Das historische Bewusstsein Lübecks ist bis heute stark auf die Hansezeit fixiert. Dass die Stadt auch eine Kolonialvergangenheit hat, wurde weitgehend verdrängt. Anhand von Exponaten der Lübecker Völkerkundesammlung, durch die Erforschung der Lebensgeschichten ihrer Sammler:innen und der historischen Begleitumstände, unter denen diese Objekte nach Lübeck gelangten, kann ein Teil dieses vergessenen Kapitels unserer Stadtgeschichte wieder sichtbar gemacht werden. So wird deutlich, dass Lübecker Bürger:innen zu allen Zeiten von den Kolonialbestrebungen deutscher und anderer europäischer Mächte profitierten. Genau wie in den großen Metropolen Europas gab es auch in Lübeck alle nur erdenklichen Manifestationen der damaligen Kolonialbegeisterung, von Kolonialvereinen über Völkerschauen bis hin zu noch heute erhaltenen Straßennamen und Denkmälern. Ob im Handel mit Kolonialwaren oder Menschen, ob in der Missionierung, Erforschung, Eroberung, Verwaltung und Ausbeutung der Länder und Menschen in Übersee, Lübecker Bürger:innen und Unternehmen waren an allen Aspekten des Kolonialismus beteiligt. Jedoch gab es ebenso Stimmen, die sich kritisch zu dem Unrecht äußerten und es wurden damals die Fundamente unserer heutigen multikulturellen Stadtgesellschaft gelegt. Ebenso bezeugen einige Objekte der Völkerkundesammlung, dass auch die indigenen Gemeinschaften in den Kolonien nicht bloß wehrlose Opfer waren, sondern immer wieder Wege des Überlebens, der Anpassung und Erhaltung ihrer Kultur fanden. Dieser Band ist nicht nur von lokalgeschichtlichem Interesse. Als eher provinzielles Beispiel kann diese Studie der Lübecker Kolonialgeschichte unseren Blick dafür schärfen, welche Breitenwirkungen der Kolonialismus auch jenseits der großen Metropolen hatte und wie vielfältig er im täglichen Leben der Menschen in Erscheinung trat.