Produktdetails
  • Verlag: DVA
  • Seitenzahl: 151
  • Abmessung: 195mm
  • Gewicht: 220g
  • ISBN-13: 9783421055163
  • ISBN-10: 3421055165
  • Artikelnr.: 24696848
  • Herstellerkennzeichnung
  • Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2001

Das Ich in der Welt
Volker Kaminski streunt durchs Leben und kommt trotzdem an

Die Zutaten sind einfach: Man nehme eine alte Schulfreundschaft zwischen Männern um die Dreißig, eine schöne Frau, die verbindend und trennend zwischen ihnen steht, und konstruiere daraus eine dramatische Dreiecksgeschichte. Zur Kulisse eignet sich Berlin im Jahr nach dem Mauerfall, als die Stadt zum Synonym für Veränderung wurde und alle, die sich ändern wollten, herbeieilten. Das dazu passende Milieu ist die Kunstszene mit aufmerksamkeitssüchtigen Galeristen und selbstverwirklichungsgetriebenen Dilettanten. Dazwischen, immer dazwischen, steht der Held, der seinen Platz im Leben sucht.

In diesem Fall, in Volker Kaminskis zweitem Roman "Spurwechsel", kommt der Ich-Erzähler Louis aus Freiburg. Er flieht aus einer Beziehung, die zielstrebig in die Ehe zu münden droht. Seine Tätigkeit als Archivar langweilt ihn. Vom künstlerischen Talent, das er in früherer Jugend zu besitzen glaubte, ist nichts geblieben. Damals gelang es ihm noch, mit leichter Hand Zeichnungen auf seinen Block zu werfen. Jetzt aber bringt er nichts mehr zustande und liegt "wie aufgebahrt" auf dem Sonntagnachmittagsliegestuhl.

Letzte Ausflucht Berlin also. Denn dort "vibriert" es erwartungsgemäß in diesen Wochen, und die Menge scheint allabendlich immer aufs neue zum Brandenburger Tor zu strömen, um in Jubel auszubrechen. Louis, der Held, ist mittendrin und doch nicht dabei. Die Stadt bleibt für ihn Kulisse diffuser Träume und Pläne. Zum Zeichen seiner Nichtzugehörigkeit wohnt er erst irgendwo im Norden, bis er schließlich zu seinem alten Freund Paul, vor allem aber zu dessen Frau Isabelle zieht, die in einer Villa in Dahlem eine Künstlerkommune anführen. In Isabelle hat er sich verliebt, zu Paul ist das Verhältnis mehr als angespannt. Ehemann und Liebhaber unter einem Dach, das kann nicht gutgehen - auch nicht in Kreisen, in denen sexuelle Libertinage und offene Beziehungen gepriesen werden. Warum Louis glaubt, Isabelle verspreche ein anderes, besseres gemeinsames Leben als die in Freiburg zurückgelassene Fast-Ehefrau, bleibt sein Geheimnis. Seine Versuche, es doch noch einmal mit der Malerei zu versuchen, scheitern kläglich. Das neue Leben, Sinn und Bedeutung finden sich auch in Berlin nicht von selbst. Identität muß im Stahlbad der Konflikte hart erworben werden, ansonsten ergäbe die Geschichte ja auch keine Literatur.

Volker Kaminski schafft es erstaunlicherweise, aus all diesen abgestandenen Ingredienzien, aus Berlin-Roman, Wenderoman, Künstlerroman und Ménage à trois eine Geschichte zu kompilieren, die ihre eigene Dynamik und sogar eine zunehmende Spannung entfaltet - bis hin zu einem regelrechten Showdown am S-Bahnhof Treptow. Wie es ihm gelingt, den Leser bei der Stange zu halten, ist schwierig zu begreifen. Vielleicht hat es mit der immanenten Bescheidenheit der Erzählweise zu tun. Kaminski schreibt mit einer durch keinerlei modernistische Sprachzweifel angekränkelten Selbstverständlichkeit, was nur funktioniert, weil er hinter seinem braven Ich-Erzähler verborgen bleibt. "Er runzelte die Stirn." "Ich hob die Achseln." "Sie machte sich los und griff schmunzelnd in ihre Handtasche." "Isabelle tätschelte mir die Schulter und schloß begütigend die Augen." Dieser verschmockte Tonfall ist nur dadurch zu retten, daß er sich seiner Grenzen bewußt bleibt und an keiner Stelle über sich hinaus will. Die Behäbigkeit gerät dabei in einen merkwürdigen Kontrast zum Inhalt der Erzählung: zur ziellosen Suche nach einem eigenen Weg durchs Leben, der aber leider nicht viel mehr an Überraschungen bietet als die Dauererregtheit einer komplizierten Liebesbeziehung.

Zukünftige Leser, die Kaminskis Buch zur Hand nehmen werden, um etwas über die frühen neunziger Jahre in Berlin zu erfahren, werden sich über die friedliche Überschaubarkeit und die Abwesenheit der Zeitgeschichte wundern, die doch zugleich ständig beschworen wird. Die Figuren interessieren sich ausschließlich für sich selbst und nehmen die Außenwelt nur in Beziehung zum eigenen Ich wahr. Nur deshalb ist es möglich, einen Ich-Erzähler gnadenlos die doch eher banale Geschichte seiner Irrungen und Wirrungen ausbreiten zu lassen, ohne daß ihm jemals Zweifel kommen, warum und wem er das alles so ausführlich berichtet. Hält er es etwa selbst für wichtig, daß in seinem Auto eine leere Flasche herumrollte? Oder daß auf dem Kneipentisch ein Wasserglas stand? Vermutlich ist es so, daß all die Dinge, die in ihrer Summe eines Tages das Leben ausgemacht haben werden, erst dadurch eine Bedeutung erhalten, daß sie erzählt werden. Der Zaubertrick, der das alltägliche Leben in etwas Besonderes verwandelt, besteht darin, es in Literatur zu transformieren. Das gilt natürlich in erster Linie für den Erzähler selbst. Die Leser müssen selber entscheiden, ob sie den Zauber mitmachen.

JÖRG MAGENAU

Volker Kaminski: "Spurwechsel". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart und München 2001. 151 S., geb., 32,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Fast ein wenig verwunderlich findet es Jörg Magenau, dass man aus den von Volker Kaminski verwendeten "abgestandenen Ingredienzien" einen brauchbaren Roman basteln kann. So hat Kaminski "Berlin-Roman, Wenderoman, Künstlerroman und Menage a trois" zusammen geschüttet und es gelingt ihm tatsächlich, jedenfalls nach Ansicht des Rezensenten, dabei alltäglichste Begebenheiten "in Literatur zu transformieren". Sogar über manch Bedenkliches lässt sich dabei hinweg sehen, etwa die erstaunliche "Abwesenheit der Zeitgeschichte" im zeitgeschichtlich hochbedeutsamen Berliner Nachwendesetting. Dies liegt, glaubt Magenau, an der "immanenten Bescheidenheit" des Erzählers, der über einen etwas "verschmockten Tonfall" nicht hinaus kommt, aber eben, und das macht ihn wohl so sympathisch, auch gar nicht hinaus will.

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