Das Buch dokumentiert erstmalig den Transport von prominenten Sippen- und Sonderhäftlingen aus deutschen Konzentrationslagern nach Südtirol. Die 139 Gefangenen aus 17 Nationen waren als Geiseln der SS in die Alpen verschleppt worden, wo sie dem Chef der Sicherheitspolizei Dr. Ernst Kaltenbrunner für Verhandlungen mit den Alliierten zur Verfügung stehen sollten. Unter den Internierten befanden sich der ehemalige österreichische Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg, der frühere französische Ministerpräsident Léon Blum sowie Familienangehörige des Obersten Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der am 20. Juli 1944 das Attentat auf Adolf Hitler verübt hatte.Die Gefangenen wurden im April 1945 aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Flossenbürg im KZ Dachau zusammengezogen und dann von einem Sonderkommando der SS und des SD über Innsbruck nach Niederdorf im Hochpustertal gebracht, wo sie am 30. April 1945 von Soldaten der deutschen Wehrmacht aus der Gewalt der SS befreit wurden. Die Wehrmacht übernahm den Schutz der Häftlinge und brachte sie ins Hotel "Pragser Wildsee", wo sie am 4. Mai 1945 von amerikanischen Truppen übernommen wurden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005Unerwartete Freiheit
Himmlers prominente "Ehrenhäftlinge" waren bei Kriegsende in Südtirol
Hans-Günter Richardi: SS-Geiseln in der Alpenfestung. Die Verschleppung prominenter KZ-Häftlinge aus Deutschland nach Südtirol. Edition Raetia, Bozen 2005. 312 Seiten, 22,50 [Euro].
Es war eine buntgemischte Gesellschaft, die sich da im Mai 1945 in den Fluren des ungeheizten Sommerhotels "Pragser Wildsee" drängte. Der Prinz von Hessen und der französische Sozialist Léon Blum, das halbe ungarische Kabinett und der Bischof von Clermont-Ferrand, dann Pastor Niemöller, zwei englische Geheimagenten, der ehemalige österreichische Bundeskanzler Schuschnigg und noch viele mehr. Für sie alle war das gastliche Haus hier auf 1500 Meter Höhe über dem Pustertal in Südtirol das Ende einer langen und entbehrungsreichen Odyssee, die sie durch die verschiedensten KZ geführt hatte. Sie alle waren Sippenhäftlinge oder Geiseln des "Dritten Reiches" gewesen, das jetzt zu Ende ging.
Hans-Günter Richardi beschreibt ihren Weg von der Verhaftung an. Er skizziert ihre Charaktere, läßt auch jene "Kalfakter" und "Hauserl" nicht aus, die als Hilfskräfte eingeteilt waren und gelegentlich sogar Möglichkeiten der Flucht ungenutzt ließen, um bei ihren Schützlingen zu bleiben. Von Berlin geht es über Sachsenhausen oder Ravensbrück nach Flossenbürg bei Hof, und von da - oft in drangvoller Enge und großer Kälte - über Dachau weiter nach Tirol. Richardi zitiert ausgiebig aus den Erinnerungen der Beteiligten, darunter mehrere Angehörige der Familie Stauffenberg. Überzeugend legt er dar, wie die SS mit ihren Gefangenen immer wieder vor den vorrückenden Amerikanern flieht und sie schließlich in jene "Alpenfestung" verschleppt, die doch nur in der Phantasie weniger existiert. Was Himmler mit seinen "Ehrenhäftlingen" wirklich vorhatte, welche Visionen für einen von ihm eingefädelten Waffenstillstand er gehabt haben mag, das bleibt dunkel. Deutlich aber wird, wie diese Ungewißheit auch zu einer Unsicherheit der Wachmannschaften führt. Hatten sie wirklich Weisung, die Häftlinge notfalls durch Ermordung dem Zugriff der Alliierten zu entziehen? Am Ende gelingt es mit beherztem Eingreifen dem Heer, auf eine Initiative des Generals Hans Röttiger (später erster Inspekteur des Heeres der Bundeswehr), die SS zu entmachten und die Geiseln in Obhut zu nehmen - auch ein Kapitel in der langen Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Heer und SS.
