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Ende September 1945 kehrt Walter Jessel als amerikanischer Soldat in seine zerstörte Heimatstadt Frankfurt am Main zurück, wenige Monate, nachdem die Stadt am 29. März von den Amerikanern erobert und von den Nationalsozialisten befreit worden war. Hier wurde er 1913 geboren, hier wuchs er in einer jüdischen Familie auf. 1933 floh er vor den Nationalsozialisten. Mit gemischten Gefühlen kommt er in seine Geburtsstadt zurück. Nun sucht er seine ehemaligen nichtjüdischen Mitschüler auf, mit denen er 1931 an der Musterschule Abitur gemacht hat. Er will von ihnen erfahren, wie sie die zwölf…mehr

Produktbeschreibung
Ende September 1945 kehrt Walter Jessel als amerikanischer Soldat in seine zerstörte Heimatstadt Frankfurt am Main zurück, wenige Monate, nachdem die Stadt am 29. März von den Amerikanern erobert und von den Nationalsozialisten befreit worden war. Hier wurde er 1913 geboren, hier wuchs er in einer jüdischen Familie auf. 1933 floh er vor den Nationalsozialisten. Mit gemischten Gefühlen kommt er in seine Geburtsstadt zurück. Nun sucht er seine ehemaligen nichtjüdischen Mitschüler auf, mit denen er 1931 an der Musterschule Abitur gemacht hat. Er will von ihnen erfahren, wie sie die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur erlebt haben und wie sie auf den Zusammenbruch blicken. „Die Besuche bei meinen Klassenkameraden und deren Familienangehörigen, die ich in diesem Buch beschrieben habe, waren nicht eine Sache sentimentaler Erinnerung, sondern der Versuch, eine ziemlich grundlegende Frage zu beantworten (…): Würden sich Angehörige anderer Nationen, wenn sie in dieselbe Situation wie die Deutschen während des Hitlerregimes versetzt worden wären, genauso verhalten haben?“ – Walter Jessel
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.03.2021

Kaum einer war ein Held

Ein früherer Schüler der Musterschule hat nach dem Krieg seine Klassenkameraden gefragt, warum sie sich nicht gegen die Nazis stellten. Sein Buch ist ein fesselndes Dokument.

Von Hans Riebsamen

Warum habt ihr da mitgemacht? Weshalb habt ihr euch nicht gegen die Nazis gewehrt? Diese Fragen haben viele aus der Generation der Nachkriegsdeutschen, besonders die protestierenden Achtundsechziger, ihren Eltern und Großeltern gestellt. Walter Jessel, ein jüdischer Emigrant, der im Herbst 1945 als Nachrichtenoffizier der amerikanischen Armee für einige Monate in seine Heimatstadt Frankfurt zurückkehrte, hat sie damals an seine Schulkameraden gerichtet, die mit ihm 1931 an der Musterschule Abitur gemacht hatten.

20 junge Männer waren in der Klasse gewesen, darunter acht jüdische, die wie er rechtzeitig hatten fliehen können. Wessel interessierte sich aber mehr für die anderen zwölf, die "arischen" Abiturienten, die in Nazi-Deutschland geblieben und von denen die meisten in den Krieg gezogen waren. Es gelang ihm, sechs von ihnen persönlich zu treffen. Von jenen fünf, die im Krieg gefallen oder vermisst waren, konnte er immerhin durch Berichte von Angehörigen oder Freunden erfahren, wie ihr Lebensweg während der Nazi-Zeit verlaufen war. Lediglich einer der damaligen Abiturienten war nicht mehr aufzufinden.

Aus Wessels Klasse hatte einer aktiv Widerstand geleistet: der Physiker Arnulf Krauth, ein Kommunist, der für seine Untergrundarbeit mit langer Haft büßte. Kurz vor der Befreiung des KZ Neuengamme ertrank er am 2. Mai 1945, als englische Flieger zwei Schiffe, die "Cap Arcona" und die "Thielbek", auf denen Krauth mit Tausenden anderer Häftlinge aus Neuengamme nach Fehmarn gebracht werden sollte, nach dem Auslaufen aus Neustadt bei Lübeck versehentlich beschossen und versenkten.

