Das Kloster St. Emmeram ist aufgrund seiner besonders umfangreichen Überlieferungsgeschichte ein bevorzugtes Objekt der monastischen Mittelalterforschung, denn hier lassen sich Entwicklungen, Kontinuität und Reformbewegungen in einer Detailliertheit nachvollziehen, wie es für den deutschsprachigen
Raum selten sind. Der hier vorliegende Tagungsband zur Liturgie und Musik zieht u. a. neue…mehrDas Kloster St. Emmeram ist aufgrund seiner besonders umfangreichen Überlieferungsgeschichte ein bevorzugtes Objekt der monastischen Mittelalterforschung, denn hier lassen sich Entwicklungen, Kontinuität und Reformbewegungen in einer Detailliertheit nachvollziehen, wie es für den deutschsprachigen Raum selten sind. Der hier vorliegende Tagungsband zur Liturgie und Musik zieht u. a. neue Erkenntnisse aus der kürzlich abgeschlossenen Edition der Emmeramer Libri ordinarii (Gottesdienstanweisungen im kirchlichen Jahr), die im Rahmen des „Cantus Network“ digitalisiert und damit recherchier- und analysierbar wurden. Der Schwerpunkt auf den Libri ordinarii in zahlreichen Beiträgen kommt nicht von ungefähr, denn sie sind zum einen über einen sehr langen Zeitraum überliefert, zum anderen spiegeln sich in ihnen sowohl reformatorische Einflüsse (z. B. die Kastler Reform) als auch der konkrete regionale und monastische Sakralraum wieder, indem detaillierte Angaben zu Prozessionswegen, Grablegen und Altären mit der Liturgie verbunden und dokumentiert wurden. Die zugehörige Musiktradition lässt sich allerdings nur indirekt aus einigen erhaltenen Gesangbüchern Regensburger Pfarrkirchen ableiten. Im Gegensatz dazu steht eine erst kürzlich in Prag entdeckte Quelle aus der Karolingerzeit, die als einzige die Melodien des Emmeram-Offizium tradiert und ebenfalls in mehrere Beiträge einfließt.
Eine ähnlich komplexe Gemengelage bietet die Überlieferung der Emmeramsviten, die in zwei konkurrierenden Fassungen in Süddeutschland zirkulierten. Veronika Lukas untersucht die Intentionen des „Neuautors“ Probst Arnold, der im frühen 11. Jahrhundert die karolingische Version von Arbeo mehr oder weniger stark überarbeitete. Hier zeigen sich ein verändertes historisches Interesse, aber auch politische Einflüsse, sowohl innerhalb wie außerhalb des Klosters. Kurz danach nimmt der Emmeramer Abt Wilhelm von Hirsau Kontakt zum Reformkloster Cluny auf, was sich wiederum auf Liturgie und das monastische Leben in Emmeram auswirken wird, wobei Wilhelm ein wesentlich moderateres Modell wählen wird als die bald darauf gegründeten Zisterzienser. All das zeigt, wie sehr regionale und überregionale Einflüsse sich in Emmeram überlagern und wie das Kloster als Kondensationskeim fungierte.
Die letzten Beiträge erweitern den Blick noch einmal dezidiert auf Regensburg und die Wechselwirkungen zwischen Diözese und Kloster. Auch werden einzelne Manuskripte, darunter einige spätmittelalterliche Chorbücher aus dem Regensburger Raum, sowie der Mensuralcodex des Hermann Pötzlinger im Detail analysiert und in den liturgischen und musikgeschichtlichen Kontext gestellt. Der letzte Beitrag überwindet dann sogar die Konfessionsschranken, indem er das Chorbuch des Ambrosius Mayrhofer von 1542 vor dem Hintergrund des katholischen St. Emmeram in Nachbarschaft zum damals evangelischen Rat der Stadt Regensburg bewertet. Es ist ein Musterbeispiel diplomatischer Ausgewogenheit in einer Zeit, die für Diplomatie wenig berühmt ist.
Der wissenschaftliche Anspruch an den Leser ist hoch, angefangen bei den nur teilweise übersetzten lateinischen Zitaten bis hin zu anspruchsvollen musiktheoretischen Beiträgen, die detailliertes Vorwissen voraussetzen. Die Komplexität und teilweise auch nur fragmentarische Überlieferung der Quellen, die mit detektivischem Spürsinn und den Analysefunktionen des Cantus Network zusammengeführt werden, bietet aber zahlreiche Überraschungen, auch wenn absolute historische Sicherheit über einen so langen Zeitraum bis zu einem gewissen Teil Spekulation bleiben muss.
(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)