Robert Louis Stevenson was a 19th century Scottish essayist, poet, novelist, and travel writer. His most famous works are Kidnapped, Dr Jekyll and Mr. Hyde, and Treasure Island. St. Ives: Being The Adventures of a French Prisoner in England (1897) is an unfinished novel by Robert Louis Stevenson. Arthur Quiller-Couch completed the novel in 1898. Captain Jacques St. Ives is a Napoleonic soldier who has been captured by the British.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.04.2011Was sind denn das für Geschichten, Halunke!
Die Angelsachsen schmähten ihn lang als Kolportage-Schreiber, dabei ist Robert Louis Stevenson ein Erzähler von Weltformat. Sein Abenteuerroman "St. Ives" ist sensationell - zu Wasser, auf der Erde und in der Luft.
Im Jahr 1914, so teilt uns Andreas Nohl in seinem Nachwort mit, schrieb "ein Mann namens Swinnerton ein Buch von über 200 Seiten, um darzulegen, dass Stevenson ein zweitklassiger Schriftsteller sei". Das war zwanzig Jahre nach dem Tod des zu Lebzeiten hochgeschätzten Autors. Nicht lange danach senkt Bloomsbury den Daumen nach unten: Virginia und Leonard Woolf hauen in die gleiche Kerbe. Schließlich wird Stevenson in Großbritannien gleichsam aus der Literatur exkommuniziert: In der Oxford Anthology of English Literature aus dem Jahr 1973 fehlt sein Name ganz. Man kann sich das höchstens mit der berühmten Floskel vom Propheten im eigenen Land erklären (und vielleicht noch dadurch, dass der Mann Schotte war), und keine Wertschätzung durch berühmte Kollegen wie Mallarmé, Chesterton, Nabokov oder Brecht schien bis heute viel daran ändern zu können. Der angelsächsischen akademischen Rezeption fällt es offenbar schwer, einen Autor einzuordnen, der in so vielen verschiedenen Genres gearbeitet hat, und deshalb hat sie ihn lieber gleich ganz entsorgt.
Allerdings gibt es seit einiger Zeit auch Gegentendenzen, so beispielsweise eine neuere amerikanische Untersuchung, die sein Werk auf Parallelen zu dem Joseph Conrads analysiert und im Untertitel "Writers of Transition" heißt. Da ist man schon mal auf der richtigen Spur. Wer zum Beispiel Stevensons "Die Ebbe" liest, ist so weit nicht mehr vom "Herz der Finsternis" entfernt.
"St. Ives" ist der letzte Roman von Robert Louis Stevenson, falls man das so eindeutig sagen kann bei einem Autor, der immer mit mehreren Projekten auf mehreren Baustellen gleichzeitig beschäftigt war. Er hat ihn nicht vollenden können, so dass wir die letzten sechs Kapitel auf Basis des schon ausgearbeiteten Konzepts dem zwanzig Jahre jüngeren Kollegen Arthur Quiller-Couch verdanken. Wenn einmal der inflationär gebrauchte Begriff "kongenial" zutrifft, dann hier: Weder ein stilistischer noch ein erzähltechnischer Bruch ist in diesen letzten Kapiteln zu spüren.
Es handelt sich um einen Abenteuerroman nach allen Regeln der Kunst: mit Sensationen zu Lande, in der Luft und zu Wasser, in dieser Reihenfolge. Der Abenteuerroman ist ein moderner Abkömmling des Ritterromans, und der Held dieses Epos, der französische Junker Kéroual de Saint-Yves, Kriegsgefangener in Edinburgh zur Zeit der Napoleonischen Kriege, muss folgerichtig, unter Einsatz seines Lebens, eine Menge Âventiuren bestehen und vor der schönen Frau zunächst einmal einen Goldschatz erobern. Da die Zeit der Ritterromane um die vorletzte Jahrhundertwende aber schon lange vorbei war, haben in diesem Roman auch zwei Rechtsanwälte entscheidende Positionen besetzt und verweisen so ironisch auf die Verrechtlichung des modernen Lebens. Der Goldschatz liegt nämlich nicht irgendwo vergraben, sondern hat die Form einer Erbschaft.
Der Reihe nach: Der französische Adelige, der unter dem Namen Champdivers als einfacher Mannschaftsdienstgrad in Napoleons Armee dient und eigentlich ein Spion ist, gerät in Kriegsgefangenschaft, ist auf der Festung Edinburgh inhaftiert, verliebt sich in ein schottisches Mädchen namens Flora, das zusammen mit seiner Tante die Gefangenen zuweilen besucht. Er flieht mit seinen Kameraden aus der Festung, geht dann eigene Wege, wobei er sich in Anlehnung an seinen französischen Adelsnamen St. Ives nennt.
Zunächst geht es, verbunden mit abenteuerlichen Kutschfahrten, über die Grenze nach England zu seinem Erbonkel, der schon nach der Revolution Frankreich verlassen hat. Es versteht sich von selbst, dass St. Ives auf dem Weg in den englischen Süden nicht nur etliche Gefahren zu bestehen hat, sondern dass ihm auch ein schon lange in England lebender Cousin, ebenfalls ein Spion, die Erbschaft streitig machen will und bis zum Ende mit den unlautersten Mitteln darum kämpfen wird. Vor Ort handelt St. Ives sich einen Kammerdiener namens Rowley ein, ein Prachtexemplar von einem jungen Mann, und dann geht es unter nicht geringerer Gefahr zurück nach Edinburgh, denn schließlich soll Flora gefreit werden. Bis es dazu kommt, müssen weitere Prüfungen bestanden werden, darunter eine irrwitzige Ballonfahrt, Abenteuer auf See auf einem angeblichen Freibeuterschiff und eben mal ein kurzer Besuch in Paris, zum selben Zeitpunkt, als der Kaiser der Franzosen abdankt. 465 Seiten braucht es, bis das Happy End erreicht ist, und jede einzelne davon ist die Lektüre wert.
