Vom Leben der Moosbruchbauern in Nord-Ostpreußen in den dreißiger Jahren bis zum Schicksalsjahr 1945: Der aufkommende Nationalsozialismus wirft das Leben einer der ländlichen Tradition verhafteten Gemeinschaft aus der Bahn. Ein fesselnder autobiographischer Familienroman vor beklemmendem zeitgeschichtlichen Hintergrund.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.03.1997Vom Butschen und Burbeln
Mit Glossar: Eine Erinnerung an das alte Ostpreußen
"Schacktarp" ist das erste Kapitel überschrieben; es bedeutet im nördlichen Ostpreußen: das Eis bricht und macht den Fluß wochenlang unbefahrbar. Für die Moosbruchbauern in der Nähe des Kurischen Haffs ist es nicht ungewöhnlich, daß ihre Wiesen und Felder bis in den Mai hinein überschwemmt sind. Vom Ackerbau allein können die wenigsten existieren. Hanna Simon, 1930 geboren, hat in einem der bescheidenen Holzhäuser am Ufer des Timber mit ihren Eltern und Geschwistern gelebt, bis sie vor den sowjetischen Truppen über das Frische Haff flohen und von einem der letzten Schiffe in den Westen transportiert wurden. Der Roman "Spuren, die der Schnee bedeckt" ist, geringfügig verändert, die Geschichte ihrer Familie in den zehn Jahren vor dem Verlust der alten Heimat.
Selbst in dem abgelegenen Dorf, in dem der nachbarliche Zusammenhalt sehr eng war, gewinnen die Nationalsozialisten an Boden. Mißtrauen wächst. Der Familienvater kann sich dem Eintritt in die Partei nur durch seine Einberufung zur Wehrmacht entziehen; seine Frau kommt, nachdem sie denunziert worden ist, weil sie Gefangenen im nahen Lager Brot gegeben hat, für Monate ins Gefängnis. Die einzige jüdische Familie im Ort wandert aus. Die guten Jahre sind vorbei, davon sind die Alten überzeugt, nur wenige glauben an die neue Zeit, die ihnen die Braunhemden versprechen. Angst geht um; nur nicht auffallen, heißt die Parole. Daß es Krieg geben wird, befürchten die meisten.
Bald gibt es im Dorf kaum eine Familie, die nicht um Väter, Söhne und Brüder trauert. Franzosen, Polen, Litauer, Gefangene oder Zwangsverpflichtete arbeiten auf den Höfen. Manche haben bereits hinter sich, was den Dorfbewohnern bevorsteht: Vertreibung aus der Heimat, den gewaltsamen Tod der Angehörigen.
Hanna Simon erzählt aus zwei Blickwinkeln, einmal aus der Perspektive des Kindes, das sie damals war, das heißt sie erzählt auch von heiteren Episoden, abenteuerlichen Spielen und vor allem von der Geborgenheit in einer liebevollen Familie mit einer starken, bewunderten Mutter im Mittelpunkt. Doch sie möchte auch Chronistin sein, festhalten, was war und wie es zuging, bevor die Welt in dem kleinen Dorf unterging; sie möchte erinnern, damit die Vergangenheit nicht wie Spuren im Schnee verweht und vergessen wird.
So zählt sie ausführlich alle Einzelheiten auf, die zum Alltag gehörten: was es zu essen gab, wie auf dem weichen Moorboden gesät und geerntet wurde oder wie man sich im Winter vor der Kälte von fast dreißig Grad schützte. Das breite Ostpreußisch hat eine Fülle von eigenen Bezeichnungen. Die sechs Seiten Worterklärungen am Schluß sind für den Nicht-Ostpreußen unbedingt nötig. Denn wer weiß schon, was burbeln und butschen heißt, was Gnusel und Graschels oder Kreken und Krepsch, Pasauken und Narschchen sind.
