Essay bekennt, läßt der Roman "Damen und Herren" wenig ahnen. Das Abituriententreffen einer gemischten Gymnasialklasse nach zwanzig Jahren wäre kein ungeeigneter Stoff, gesellschaftliche Äußerung und privates Lebensgeheimnis durch Romanfiguren ins Bild zu setzen. Dieckmann verleugnet nicht nur die Intelligenz, die sie im Essay bewies, um das übliche Einerlei an Typen vorzustellen. Sie gibt auch die Beobachterrolle auf, indem sie sich mit einem unaufgearbeiteten Liebestraum in das Geschehen selbst verwickelt.
Das Herz der Erzählerin hat einen der ehemaligen Mitschüler nicht vergessen können, ihre neuerwachten Hoffnungen helfen, den Faden zu spinnen, an dem sich Nachrichten über belanglose Lebensläufe zum Roman zusammenfügen. An den Figuren kommen gerade so viel Eigenheiten zum Vorschein, wie sie jedermann bei einem Klassentreffen an seinen Mitschülern wird entdecken können. Der einzige Gedanke, der die Aufzeichnung dieser Begegnung leitet, ist die Feststellung, daß die Vergangenheit nicht vergangen ist. Eine der Teilnehmerinnen resümiert denn auch im Sinne der Autorin: "Wir sind uns eben treu geblieben! Und das ist doch schon mal ein tolles Ergebnis für ein Abitreffen, oder?"
Für einen Roman ist das kein "tolles Ergebnis", selbst wenn er durch die gelegentliche Erinnerung an den Selbstmord einer Klassenkameradin einen Schrecken aus der Vergangenheit zur Gegenwart des Lesers werden läßt: In einem exzentrischen Schauspiel hatte einst die Gefährdete ihren Selbstmord vor den Mitschülern vorweg zelebriert, die das "Menschenopfer" mit einem Tanz im "Dschungelrhythmus" begleiteten. Diese gesuchte Szene, die dem Schulalltag in der Erinnerung einige Dämonie beibringt, hat ihr Pendant in der Erfüllung der Liebe, die die erotische Phantasie der Ich-Erzählerin beschäftigt. Über Liebe läßt sich heute, zumal von einer Frau, nur noch im Stil Elfriede Jelineks sprechen. Der ironische Ton, in dem Dieckmann die pornographischen Liebesspiele ausmalt, ist nicht weniger unwahr als die Reden der Gesellschaft, die der Essay so heftig anklagt.
Dieckmann zitiert in "Damen und Herren" nur einen Stilgestus, der dem "Kunstgötzen Apollo" gezollt ist - vor dem Ingeborg Bachmann als Daphne floh -, damit er dem Roman einigen Erfolg beschere. Der Essay ist lange nach Apoll erfunden worden: Ihn schützt kein Gott. Die in Poesie verwandelte Nachdenklichkeit, die auch Dieckmann in ihrem Essay einigermaßen gelingt, wird daher kaum auf höheren Beistand hoffen dürfen.
Dorothea Dieckmann: "Sprachversagen". Literaturverlag Droschl, Graz, Wien 2002. 88 S., geb., 12,-
Dorothea Dieckmann: "Damen & Herren". Roman. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2002. 319 S., geb., 19,-
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Beatrix Langner bespricht nicht nur den neuen Roman von Dorothea Dieckmann, sondern untersucht ihn anhand der Kriterien, die Dieckmann in ihrem gleichfalls neu erschienenen Essay "Sprachversagen" für die Literatur aufstellt.
In Dorothea Dieckmanns Roman ist es der Körper, der spricht, schreibt die Rezensentin Beatrix Langner. Dieckmann inszeniere ein Klassentreffen - nach zwanzig Jahren - als "tiefschwarzes Kammerspiel", in dem sich die Identitätsfrage zwischen dem eigenen Körper und dem Blick des Anderen stelle. Wie mit "blitzender Polaroidtechnik" sei dieser "fotorealistische Roman" geschrieben, eine Art literarischer "cinéma vérité". Die Welt jenseits der sichtbaren Körperhülle dagegen - Vergangenheit und deren Reflexion - ist laut Rezensentin "als Abwesenheit" mitgeschrieben. Diese Spannung zwischen dem Außen und dem Innen, so die Rezensentin, realisiert sich in der Artikulation des Verborgenen in der Körpersprache. Doch diese Erzählkunst stehen für die Rezensentin im Gegensatz zu den literaturtheoretischen und -ästhetischen Überlegungen, die Dieckmann in ihrem Essay "Sprachversagen" anstellt. Hier bezeichne Dieckmann die "phraseologische" Literatur als "Pseudoliteratur". Dieckmann wolle das Unsagbare vor den Übergriffen der mediangesellschaftlichen Schamlosigkeit schützen, für Langner eine Art "Literaturreligiosität". Doch irgendetwas schmeckt der Rezensentin nicht an diesem Essay: Dieckmanns Argumentation stehe "schon deshalb auf verlorenem Posten, weil dieses Schweigen selbst eine Metapher ist und den symbolischen Formen angehört, also keine kritische Kategorie ist". Aha. Langners Fazit: Dieckmanns Roman, der "kritisch mit vorgefundenem Sprachmaterial umgeht" und den die Autorin als Umsetzung ihrer Theorie sieht, hebt genau diese "aus den Angeln".
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In Dorothea Dieckmanns Roman ist es der Körper, der spricht, schreibt die Rezensentin Beatrix Langner. Dieckmann inszeniere ein Klassentreffen - nach zwanzig Jahren - als "tiefschwarzes Kammerspiel", in dem sich die Identitätsfrage zwischen dem eigenen Körper und dem Blick des Anderen stelle. Wie mit "blitzender Polaroidtechnik" sei dieser "fotorealistische Roman" geschrieben, eine Art literarischer "cinéma vérité". Die Welt jenseits der sichtbaren Körperhülle dagegen - Vergangenheit und deren Reflexion - ist laut Rezensentin "als Abwesenheit" mitgeschrieben. Diese Spannung zwischen dem Außen und dem Innen, so die Rezensentin, realisiert sich in der Artikulation des Verborgenen in der Körpersprache. Doch diese Erzählkunst stehen für die Rezensentin im Gegensatz zu den literaturtheoretischen und -ästhetischen Überlegungen, die Dieckmann in ihrem Essay "Sprachversagen" anstellt. Hier bezeichne Dieckmann die "phraseologische" Literatur als "Pseudoliteratur". Dieckmann wolle das Unsagbare vor den Übergriffen der mediangesellschaftlichen Schamlosigkeit schützen, für Langner eine Art "Literaturreligiosität". Doch irgendetwas schmeckt der Rezensentin nicht an diesem Essay: Dieckmanns Argumentation stehe "schon deshalb auf verlorenem Posten, weil dieses Schweigen selbst eine Metapher ist und den symbolischen Formen angehört, also keine kritische Kategorie ist". Aha. Langners Fazit: Dieckmanns Roman, der "kritisch mit vorgefundenem Sprachmaterial umgeht" und den die Autorin als Umsetzung ihrer Theorie sieht, hebt genau diese "aus den Angeln".
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