Stevenson wusste eben schon lange vor Ernst Bloch, dass der Roman eine unreine Mischung ist und ein kräftiger Schuss Kolportage kein Sakrileg. Die Kunst besteht unter anderem darin, selbst die größten Zufälle, an denen dieses Buch nicht arm ist, wie selbstverständlich erscheinen zu lassen. Das gelingt dem souveränen Handwerker Stevenson durchweg, indem er sie deutlich vorführt, ebenso wie die zuweilen schrille Situationskomik einzelner Szenen. Stevensons Erzähler, dieser Kéroual de Saint-Yves alias Champdivers alias St. Ives alias Mr. Ducie, ist schließlich kein tumber Tor, sondern ein Hochstapler von einigen Gnaden. Hier schreibt ein Autor, der nicht nur weiß, sondern immer wieder deutlich darauf hinweist, welche Tricks er anwendet, ohne dass ihm sein hoher Reflexionsgrad die Lust am Erzählen nimmt. Viel später hat sich die Postmoderne diese Haltung hart erarbeiten müssen, mit oft sehr viel dünneren Resultaten.
Natürlich wird der Roman auch dadurch getragen, dass Stevenson als gewohnt skrupulöser Stilist brilliert. Überwältigend allein die Chuzpe des ersten Satzes: "Schließlich hatte ich das Pech, im Mai 1813 in die Hände des Feindes zu fallen." Gottlob hat da kein Lektor die Hände überm Kopf zusammengeschlagen und gerufen, man könne einen Roman von bald fünfhundert Seiten wohl kaum mit dem Wort "schließlich" beginnen. Man kann - und hat den Leser gleichsam im Sturmangriff überrumpelt, um sprachlich in der militärischen Sphäre des Erzählers zu verbleiben. Bisher war Krieg, sagt der Satz, aber für mich ist er jetzt vorbei, und nun beginnt meine eigentliche Geschichte.
Es war überdies reichlich kühn, ein britisches Publikum mit einer Geschichte gewinnen zu wollen, die aus der Perspektive eines französischen Kriegsgefangenen in Edinburgh erzählt wird. Der Schotte Stevenson nutzt diese Erzählerposition unter anderem weidlich aus, um ab und an den Engländern eins auszuwischen. Das Bild von John Bull, das hier gezeichnet wird, ist wenig schmeichelhaft. Seine schottischen Landsleute kommen da weit besser weg, sieht man von der düster-komischen Schilderung des "schottischen Sabbats" und des überaus komplizierten Sektenwesens ab. Dass die Angebetete, um derentwillen all diese gefährlichen Abenteuer bestanden werden, eine Schottin ist, versteht sich von selbst: "... von edler Haltung und mit verschwenderischer Haarpracht, in der die Sonne Goldfäden spann". Der Roman stellt in gewisser Weise eine Heimkehr des Autors nach Schottland dar - vom fernen Samoa aus, wo er geschrieben wurde. Saint-Yves ist allerdings alles andere denn ein als Franzose verkleideter Schotte. Bei seiner durchaus vorhandenen Frankophilie gelingt Stevenson das Porträt eines wirklichen Franzosen ohne weiteres.
Andreas Nohl hat Stevensons spätes Werk in ein geschmeidiges, frisches Deutsch übersetzt. Er hat zudem ein lesenswertes Nachwort geschrieben und den Roman mit ausführlichen Anmerkungen versehen. Der ist, wie man beim Lesen schnell begreift, nicht nur ein Spät-, sondern auch ein Hauptwerk und macht schmerzlich deutlich, dass Robert Louis Stevenson mindestens zwanzig Jahre zu früh gestorben ist. So sind gewiss einige Werke der Weltliteratur ungeschrieben geblieben. Dieses hier aber gehört ihr an und sollte nun gelesen werden.
JOCHEN SCHIMMANG
Robert Louis Stevenson: "St. Ives". Roman.
Herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. Carl Hanser Verlag, München 2011. 517 S., geb., 27,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Angelsachsen schmähten ihn lang als Kolportage-Schreiber, dabei ist Robert Louis Stevenson ein Erzähler von Weltformat. Sein Abenteuerroman "St. Ives" ist sensationell - zu Wasser, auf der Erde und in der Luft.
Im Jahr 1914, so teilt uns Andreas Nohl in seinem Nachwort mit, schrieb "ein Mann namens Swinnerton ein Buch von über 200 Seiten, um darzulegen, dass Stevenson ein zweitklassiger Schriftsteller sei". Das war zwanzig Jahre nach dem Tod des zu Lebzeiten hochgeschätzten Autors. Nicht lange danach senkt Bloomsbury den Daumen nach unten: Virginia und Leonard Woolf hauen in die gleiche Kerbe. Schließlich wird Stevenson in Großbritannien gleichsam aus der Literatur exkommuniziert: In der Oxford Anthology of English Literature aus dem Jahr 1973 fehlt sein Name ganz. Man kann sich das höchstens mit der berühmten Floskel vom Propheten im eigenen Land erklären (und vielleicht noch dadurch, dass der Mann Schotte war), und keine Wertschätzung durch berühmte Kollegen wie Mallarmé, Chesterton, Nabokov oder Brecht schien bis heute viel daran ändern zu können. Der angelsächsischen akademischen Rezeption fällt es offenbar schwer, einen Autor einzuordnen, der in so vielen verschiedenen Genres gearbeitet hat, und deshalb hat sie ihn lieber gleich ganz entsorgt.
Allerdings gibt es seit einiger Zeit auch Gegentendenzen, so beispielsweise eine neuere amerikanische Untersuchung, die sein Werk auf Parallelen zu dem Joseph Conrads analysiert und im Untertitel "Writers of Transition" heißt. Da ist man schon mal auf der richtigen Spur. Wer zum Beispiel Stevensons "Die Ebbe" liest, ist so weit nicht mehr vom "Herz der Finsternis" entfernt.