Die anderen Klassenkameraden hatten sich dagegen in der einen oder anderen Form den Verhältnissen angepasst, obgleich die wenigsten überzeugte Anhänger des Regimes waren. Ihre Standard-Antwort auf Jessels Frage, warum sie nichts unternommen hätten, lautete: "Was konnten wir denn tun?"

Jessel, der später Karriere beim amerikanischen Geheimdienst CIA machte, hat seine Erlebnisse im Frankfurt der unmittelbaren Nachkriegszeit und seine Gespräche mit den ehemaligen Klassenkameraden niedergeschrieben mit dem Ziel, daraus ein Buch zu machen. Doch nach dem Krieg fand sich kein Verlag, und so blieb das Manuskript sieben Jahrzehnte in der Schublade liegen, bis es schließlich 2017 beim Verlag American Studies Press als Buch erschien. Nun hat der Frankfurter Fachhochschulverlag dieses einzigartige und fesselnde Dokument aus der unmittelbaren Nachkriegszeit als Übersetzung veröffentlicht.

In der Öffentlichkeit am bekanntesten von den einstigen Kameraden, die Jessel damals aufsuchte, wurde wohl der 2002 verstorbene Jurist Franz Schmidt-Knatz, Ehrensenator der Goethe-Universität und von 1966 bis 1996 Präsident der Polytechnischen Gesellschaft. Ihn stöberte Jessel damals in Weilburg auf, wohin Schmidt-Knatz nach Kriegsende gezogen war, nachdem seine Wohnung in Frankfurt von der amerikanischen Armee beschlagnahmt worden war. Schmidt-Knatz stammte aus einer wohlhabenden und einflussreichen Frankfurter Juristenfamilie. Über ihn schreibt Jessel: "Er war ein intelligenter Mann. Er war menschlich." Seine Familie hatte Freunde in England und Amerika, sie war liberal, weltoffen und alles andere als den Nazis zugeneigt. Obwohl Schmidt-Knatz nach seinen eigenen Worten nicht die geringste Sympathie für das Vorgehen und die Ziele der Nazis empfand, wurde er 1937 Parteimitglied. Er hätte sonst seinen Beruf als Anwalt nicht ausüben können, verteidigte er sich.

Schon kurz vor Beginn des Überfalls auf Polen wurde Schmidt-Knatz zur Armee einberufen und stieg bis Ende des Krieges in den Rang eines Hauptmanns auf. Er habe nicht an die deutsche Sache und an den deutschen Sieg geglaubt, erzählt er Jessel. Nie habe er die Absicht gehabt, für den Führer oder das Vaterland zu sterben. Er sei wegen seiner Männer dabeigeblieben, die viel Vertrauen in ihn gehabt hätten. "Ehrlich gesagt, beneide ich dich", sagt er zu Jessel. Dieser habe gewusst, dass er gegen eine böse Sache kämpfe. Er hingegen sei in einem Apparat gefangen gewesen, der ihn gezwungen habe, für ihn zu kämpfen: "Jetzt wünsche ich, ich hätte früh genug den Mut gehabt, mich dir anzuschließen."

Natürlich gibt es unter Jessels Schulkameraden auch den fanatischen Nazi. In diesem Fall Paul Göttsching, Sohn eines tyrannischen Vaters, der als Postbeamter seinen Lebensunterhalt verdiente. Göttsching hatte einen Klumpfuß, was bei ihm nach dem Urteil des Klassenlehrers Paul Olbrich zu einem Unterlegenheitskomplex führte: "Seine geistige Entwicklung erinnert an Lord Byron und Wilhelm II. - oder Joseph Goebbels." Tatsächlich wurde Göttsching Bibliothekar an der Frankfurter Stadtbibliothek und später Leiter der städtischen Bibliothek in Danzig. Vermutlich kam er in den letzten Kriegswochen auf der Flucht nach Westen ums Leben. Aus Briefen an die Familie, die sein Vater Jessel zu lesen gab, wird deutlich, dass er voll und ganz an Hitler und seine Heilsbotschaft glaubte. In seinem letzten Brief vom 8. August 1944 heißt es: "Wir werden am Ende siegen, und alle, die mich lieben, sollen diesen Glauben nie verlieren."