Der Band ist als Begleitbuch zu einer Ausstellung der Gemeinde Niederdorf im Pustertal in Südtirol entstanden. Er beschränkt sich keineswegs auf lokalgeschichtliche Perspektiven, wenn er auch in einigen seiner vielen gelungenen Bilder die atemberaubende Schönheit jener Region erahnen läßt, in der gut 100 Menschen unerwartet ihre Freiheit wiedergewannen.
WINFRIED HEINEMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Himmlers prominente "Ehrenhäftlinge" waren bei Kriegsende in Südtirol
Hans-Günter Richardi: SS-Geiseln in der Alpenfestung. Die Verschleppung prominenter KZ-Häftlinge aus Deutschland nach Südtirol. Edition Raetia, Bozen 2005. 312 Seiten, 22,50 [Euro].
Es war eine buntgemischte Gesellschaft, die sich da im Mai 1945 in den Fluren des ungeheizten Sommerhotels "Pragser Wildsee" drängte. Der Prinz von Hessen und der französische Sozialist Léon Blum, das halbe ungarische Kabinett und der Bischof von Clermont-Ferrand, dann Pastor Niemöller, zwei englische Geheimagenten, der ehemalige österreichische Bundeskanzler Schuschnigg und noch viele mehr. Für sie alle war das gastliche Haus hier auf 1500 Meter Höhe über dem Pustertal in Südtirol das Ende einer langen und entbehrungsreichen Odyssee, die sie durch die verschiedensten KZ geführt hatte. Sie alle waren Sippenhäftlinge oder Geiseln des "Dritten Reiches" gewesen, das jetzt zu Ende ging.
Hans-Günter Richardi beschreibt ihren Weg von der Verhaftung an. Er skizziert ihre Charaktere, läßt auch jene "Kalfakter" und "Hauserl" nicht aus, die als Hilfskräfte eingeteilt waren und gelegentlich sogar Möglichkeiten der Flucht ungenutzt ließen, um bei ihren Schützlingen zu bleiben. Von Berlin geht es über Sachsenhausen oder Ravensbrück nach Flossenbürg bei Hof, und von da - oft in drangvoller Enge und großer Kälte - über Dachau weiter nach Tirol. Richardi zitiert ausgiebig aus den Erinnerungen der Beteiligten, darunter mehrere Angehörige der Familie Stauffenberg. Überzeugend legt er dar, wie die SS mit ihren Gefangenen immer wieder vor den vorrückenden Amerikanern flieht und sie schließlich in jene "Alpenfestung" verschleppt, die doch nur in der Phantasie weniger existiert. Was Himmler mit seinen "Ehrenhäftlingen" wirklich vorhatte, welche Visionen für einen von ihm eingefädelten Waffenstillstand er gehabt haben mag, das bleibt dunkel. Deutlich aber wird, wie diese Ungewißheit auch zu einer Unsicherheit der Wachmannschaften führt. Hatten sie wirklich Weisung, die Häftlinge notfalls durch Ermordung dem Zugriff der Alliierten zu entziehen? Am Ende gelingt es mit beherztem Eingreifen dem Heer, auf eine Initiative des Generals Hans Röttiger (später erster Inspekteur des Heeres der Bundeswehr), die SS zu entmachten und die Geiseln in Obhut zu nehmen - auch ein Kapitel in der langen Geschichte der Auseinandersetzung zwischen Heer und SS.
Der Band ist als Begleitbuch zu einer Ausstellung der Gemeinde Niederdorf im Pustertal in Südtirol entstanden. Er beschränkt sich keineswegs auf lokalgeschichtliche Perspektiven, wenn er auch in einigen seiner vielen gelungenen Bilder die atemberaubende Schönheit jener Region erahnen läßt, in der gut 100 Menschen unerwartet ihre Freiheit wiedergewannen.
WINFRIED HEINEMANN
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