"St. Ives" ist der letzte Roman von Robert Louis Stevenson, falls man das so eindeutig sagen kann bei einem Autor, der immer mit mehreren Projekten auf mehreren Baustellen gleichzeitig beschäftigt war. Er hat ihn nicht vollenden können, so dass wir die letzten sechs Kapitel auf Basis des schon ausgearbeiteten Konzepts dem zwanzig Jahre jüngeren Kollegen Arthur Quiller-Couch verdanken. Wenn einmal der inflationär gebrauchte Begriff "kongenial" zutrifft, dann hier: Weder ein stilistischer noch ein erzähltechnischer Bruch ist in diesen letzten Kapiteln zu spüren.
Es handelt sich um einen Abenteuerroman nach allen Regeln der Kunst: mit Sensationen zu Lande, in der Luft und zu Wasser, in dieser Reihenfolge. Der Abenteuerroman ist ein moderner Abkömmling des Ritterromans, und der Held dieses Epos, der französische Junker Kéroual de Saint-Yves, Kriegsgefangener in Edinburgh zur Zeit der Napoleonischen Kriege, muss folgerichtig, unter Einsatz seines Lebens, eine Menge Âventiuren bestehen und vor der schönen Frau zunächst einmal einen Goldschatz erobern. Da die Zeit der Ritterromane um die vorletzte Jahrhundertwende aber schon lange vorbei war, haben in diesem Roman auch zwei Rechtsanwälte entscheidende Positionen besetzt und verweisen so ironisch auf die Verrechtlichung des modernen Lebens. Der Goldschatz liegt nämlich nicht irgendwo vergraben, sondern hat die Form einer Erbschaft.
Der Reihe nach: Der französische Adelige, der unter dem Namen Champdivers als einfacher Mannschaftsdienstgrad in Napoleons Armee dient und eigentlich ein Spion ist, gerät in Kriegsgefangenschaft, ist auf der Festung Edinburgh inhaftiert, verliebt sich in ein schottisches Mädchen namens Flora, das zusammen mit seiner Tante die Gefangenen zuweilen besucht. Er flieht mit seinen Kameraden aus der Festung, geht dann eigene Wege, wobei er sich in Anlehnung an seinen französischen Adelsnamen St. Ives nennt.
Zunächst geht es, verbunden mit abenteuerlichen Kutschfahrten, über die Grenze nach England zu seinem Erbonkel, der schon nach der Revolution Frankreich verlassen hat. Es versteht sich von selbst, dass St. Ives auf dem Weg in den englischen Süden nicht nur etliche Gefahren zu bestehen hat, sondern dass ihm auch ein schon lange in England lebender Cousin, ebenfalls ein Spion, die Erbschaft streitig machen will und bis zum Ende mit den unlautersten Mitteln darum kämpfen wird. Vor Ort handelt St. Ives sich einen Kammerdiener namens Rowley ein, ein Prachtexemplar von einem jungen Mann, und dann geht es unter nicht geringerer Gefahr zurück nach Edinburgh, denn schließlich soll Flora gefreit werden. Bis es dazu kommt, müssen weitere Prüfungen bestanden werden, darunter eine irrwitzige Ballonfahrt, Abenteuer auf See auf einem angeblichen Freibeuterschiff und eben mal ein kurzer Besuch in Paris, zum selben Zeitpunkt, als der Kaiser der Franzosen abdankt. 465 Seiten braucht es, bis das Happy End erreicht ist, und jede einzelne davon ist die Lektüre wert.
Stevenson wusste eben schon lange vor Ernst Bloch, dass der Roman eine unreine Mischung ist und ein kräftiger Schuss Kolportage kein Sakrileg. Die Kunst besteht unter anderem darin, selbst die größten Zufälle, an denen dieses Buch nicht arm ist, wie selbstverständlich erscheinen zu lassen. Das gelingt dem souveränen Handwerker Stevenson durchweg, indem er sie deutlich vorführt, ebenso wie die zuweilen schrille Situationskomik einzelner Szenen. Stevensons Erzähler, dieser Kéroual de Saint-Yves alias Champdivers alias St. Ives alias Mr. Ducie, ist schließlich kein tumber Tor, sondern ein Hochstapler von einigen Gnaden. Hier schreibt ein Autor, der nicht nur weiß, sondern immer wieder deutlich darauf hinweist, welche Tricks er anwendet, ohne dass ihm sein hoher Reflexionsgrad die Lust am Erzählen nimmt. Viel später hat sich die Postmoderne diese Haltung hart erarbeiten müssen, mit oft sehr viel dünneren Resultaten.
Natürlich wird der Roman auch dadurch getragen, dass Stevenson als gewohnt skrupulöser Stilist brilliert. Überwältigend allein die Chuzpe des ersten Satzes: "Schließlich hatte ich das Pech, im Mai 1813 in die Hände des Feindes zu fallen." Gottlob hat da kein Lektor die Hände überm Kopf zusammengeschlagen und gerufen, man könne einen Roman von bald fünfhundert Seiten wohl kaum mit dem Wort "schließlich" beginnen. Man kann - und hat den Leser gleichsam im Sturmangriff überrumpelt, um sprachlich in der militärischen Sphäre des Erzählers zu verbleiben. Bisher war Krieg, sagt der Satz, aber für mich ist er jetzt vorbei, und nun beginnt meine eigentliche Geschichte.