Familiengeschichten wie diese erinnern an naive Malerei, Bilder vom einfachen Leben auf dem Lande mit Menschen und Tieren in schöner Harmonie. Hanna Simon malt das alles mit ihrem schlichten sprachlichen Handwerkszeug aus und hält auch bis zum dramatischen Ende durch. Trotz mancher Verklärung entsteht ein Stück Wirklichkeit. Die vierzehn Fotos bestätigen es: Die karge flache Landschaft, die einfachen Häuser hinter schwarzweiß gestrichenen Staketenzäunen, der Fluß, der im Frühjahr sich zu einem See ausweitete - das alles war Heimat. Daß sie unwiederbringlich verloren ist, macht ein Buch wie dieses zu einem bewegenden Dokument. MARIA FRISÉ
Hanna Simon: "Spuren, die der Schnee bedeckt". Roman aus Ostpreußen. Herbig Verlagsbuchhandlung, München 1997. 256 S., geb., 29,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit Glossar: Eine Erinnerung an das alte Ostpreußen
"Schacktarp" ist das erste Kapitel überschrieben; es bedeutet im nördlichen Ostpreußen: das Eis bricht und macht den Fluß wochenlang unbefahrbar. Für die Moosbruchbauern in der Nähe des Kurischen Haffs ist es nicht ungewöhnlich, daß ihre Wiesen und Felder bis in den Mai hinein überschwemmt sind. Vom Ackerbau allein können die wenigsten existieren. Hanna Simon, 1930 geboren, hat in einem der bescheidenen Holzhäuser am Ufer des Timber mit ihren Eltern und Geschwistern gelebt, bis sie vor den sowjetischen Truppen über das Frische Haff flohen und von einem der letzten Schiffe in den Westen transportiert wurden. Der Roman "Spuren, die der Schnee bedeckt" ist, geringfügig verändert, die Geschichte ihrer Familie in den zehn Jahren vor dem Verlust der alten Heimat.
Selbst in dem abgelegenen Dorf, in dem der nachbarliche Zusammenhalt sehr eng war, gewinnen die Nationalsozialisten an Boden. Mißtrauen wächst. Der Familienvater kann sich dem Eintritt in die Partei nur durch seine Einberufung zur Wehrmacht entziehen; seine Frau kommt, nachdem sie denunziert worden ist, weil sie Gefangenen im nahen Lager Brot gegeben hat, für Monate ins Gefängnis. Die einzige jüdische Familie im Ort wandert aus. Die guten Jahre sind vorbei, davon sind die Alten überzeugt, nur wenige glauben an die neue Zeit, die ihnen die Braunhemden versprechen. Angst geht um; nur nicht auffallen, heißt die Parole. Daß es Krieg geben wird, befürchten die meisten.
Bald gibt es im Dorf kaum eine Familie, die nicht um Väter, Söhne und Brüder trauert. Franzosen, Polen, Litauer, Gefangene oder Zwangsverpflichtete arbeiten auf den Höfen. Manche haben bereits hinter sich, was den Dorfbewohnern bevorsteht: Vertreibung aus der Heimat, den gewaltsamen Tod der Angehörigen.
Hanna Simon erzählt aus zwei Blickwinkeln, einmal aus der Perspektive des Kindes, das sie damals war, das heißt sie erzählt auch von heiteren Episoden, abenteuerlichen Spielen und vor allem von der Geborgenheit in einer liebevollen Familie mit einer starken, bewunderten Mutter im Mittelpunkt. Doch sie möchte auch Chronistin sein, festhalten, was war und wie es zuging, bevor die Welt in dem kleinen Dorf unterging; sie möchte erinnern, damit die Vergangenheit nicht wie Spuren im Schnee verweht und vergessen wird.
So zählt sie ausführlich alle Einzelheiten auf, die zum Alltag gehörten: was es zu essen gab, wie auf dem weichen Moorboden gesät und geerntet wurde oder wie man sich im Winter vor der Kälte von fast dreißig Grad schützte. Das breite Ostpreußisch hat eine Fülle von eigenen Bezeichnungen. Die sechs Seiten Worterklärungen am Schluß sind für den Nicht-Ostpreußen unbedingt nötig. Denn wer weiß schon, was burbeln und butschen heißt, was Gnusel und Graschels oder Kreken und Krepsch, Pasauken und Narschchen sind.
Familiengeschichten wie diese erinnern an naive Malerei, Bilder vom einfachen Leben auf dem Lande mit Menschen und Tieren in schöner Harmonie. Hanna Simon malt das alles mit ihrem schlichten sprachlichen Handwerkszeug aus und hält auch bis zum dramatischen Ende durch. Trotz mancher Verklärung entsteht ein Stück Wirklichkeit. Die vierzehn Fotos bestätigen es: Die karge flache Landschaft, die einfachen Häuser hinter schwarzweiß gestrichenen Staketenzäunen, der Fluß, der im Frühjahr sich zu einem See ausweitete - das alles war Heimat. Daß sie unwiederbringlich verloren ist, macht ein Buch wie dieses zu einem bewegenden Dokument. MARIA FRISÉ
Hanna Simon: "Spuren, die der Schnee bedeckt". Roman aus Ostpreußen. Herbig Verlagsbuchhandlung, München 1997. 256 S., geb., 29,90 DM.
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