Doch der Nazi Göttsching war eher eine Ausnahme unter den früheren Klassekameraden Jessels. Typisch für die Abiturklasse war eher Otto Hahner, den der amerikanische Offizier in einem zerbombten Haus an der Mendelssohnstraße, von den Nazis in Joseph-Haydn-Straße umbenannt, aufsuchte. Hahner war als Schüler mit Jessel befreundet gewesen, sie waren während eines Jugendaustauschs mit französischen Jugendlichen, den die fortschrittliche Musterschule regelmäßig veranstaltete, sogar einmal gemeinsam nach Paris gefahren. Nach dem Abitur hatte er ein Ingenieurstudium absolviert, wurde aber nach seiner Diplomprüfung sofort zum Militär eingezogen und lebte recht bequem als Besatzungsoffizier in einem französischen Dorf. 1941 hatte er eine Reitunfall und wurde als kriegsunfähig nach Hause geschickt.

Ob er NSDAP-Mitglied gewesen sei, fragt Jessel seinen früheren Freund. Ja, antwortet Hahner, er sei beigetreten, als er noch im Ingenieurstudium gewesen sei: "Ich musste in der Partei sein." Andernfalls wären ihm viele Berufschancen verschlossen gewesen. Nach seinem Unfall arbeitete Hahner als Ingenieur in einem Chemiebetrieb, 1942 wurde er Chef einer Koordinierungskommission in Albert Speers Rüstungsministerium. Er sei aber kein Nazi gewesen, versichert er Jessel: "Die meisten von uns waren Karteigenossen, keine Parteigenossen." Nie habe er die Nazis unterstützt, ihre Exzesse seien ihm zuwider gewesen. Jessel weist ihn darauf hin, dass er die Kriegsanstrengungen der Nazis unterstützt habe, indem er Schwefelsäure für Sprengstoffe hergestellt habe. "Aber das war unsere Aufgabe und Pflicht als Deutsche."

Jessel, der jüdische Frankfurter, der sofort nach der Machtübernahme Hitlers nach Palästina emigrierte und der später in Amerika der Armee seine Dienste anbot, ist ein strenger Richter. Er trauert über die Zerstörung seiner Heimatstadt, er sieht das unvorstellbare Elend, in dem die hungernde und frierende Bevölkerung lebt. Doch er sagt sich und seinen Klassenkameraden immer aufs Neue, dass sich die Deutschen selbst ins Unglück gestürzt hätten und die Verantwortung für ihr Tun tragen müssten. Jessel kann einfach nicht verstehen, warum selbst die Schüler der Musterschule, einer Reformschule, die explizit die demokratischen Werte der Weimarer Republik lehrte, sich nicht gegen die Tyrannei gewehrt hatten. Was freilich nicht auf den Schuldirektor Peter Müller zutrifft, dem die Nazis 1937 aus politischen Gründen die Leitung der Schule entzogen. Doch er war eine der wenigen Ausnahmen. Seine Arbeitsstelle zu opfern oder seine berufliche Laufbahn, um den normalen menschlichen Prinzipien zu entsprechen, sei von den Deutschen für töricht gehalten worden, urteilt Jessel. Sein Leben zu riskieren, um aktiv gegen das Regime Widerstand zu leisten, sei als unrealistischer Wahnwitz angesehen worden. "Zum einzigen Lebensziel des durchschnittlichen Deutschen wurde es, sich nicht in Schwierigkeit zu bringen", lautet das Fazit des Musterschülers.

Man muss seine Ansicht nicht teilen. Die Klassenkameraden Jessels konnten durchaus gute Grüne für ihr Handeln beziehungsweise Nichthandeln angeben. Selten ist aber so genau aufgeschrieben worden, warum selbst intelligente, aufgeklärte Deutsche aus der liberalen Mittelschicht keine Helden waren, weshalb sie sich anpassten und wie sie sich durchzuschlängeln versuchten. Wer Jessels Buch liest, taucht tief in die Atmosphäre der unmittelbaren Nachkriegszeit ein, die man sich als Nachgeborener kaum mehr vorstellen kann.

Das Buch "Spurensuche 1945. Ein jüdischer Emigrant befragt seine Abiturklasse" von Walter Jessel ist im Fachhochschulverlag erschienen und kostet 20 Euro.

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