Es war überdies reichlich kühn, ein britisches Publikum mit einer Geschichte gewinnen zu wollen, die aus der Perspektive eines französischen Kriegsgefangenen in Edinburgh erzählt wird. Der Schotte Stevenson nutzt diese Erzählerposition unter anderem weidlich aus, um ab und an den Engländern eins auszuwischen. Das Bild von John Bull, das hier gezeichnet wird, ist wenig schmeichelhaft. Seine schottischen Landsleute kommen da weit besser weg, sieht man von der düster-komischen Schilderung des "schottischen Sabbats" und des überaus komplizierten Sektenwesens ab. Dass die Angebetete, um derentwillen all diese gefährlichen Abenteuer bestanden werden, eine Schottin ist, versteht sich von selbst: "... von edler Haltung und mit verschwenderischer Haarpracht, in der die Sonne Goldfäden spann". Der Roman stellt in gewisser Weise eine Heimkehr des Autors nach Schottland dar - vom fernen Samoa aus, wo er geschrieben wurde. Saint-Yves ist allerdings alles andere denn ein als Franzose verkleideter Schotte. Bei seiner durchaus vorhandenen Frankophilie gelingt Stevenson das Porträt eines wirklichen Franzosen ohne weiteres.
Andreas Nohl hat Stevensons spätes Werk in ein geschmeidiges, frisches Deutsch übersetzt. Er hat zudem ein lesenswertes Nachwort geschrieben und den Roman mit ausführlichen Anmerkungen versehen. Der ist, wie man beim Lesen schnell begreift, nicht nur ein Spät-, sondern auch ein Hauptwerk und macht schmerzlich deutlich, dass Robert Louis Stevenson mindestens zwanzig Jahre zu früh gestorben ist. So sind gewiss einige Werke der Weltliteratur ungeschrieben geblieben. Dieses hier aber gehört ihr an und sollte nun gelesen werden.
JOCHEN SCHIMMANG
Robert Louis Stevenson: "St. Ives". Roman.
Herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. Carl Hanser Verlag, München 2011. 517 S., geb., 27,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.07.2011Wie man durch schottische Fenstergitter küsst
Die napoleonische Ära als Abenteuerspielplatz: Robert Louis Stevensons später Roman „St. Ives“
Als der Held der Geschichte, begleitet von zwei Schäfern mit ihrer Herde, vor der englischen Staatsgewalt über das schottische Hochland flieht, hat er doch Muße genug, den Blick auf die Landschaft in sich aufzunehmen. Der Vicomte Anne de Kéroual de Saint-Yves (der in der Regel unter einem seiner Decknamen auftritt) bewundert die andauernde Folge gleichförmiger, wildbewachsener Hügel, zwischen denen Tausende Bäche laufen. An ihren Ufern stehen Weiden und Birken. Er lässt seinen Blick über die Matten aus Heidekraut schweifen, bemerkt die zahllosen Sumpfhühner und sieht die vielen „Ruinen alter belangloser Burgen“. Da wird die kleine Gruppe mit ihren Schafen von einem älteren Mann auf einem Bergpony überholt, ein Grabstein rückt ins Bild, und, siehe da, für den „Amateurtreiber“ ist die Zeit für eine Belehrung gekommen: „Der große Reiz dieses Landes liegt in seinen Legenden, die hier so verschwenderisch wachsen wie die Brombeeren.“ Der ältere Mann im Plaid heißt, wie sich bald erweist, Walter Scott, und die Legende, die er angeblich dem jungen Flüchtling erzählt, findet sich auch in „Waverley“, dem im Jahr 1814 erschienenen ersten britischen historischen Roman.
Der Roman, in dem Walter Scott einen kurzen Auftritt hat, trägt den Titel „St. Ives“. Er spielt in den späten Jahren der napoleonischen Kriege, ist aber achtzig Jahre später entstanden. Robert Louis Stevenson schrieb ihn 1893 auf der pazifischen Insel Samoa, wo er die letzte Zeit seines Lebens als Plantagenbesitzer verbrachte. Diese Differenz ist hier von einiger Bedeutung. Denn sie markiert nicht nur den zeitlichen Abstand – „tis sixty years since“ lautet der Untertitel von „Waverley“, und er ist programmatisch gemeint, als notwendige Voraussetzung für den historischen Roman – zwischen den Ereignissen und ihrer Verwandlung in Literatur. Sie umreißt auch die Spanne zwischen der Entstehung des historischen Romans und seinem Übergang in die populäre Dichtung, zum Unterhaltungsroman: Die großen historischen Romane, Victor Hugos „Der Glöckner von Notre Dame“ (1831) etwa oder Alessandro Manzonis „Die Brautleute“ (1827, 1840/42), Charles Dickens „Eine Geschichte aus zwei Städten“ (1859) und Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ (1869), „Jürg Jenatsch“ (1876) von Conrad Ferdinand Meyer und „Vor dem Sturm“ (1878) von Theodor Fontane sowie, ja, auch „Ben Hur“ (1890) von Lew Wallace, all diese historistischen Vollräusche waren zu dieser Zeit schon geschrieben und in großen Mengen verschlungen worden – im Neben- und Miteinander zur entstehenden Geschichtswissenschaft, als Denkmäler des Verlangens nach Nation und nationaler Identität, als sentimentale Huldigung an den (fiktiven) Charakter, in dem sich das Allgemeine der Geschichte und das Persönliche des Heroismus zu einer einzigartigen Individualität vereinen, zum romantischen Helden schlechthin.
Robert Louis Stevensons „St. Ives“ ist also ein spätes Werk dieses Genres, und das merkt man ihm an: Daran zuerst, dass der Held, eben jener St. Ives, kein „mittlerer Charakter“ (der Philosoph Georg Lukács erklärte diesen 1936 zur tragenden Figur des historischen Romans, weil durch ihn die Geschichte hindurchgehe) mehr ist, sondern, in seiner Überlegenheit allen anderen Charakteren gegenüber, deutliche Züge eines Helden der modernen Populärkultur angenommen hat. So sitzt er zu Beginn des Buches, ein von den Briten gefangener französischer Soldat, in der Festung Edinburgh und schnitzt nutzlose Dinge, aber so ernst die Lage auch sein mag, so leicht, vertraulich und selbstironisch ist der Ton, in dem er dem Leser von seinem Leben im Kerker erzählt.
