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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2022

Mit der Taschenlampe subjektivieren
Nur ein Anfang der Wiederentdeckung dieses spätmodernen Prosakünstlers: Miklós Mészölys "Spurensicherung"

Eine gedrängte Folge von einzelnen, stark umrandeten Erinnerungen, ohne offensichtliche Verbindung zu den Szenen davor oder danach, bricht kommentarlos, wie ein Sturzbach, hervor. Szenen stürzen durch Zeiten und Orte, Namen leuchten auf und verglimmen, Begebenheiten überlagern und verschieben sich. Jeder der meist knappen Sätze tritt aus dem Dunkel hervor und fällt in es zurück. Die Spuren, die Miklós Mészöly in vier "Spurensicherung" genannten absatzlosen Texten festhält, stammen wohl aus seinem Leben, nur ergeben die übereinander-/untereinander-/quer zueinanderliegenden Zeiten, Orte, Handlungen kein Leben. Dafür geraten die Sinne des Lesers mit etwas eigenartig Konzentriertem, Lebendigem in prickelnde Berührung. Prickelnd jedenfalls, sofern er oder sie nicht Handlung und Plot vermisst und den Band "Spurensicherung" enttäuscht in die Ecke wirft.

Mészöly ist heute beinahe vergessen - ehedem jedoch galt er als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. 1974 war er der erste Ungar, der mit einem Jahresstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes DAAD in Westberlin lebte. Zwanzig Jahre nach seinem Tod und zum hundertsten Geburtstag im letzten Jahr erinnert "Spurensicherung" an einen Spätmodernen, zu dem die jüngere ungarische Schriftstellergeneration bewundernd aufschaute - darunter Péter Nádas, Péter Esterhazy und László Krasznahorkai, die anders als ihr Nestor alle weltberühmt wurden.

Die Übersetzungen von Mészölys Erzählungen und Romanen ("Saulus" "Rückblenden", "Hohe Schule", "Das verzauberte Feuerwehrorchester" und andere) sind inzwischen bis auf "Familienflut" (Babel Verlag, 1997) vergriffen, seine fünf essayistischen Bände wurden erst gar nicht übersetzt. Der schön gestaltete Band in der Edition Thanhäuser füllt diese Lücke weniger, als dass er sie bewusst macht. Den Texten sind Holzschnitte des Verlegers Christian Thanhäuser beigegeben, die mit Mészölys Sicherungsverfahren wundersam korrespondieren: Sie erbauen aus meist kleinen schwarzen und flatterhaften Kratzspuren Landschaften und das Porträt des selbstbewussten Künstlers.

Der Herausgeber Pál Kelemen hat die zentralen Texte "Spurensicherung 1-4" glücklich ergänzt um poetologische Überlegungen, ein Gedicht und autobiographische Prosa über das pannonische Porkolábtal, in dem der Schriftsteller und seine Frau Alaine Polcz, eine Kinderpsychologin, ein Haus besaßen. Diese Prosa zieht in den Band hinein: "Eine Landschaft, die keine Forderungen stellt wie so viele andere."

Doch schon im "Brief aus dem Tal" bricht der bukolische Friede auf: Der unfruchtbare Aprikosenbaum ist zum Tod durchs Absägen verurteilt, ein Nachbar misshandelt eine alte Frau und wird von ihrem Mann mit einer Mistgabel bedroht, Ameisen tragen einen sich windenden Wurm sechs Meter fort, eine Nachbarin reicht dem Erzähler strychningetränkte Maiskörner und preist sie als "Sensenmann für die Mäuse", eine andere erzählt lächelnd, eben gerade Hund und Katze erhängt zu haben, lange habe es nicht gedauert. Als Ganzes, weiß der Wittgenstein lesende Erzähler, ist all das "irgendwie logisch", ansonsten aber zum Verzweifeln. Denn "die Syntax unseres Tales" sei unbekannt, seine Natur sage keine Zeichen aus, wie Wittgenstein fordere, und so eigne der Wahrheit der Landschaft eine "offene Rätselhaftigkeit".