Nie verlässt ihn diese Haltung, diese Salonstimme der gepflegten, anspruchsvollen, allem überlegenen Plauderei, und wenn er die Dame seines Herzens – Flora, die Frau, die zu erobern Ende, Ziel und Erfüllung der gesamten Geschichte bedeutet – zum ersten Mal küssen will, durch ein Fenstergitter hindurch, findet er die Zeit (und Distanz), über das Sich-Verlieben im Allgemeinen und Besonderen nachzudenken: „Während also im Weitersprechen mein Vorsatz immer stärker wurde, meine Stimme neue Tonlagen fand und unsere Gesichter sich näher zu den Stäben und zueinander neigten, unterlag nicht nur sie, sondern auch ich dem Zauber, entflammt von der Süße des Augenblicks. Wir wollen Liebe erregen und verlieben uns dadurch immer tiefer.“ Hätte Flora damals gewusst, was er später seinen Lesern anvertraut – sie hätte ihren unechten Liebhaber mit seiner gesamten Denk- und Fragwürdigkeit augenblicklich zum Teufel jagen müssen.
Die Schönheit und Vielfalt der Erfindungen und, vor allem, die große Schönheit der Sprache korrespondiert dem Umstand, dass es weder dem Helden noch dem Autor mit der Geschichte wirklich ernst ist. Daher wird hier tief in die Schatzkiste des literarischen Repertoires für die männliche Jugend gegriffen: Der junge Franzose aus solidem, aber verarmten Adel wird hinter den britischen Linien in Spanien aufgelesen und hat das Glück, nicht gehängt, sondern als gemeiner Kriegsgefangener behandelt zu werden. Und als er flieht, hat er nicht nur Flora im Sinn, sondern auch einen sterbenden Onkel, der in einem riesigen Schloss lebt und ihn zum Erben einsetzen will, gegen den Cousin, der, verschwenderisch, bösartig, verschlagen, den Gegenpol des gut aussehenden, mutigen, klugen, wohlerzogenen und zudem nahezu perfekt zweisprachigen Helden bildet.
Die Geschichte wandert über die Moore und durch die Wälder, es gibt wüste Überraschungen in nächtlichen Wirtshäusern, Überfälle, Verfolgungsjagden und allerhand Kämpfe, und zum Schluss, als das Buch sich immer mehr in einen „roman frénétique“ verwandelt, geht es, ähnlich wie in Robert Siodmaks fantastischem Abenteuerfilm „The Crimson Pirate“ (1952) mit einem Heißluftballon in den Himmel und mit einem amerikanischen Schoner nach Boston – und immer ist das Bild Floras gegenwärtig, des Zielpunkts der Reise.
Nein, die Verbeugung vor Walter Scott will nicht und sie kann nicht gelingen. Zu romanesk ist die Anlage des Buches, zu offensichtlich reißt die Leidenschaft hier die Geschichte mit sich, und zu selbstherrlich ist der Held, um tatsächlich als Medium einer historischen Erzählung wirken zu können. So aber, weil das Gegenüber von historischen Ereignissen und künstlerischer Freiheit zugunsten des heroischen Helden außer Kraft gesetzt ist, Stevenson aber dennoch einen historischen Roman schreiben will, entstehen Widersprüche im Aufbau der Intrige – und das zu einer Zeit, als „le rapétissement des héros“ (Émile Zola), die Entheldung des Helden, den Roman längst ergriffen hatte: der Widerspruch etwa zwischen der Unbedingtheit der Liebe, die der Held für sein schottisches Mädchen empfinden will, und dem Hang zum Nihilismus, den seine philosophischen Exkursionen offenbaren.
Oder der Widerspruch, dass der Held ein Spion war und ihm dies zur Ehre gereicht, während dieselben doppelten Loyalitäten seinen Feind zum absolut verwerflichen Charakter machen. Überhaupt: die doppelten Loyalitäten – die Frage, welcher Nation der Franzose in Großbritannien zugehört, wird schließlich (nachdem der Held erfahren musste, wie beflissen sich die Pariser Bevölkerung im März 1814 den Preußen und Kosaken ergab) ganz im Stil des Helden entschieden: „Es wurde mir klar, daß ich nun eine hochgestellte Persönlichkeit war: ein großer englischer Landbesitzer. Als wir nach dem Mahl durch Reihen sich verneigender und knicksender Persönlichkeiten zur Tür gingen, tat ich mein Bestes, eine dieser Ehrfurcht erregenden Position einigermaßen angemessene Miene aufzusetzen.“
Was bleibt, ist also eine „romance of chivalry“, wie Walter Scott das Genre nannte, ein Buch, in dem die Überlegenheit des Helden seinen wechselnden Lebensumständen gegenüber das wichtigste Motiv der Erzählung bildet. Dazu gehört die Ironie, mit der sich der Ich-Erzähler mit seinen Lesern zu verständigen scheint (sie muss sein, weil sie den Widerspruch zwischen Geschichtsschreibung und Romanze überdeckt). Dazu gehören die Obsession des Helden mit der Frage, ob und wie sich ein Gentleman zu verhalten habe, ebenso wie die vielfältigen Demonstrationen von Redekunst und Schlagfertigkeit, die ihm sein Autor in den Mund legt.
Andreas Nohl, der als Herausgeber und Übersetzer dieses Buch aus dem Halbschatten der fast schon vergessenen, minderen Werke der Literaturgeschichte herausholte, erklärt diese Neigung zum Romanesken zum einen damit, dass sich Stevenson in seinem selbstgewählten Exil auf Samoa heftig nach Edinburgh zurücksehnte, zum anderen mit der Neigung des Autors, die eigene Kränklichkeit mit der imaginären Kraft eines vitalen und mutigen Helden zu kompensieren. Doch dürfte Stevenson bemerkt haben, dass seine Geschichte nicht aufgeht: Er brach die Arbeit an diesem Werk ab, die letzten sechs Kapitel wurden nach seinem Tod im Dezember 1894 von Arthur Quiller-Couch, einem jungen Schriftsteller und Philologen, nach den Skizzen ergänzt – wobei die Intrige plötzlich mit einer Willkür und Geschwindigkeit davonsaust, die spüren lässt, dass hier mit Konsequenz nichts mehr auszurichten war.
Die Entscheidung des Herausgebers, die offenkundigen Schwächen des Romans nicht historisch und literarisch, sondern psychologisch begründen zu wollen, schlägt sich in der Übersetzung nieder. Beispiele dafür gibt es zahllose, so etwa in der oben zitierten kleinen Liebesszene, in der ein Gitter den Helden von seiner Angebeteten trennt: „As I went on, and my resolve strengthened, and my voice found new modulations, and our faces were drawn closer to the bars and to each other, not only she, but I, succumbed to the fascination, and were kindled by the charm. We make love, and thereby ourselves fall the deeper in it“, lautet sie im Original. Und so richtig, im sprachlichen Sinne, die Übertragung auch ist, so sehr verschiebt sie den Akzent vom Litaneihaften der Vorlage ( and . . . and . . . and) zugunsten eines dramatischeren Satzbaus und schmückt zudem die schlichten Sätze romantisch aus: „kindled by the charm“ ist jedenfalls um einige Grade kühler als „entflammt von der Süße des Augenblicks“ (einmal abgesehen davon, dass Süße bislang nicht zu den feuergefährlichen Stoffen gehörte).
In der Übersetzung regiert das Melodram, und das bleibt nicht folgenlos für die Wahrnehmung des gesamten Werks: Nicht nur fällt die Geschichte noch romantischer aus, als sie ohnehin schon ist – verlorengeht das Bemühen des Ich-Erzählers um einen spezifisch britischen Ton, um eine zur Schau gestellte Kühle und Souveränität, um Selbstironie und Gelassenheit. „It was in the month of May 1813 that I was so unlucky as to fall at last into the hands of the enemy“, lautet der erste Satz des Romans. „Schließlich hatte ich das Pech, im Mai 1813 in die Hände des Feindes zu fallen“, heißt er in der Übersetzung. Natürlich ergibt sich eine prächtige Pointe, wenn man einen großen Roman mit dem Wort „schließlich“ beginnen kann – aber das stand nicht da, und das „at last“ bezieht sich im Original auf die Gefangennahme und nicht auf das Pech. Solche Nuancen sind nicht gleichgültig für das Verständnis dieses Buches, weil hier ein Franzose seine Naturalisierung als Brite inszeniert, mit allen Mitteln, die der Sprache dafür zur Verfügung stehen. Aus der Spannung aber zwischen einer französischen Rhetorik und einem britischen Ideal von Kühle, aus dem Hin und Her zwischen den gesteigerten Ehrbegriffen eines heruntergekommenen kontinentalen Adels und dem Egalitarismus englischer Landgasthäuser entsteht im Original ein ganz eigener Reiz dieses Buches. An dieser Spannung, schließlich, ließe sich erkennen, was dieses Werk eigentlich ist: ein historischer Roman, der von Heimatlosigkeit handelt.
THOMAS STEINFELD
ROBERT LOUIS STEVENSON: St. Ives. Herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. Hanser Verlag, München 2011. 520 Seiten, 27,90 Euro.
Weder dem Autor noch
dem Helden ist es mit dieser
Geschichte wirklich ernst
Stevenson brach die Arbeit an
diesem Werk ab – es wurde nach
seinem Tod fertiggestellt
Von hier gelingt Stevensons Held die spektakuläre Flucht: Schloss und Festung in Edinburgh, hoch über der Stadt. Foto: The Bridgeman Art Library
Der Abenteuererfinder: Robert Louis Stevenson. Foto: Bettmann/Corbis
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Die napoleonische Ära als Abenteuerspielplatz: Robert Louis Stevensons später Roman „St. Ives“
Als der Held der Geschichte, begleitet von zwei Schäfern mit ihrer Herde, vor der englischen Staatsgewalt über das schottische Hochland flieht, hat er doch Muße genug, den Blick auf die Landschaft in sich aufzunehmen. Der Vicomte Anne de Kéroual de Saint-Yves (der in der Regel unter einem seiner Decknamen auftritt) bewundert die andauernde Folge gleichförmiger, wildbewachsener Hügel, zwischen denen Tausende Bäche laufen. An ihren Ufern stehen Weiden und Birken. Er lässt seinen Blick über die Matten aus Heidekraut schweifen, bemerkt die zahllosen Sumpfhühner und sieht die vielen „Ruinen alter belangloser Burgen“. Da wird die kleine Gruppe mit ihren Schafen von einem älteren Mann auf einem Bergpony überholt, ein Grabstein rückt ins Bild, und, siehe da, für den „Amateurtreiber“ ist die Zeit für eine Belehrung gekommen: „Der große Reiz dieses Landes liegt in seinen Legenden, die hier so verschwenderisch wachsen wie die Brombeeren.“ Der ältere Mann im Plaid heißt, wie sich bald erweist, Walter Scott, und die Legende, die er angeblich dem jungen Flüchtling erzählt, findet sich auch in „Waverley“, dem im Jahr 1814 erschienenen ersten britischen historischen Roman.