Damit gibt sich Mészöly nicht zufrieden. Seine Lösung lautet, so hat es die Schriftstellerin Zsuzsanna Gahse einmal beschrieben, "dass man durch genaues Zuschauen Geschichten erfahren und ihre Logik aufdecken kann". Das Zuschauen gilt für eigene wie für fremde Erinnerungen, Wahrnehmungen, Gefühle. Mészöly überlässt sich "bescheiden" dem, von dem er wenig oder gar nichts weiß. Die vier Spurensicherungen scheinen geladen zu sein mit unmittelbarer Gegenwart, auch wenn irritierenderweise Pferde, Vorderlader, Hofschlachtungen und ein Krieg in die Vergangenheit weisen. "Mit reinem Bewusstsein, ohne Erinnerung" will ihr Verfasser "sein", allerdings ein klein wenig "bleibender als der Augenblick", um ihn aufzuschreiben, zu "sichern".

Schon 1969, als die erste der vier Spurensicherungen entsteht, staunt ihr Verfasser über deren Lebendigkeit und versucht das Staunen zu begreifen im Essay "Über das künstlerische Handwerk": "Dabei wäre es wunderbar, wenn wir beim Schreiben von Wort zu Wort, von Satz zu Satz - wie mit der Taschenlampe - vor uns hin leuchten und all das auf frischer Tat ertappen könnten, was erst unser Ertappen zu dem macht, was es ist."

Die ertappende Taschenlampe erhellt Pál Kelemen im Nachwort mit Bemerkungen zu zwei weiteren Essays von Mészöly, die er offenbar gern im Band gesehen hätte. In einem setze sich Mészöly mit dem "potenziell alles beleuchtenden und durchdringenden, aber auch in entscheidenden Momenten blendenden mediterranen Licht" eines Albert Camus auseinander. Der Ungar beschwöre dagegen eine positiv bestimmte "Dunkelheit als Spielfeld der wahren und nachhaltigen Erkenntnis" herauf. Es fällt schwer, darin nicht eine Anspielung auf die Lage des Künstlers im Reich der zukunftsgewissen Sozialisten zu sehen: Mészöly behauptet eine eigene Erkenntnisform und setzt sie dem gesellschaftlich üblichen "Scheinwerferlicht" des Wissens, der Vorurteile, der fixen Ideen, des Glaubens und der "übereifrigen Vorstellungskraft" gegenüber. "Mit der Taschenlampe subjektivieren, nicht mit dem Scheinwerfer." Die Taschenlampe verleiht Eigenmächtigkeit.

All das ist in äußerster Knappheit hingeworfen. Péter Nádas hat erzählt, dass sich der "väterliche Freund und Meister" furchtbar empörte, als er ihm sein mehr als tausendseitiges "Buch der Erinnerung" vorlegte. Biblische Umfänge hielt Miklós Mészöly für unlesbar. JÖRG PLATH.

Miklós Mészöly: "Spurensicherung". Aus dem Ungarischen von Wilhelm Droste. Hrsg. und mit Nachwort von Pál Kelemen. Mit Birnholzschnitten von Christian Thanhäuser. Edition Thanhäuser, Ottensheim an der Donau, 2021. 130 S., Abb., geb., 24,- Euro.

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Jörg Plath freut sich über die drei Texte von Miklos Meszöly, auch wenn sie ihm die "Lücke" bewusst machen, die der Autor und sein Werk darstellen. Dass so wenig von Meszöly bei uns veröffentlicht wurde, findet Plath bedauerlich. Wie der Autor hier szenisch knapp und präzise durch Zeiten und Orte streift, Autobiografisches festhält und auf Handlung pfeift, gefällt dem Rezensenten durchaus, wenngleich es vom Leser einige Aufmerksamkeit fordert, wie Plath einräumt. Zu entdecken ist eine sehr eigene Erkenntnisform, meint er, die sich dem Wissen, dem Glauben und den Vorurteilen als Alternative präsentiert.

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