Der Roman, in dem Walter Scott einen kurzen Auftritt hat, trägt den Titel „St. Ives“. Er spielt in den späten Jahren der napoleonischen Kriege, ist aber achtzig Jahre später entstanden. Robert Louis Stevenson schrieb ihn 1893 auf der pazifischen Insel Samoa, wo er die letzte Zeit seines Lebens als Plantagenbesitzer verbrachte. Diese Differenz ist hier von einiger Bedeutung. Denn sie markiert nicht nur den zeitlichen Abstand – „tis sixty years since“ lautet der Untertitel von „Waverley“, und er ist programmatisch gemeint, als notwendige Voraussetzung für den historischen Roman – zwischen den Ereignissen und ihrer Verwandlung in Literatur. Sie umreißt auch die Spanne zwischen der Entstehung des historischen Romans und seinem Übergang in die populäre Dichtung, zum Unterhaltungsroman: Die großen historischen Romane, Victor Hugos „Der Glöckner von Notre Dame“ (1831) etwa oder Alessandro Manzonis „Die Brautleute“ (1827, 1840/42), Charles Dickens „Eine Geschichte aus zwei Städten“ (1859) und Leo Tolstois „Krieg und Frieden“ (1869), „Jürg Jenatsch“ (1876) von Conrad Ferdinand Meyer und „Vor dem Sturm“ (1878) von Theodor Fontane sowie, ja, auch „Ben Hur“ (1890) von Lew Wallace, all diese historistischen Vollräusche waren zu dieser Zeit schon geschrieben und in großen Mengen verschlungen worden – im Neben- und Miteinander zur entstehenden Geschichtswissenschaft, als Denkmäler des Verlangens nach Nation und nationaler Identität, als sentimentale Huldigung an den (fiktiven) Charakter, in dem sich das Allgemeine der Geschichte und das Persönliche des Heroismus zu einer einzigartigen Individualität vereinen, zum romantischen Helden schlechthin.
Robert Louis Stevensons „St. Ives“ ist also ein spätes Werk dieses Genres, und das merkt man ihm an: Daran zuerst, dass der Held, eben jener St. Ives, kein „mittlerer Charakter“ (der Philosoph Georg Lukács erklärte diesen 1936 zur tragenden Figur des historischen Romans, weil durch ihn die Geschichte hindurchgehe) mehr ist, sondern, in seiner Überlegenheit allen anderen Charakteren gegenüber, deutliche Züge eines Helden der modernen Populärkultur angenommen hat. So sitzt er zu Beginn des Buches, ein von den Briten gefangener französischer Soldat, in der Festung Edinburgh und schnitzt nutzlose Dinge, aber so ernst die Lage auch sein mag, so leicht, vertraulich und selbstironisch ist der Ton, in dem er dem Leser von seinem Leben im Kerker erzählt.
Nie verlässt ihn diese Haltung, diese Salonstimme der gepflegten, anspruchsvollen, allem überlegenen Plauderei, und wenn er die Dame seines Herzens – Flora, die Frau, die zu erobern Ende, Ziel und Erfüllung der gesamten Geschichte bedeutet – zum ersten Mal küssen will, durch ein Fenstergitter hindurch, findet er die Zeit (und Distanz), über das Sich-Verlieben im Allgemeinen und Besonderen nachzudenken: „Während also im Weitersprechen mein Vorsatz immer stärker wurde, meine Stimme neue Tonlagen fand und unsere Gesichter sich näher zu den Stäben und zueinander neigten, unterlag nicht nur sie, sondern auch ich dem Zauber, entflammt von der Süße des Augenblicks. Wir wollen Liebe erregen und verlieben uns dadurch immer tiefer.“ Hätte Flora damals gewusst, was er später seinen Lesern anvertraut – sie hätte ihren unechten Liebhaber mit seiner gesamten Denk- und Fragwürdigkeit augenblicklich zum Teufel jagen müssen.
Die Schönheit und Vielfalt der Erfindungen und, vor allem, die große Schönheit der Sprache korrespondiert dem Umstand, dass es weder dem Helden noch dem Autor mit der Geschichte wirklich ernst ist. Daher wird hier tief in die Schatzkiste des literarischen Repertoires für die männliche Jugend gegriffen: Der junge Franzose aus solidem, aber verarmten Adel wird hinter den britischen Linien in Spanien aufgelesen und hat das Glück, nicht gehängt, sondern als gemeiner Kriegsgefangener behandelt zu werden. Und als er flieht, hat er nicht nur Flora im Sinn, sondern auch einen sterbenden Onkel, der in einem riesigen Schloss lebt und ihn zum Erben einsetzen will, gegen den Cousin, der, verschwenderisch, bösartig, verschlagen, den Gegenpol des gut aussehenden, mutigen, klugen, wohlerzogenen und zudem nahezu perfekt zweisprachigen Helden bildet.
Die Geschichte wandert über die Moore und durch die Wälder, es gibt wüste Überraschungen in nächtlichen Wirtshäusern, Überfälle, Verfolgungsjagden und allerhand Kämpfe, und zum Schluss, als das Buch sich immer mehr in einen „roman frénétique“ verwandelt, geht es, ähnlich wie in Robert Siodmaks fantastischem Abenteuerfilm „The Crimson Pirate“ (1952) mit einem Heißluftballon in den Himmel und mit einem amerikanischen Schoner nach Boston – und immer ist das Bild Floras gegenwärtig, des Zielpunkts der Reise.
Nein, die Verbeugung vor Walter Scott will nicht und sie kann nicht gelingen. Zu romanesk ist die Anlage des Buches, zu offensichtlich reißt die Leidenschaft hier die Geschichte mit sich, und zu selbstherrlich ist der Held, um tatsächlich als Medium einer historischen Erzählung wirken zu können. So aber, weil das Gegenüber von historischen Ereignissen und künstlerischer Freiheit zugunsten des heroischen Helden außer Kraft gesetzt ist, Stevenson aber dennoch einen historischen Roman schreiben will, entstehen Widersprüche im Aufbau der Intrige – und das zu einer Zeit, als „le rapétissement des héros“ (Émile Zola), die Entheldung des Helden, den Roman längst ergriffen hatte: der Widerspruch etwa zwischen der Unbedingtheit der Liebe, die der Held für sein schottisches Mädchen empfinden will, und dem Hang zum Nihilismus, den seine philosophischen Exkursionen offenbaren.
Oder der Widerspruch, dass der Held ein Spion war und ihm dies zur Ehre gereicht, während dieselben doppelten Loyalitäten seinen Feind zum absolut verwerflichen Charakter machen. Überhaupt: die doppelten Loyalitäten – die Frage, welcher Nation der Franzose in Großbritannien zugehört, wird schließlich (nachdem der Held erfahren musste, wie beflissen sich die Pariser Bevölkerung im März 1814 den Preußen und Kosaken ergab) ganz im Stil des Helden entschieden: „Es wurde mir klar, daß ich nun eine hochgestellte Persönlichkeit war: ein großer englischer Landbesitzer. Als wir nach dem Mahl durch Reihen sich verneigender und knicksender Persönlichkeiten zur Tür gingen, tat ich mein Bestes, eine dieser Ehrfurcht erregenden Position einigermaßen angemessene Miene aufzusetzen.“
Was bleibt, ist also eine „romance of chivalry“, wie Walter Scott das Genre nannte, ein Buch, in dem die Überlegenheit des Helden seinen wechselnden Lebensumständen gegenüber das wichtigste Motiv der Erzählung bildet. Dazu gehört die Ironie, mit der sich der Ich-Erzähler mit seinen Lesern zu verständigen scheint (sie muss sein, weil sie den Widerspruch zwischen Geschichtsschreibung und Romanze überdeckt). Dazu gehören die Obsession des Helden mit der Frage, ob und wie sich ein Gentleman zu verhalten habe, ebenso wie die vielfältigen Demonstrationen von Redekunst und Schlagfertigkeit, die ihm sein Autor in den Mund legt.
Andreas Nohl, der als Herausgeber und Übersetzer dieses Buch aus dem Halbschatten der fast schon vergessenen, minderen Werke der Literaturgeschichte herausholte, erklärt diese Neigung zum Romanesken zum einen damit, dass sich Stevenson in seinem selbstgewählten Exil auf Samoa heftig nach Edinburgh zurücksehnte, zum anderen mit der Neigung des Autors, die eigene Kränklichkeit mit der imaginären Kraft eines vitalen und mutigen Helden zu kompensieren. Doch dürfte Stevenson bemerkt haben, dass seine Geschichte nicht aufgeht: Er brach die Arbeit an diesem Werk ab, die letzten sechs Kapitel wurden nach seinem Tod im Dezember 1894 von Arthur Quiller-Couch, einem jungen Schriftsteller und Philologen, nach den Skizzen ergänzt – wobei die Intrige plötzlich mit einer Willkür und Geschwindigkeit davonsaust, die spüren lässt, dass hier mit Konsequenz nichts mehr auszurichten war.
Die Entscheidung des Herausgebers, die offenkundigen Schwächen des Romans nicht historisch und literarisch, sondern psychologisch begründen zu wollen, schlägt sich in der Übersetzung nieder. Beispiele dafür gibt es zahllose, so etwa in der oben zitierten kleinen Liebesszene, in der ein Gitter den Helden von seiner Angebeteten trennt: „As I went on, and my resolve strengthened, and my voice found new modulations, and our faces were drawn closer to the bars and to each other, not only she, but I, succumbed to the fascination, and were kindled by the charm. We make love, and thereby ourselves fall the deeper in it“, lautet sie im Original. Und so richtig, im sprachlichen Sinne, die Übertragung auch ist, so sehr verschiebt sie den Akzent vom Litaneihaften der Vorlage ( and . . . and . . . and) zugunsten eines dramatischeren Satzbaus und schmückt zudem die schlichten Sätze romantisch aus: „kindled by the charm“ ist jedenfalls um einige Grade kühler als „entflammt von der Süße des Augenblicks“ (einmal abgesehen davon, dass Süße bislang nicht zu den feuergefährlichen Stoffen gehörte).
In der Übersetzung regiert das Melodram, und das bleibt nicht folgenlos für die Wahrnehmung des gesamten Werks: Nicht nur fällt die Geschichte noch romantischer aus, als sie ohnehin schon ist – verlorengeht das Bemühen des Ich-Erzählers um einen spezifisch britischen Ton, um eine zur Schau gestellte Kühle und Souveränität, um Selbstironie und Gelassenheit. „It was in the month of May 1813 that I was so unlucky as to fall at last into the hands of the enemy“, lautet der erste Satz des Romans. „Schließlich hatte ich das Pech, im Mai 1813 in die Hände des Feindes zu fallen“, heißt er in der Übersetzung. Natürlich ergibt sich eine prächtige Pointe, wenn man einen großen Roman mit dem Wort „schließlich“ beginnen kann – aber das stand nicht da, und das „at last“ bezieht sich im Original auf die Gefangennahme und nicht auf das Pech. Solche Nuancen sind nicht gleichgültig für das Verständnis dieses Buches, weil hier ein Franzose seine Naturalisierung als Brite inszeniert, mit allen Mitteln, die der Sprache dafür zur Verfügung stehen. Aus der Spannung aber zwischen einer französischen Rhetorik und einem britischen Ideal von Kühle, aus dem Hin und Her zwischen den gesteigerten Ehrbegriffen eines heruntergekommenen kontinentalen Adels und dem Egalitarismus englischer Landgasthäuser entsteht im Original ein ganz eigener Reiz dieses Buches. An dieser Spannung, schließlich, ließe sich erkennen, was dieses Werk eigentlich ist: ein historischer Roman, der von Heimatlosigkeit handelt.
THOMAS STEINFELD
ROBERT LOUIS STEVENSON: St. Ives. Herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl. Hanser Verlag, München 2011. 520 Seiten, 27,90 Euro.
Weder dem Autor noch
dem Helden ist es mit dieser
Geschichte wirklich ernst
Stevenson brach die Arbeit an
diesem Werk ab – es wurde nach
seinem Tod fertiggestellt
Von hier gelingt Stevensons Held die spektakuläre Flucht: Schloss und Festung in Edinburgh, hoch über der Stadt. Foto: The Bridgeman Art Library
Der Abenteuererfinder: Robert Louis Stevenson. Foto: Bettmann/Corbis
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