A debut anthology of short stories, set against the backdrop of the Florida Everglades, features original tales, including "Haunting Olivia," "Z.Z.'s Sleepaway Camp for Disordered Dreamers," "Out to Sea," and the title story, about fifteen young girls who had been raised by wolves and who are painstakingly re-educated by nuns.
Here is the debut short story collection from the author of the Pulitzer Prize finalist Swamplandia! and the New York Times bestselling Vampires in the Lemon Grove.
In these ten glittering stories, the award-winning, bestselling author Orange World and Other Stories takes us to the ghostly and magical swamps of the Florida Everglades. Here wolf-like girls are reformed by nuns, a family makes their living wrestling alligators in a theme park, and little girls sail away on crab shells.
Filled with inventiveness and heart, St. Lucy's Home for Girls Raised by Wolves is the dazzling debut of a blazingly original voice.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Here is the debut short story collection from the author of the Pulitzer Prize finalist Swamplandia! and the New York Times bestselling Vampires in the Lemon Grove.
In these ten glittering stories, the award-winning, bestselling author Orange World and Other Stories takes us to the ghostly and magical swamps of the Florida Everglades. Here wolf-like girls are reformed by nuns, a family makes their living wrestling alligators in a theme park, and little girls sail away on crab shells.
Filled with inventiveness and heart, St. Lucy's Home for Girls Raised by Wolves is the dazzling debut of a blazingly original voice.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.04.2008Jenseits von Swamplandia
Seh dich später, Alligator: Karen Russell phantasiert in ihrem Debüt über die Probleme einer nicht ungefährlichen Kindheit auf dem amerikanischen Lande.
Die Lykanthropen sind nicht, wie lange Zeit vermutet, ausgestorben. Sie heißen "Hwraa!", "Gwarr!" oder "Trrr!" und führen eine wenig beachtete Existenz. Dort, wo die Zivilisation ausfranst und in namenlose Wildnis übergeht, wären noch unheimliche Begegnungen mit Wolfsmenschen und ihren phantastischen Kollegen zu machen. Nur leider kommt man ja so selten raus aufs Land.
Dafür klärt einen jetzt Karen Russell in ihrem Debüt, dem Erzählungsband "Schlafanstalt für Traumgestörte", über die Ausprägungen einsamen Hinterwäldlertums auf. Die Schauplätze, welche die sechsundzwanzigjährige aus Florida stammende Autorin gewählt hat, sind äußerst randständig - was nicht heißen soll, dass dort, abseits der großen Städte, nichts los wäre. Die Sümpfe und Inseln Floridas oder die Spezialanstalten, in denen hochseltene Anomalien ausgemerzt werden, sind durchaus belebt; allerdings mit Außenseitern, Exzentrikern im wahrsten Sinne des Wortes.
Die zwölfjährige Protagonistin der Erzählung "Ava ringt mit dem Alligator" etwa lebt mit ihrer vier Jahre älteren Schwester Osceola in Swamplandia, einer nur noch sporadisch von Touristen besuchten Reptilienfarm. Der Vater, Chief Bigtree, ist während des Sommers auf dem Festland, mit der toten Mutter kann nur noch per Hexenbrett kommuniziert werden. Swamplandia ist auch nicht unbedingt ein Ort für unbeschwerte Sommerfrischen: "Meilenweit Sumpf und Millionen und Abermillionen Geister und niemand außer uns Mädchen, daheim in unseren albernen Pyjamas."
Da verwundert es nicht, dass Osceola von einem Geist besessen ist, ständig nächtliche "Sumpfrendezvous" hat. Wegen dieses "nervigen Freunds" bleibt alle Arbeit - stinkiges Futterzeug für die Alligatoren köpfen, Bigtree-Latrinen spülen und die Gipszähne im Alligatorkopf bürsten - an Ava hängen. Eines Nachts kommt es wie befürchtet, Osceola brennt mit dem Geist durch, und Ava muss ihre Angst vor dem Sumpf überwinden, sich suchend in die dunklen Mangroven wagen.
Russells Helden, Heranwachsende im Zwischenreich von Kindheit und Erwachsenenwelt, streunen wie Ava durch phantastische, märchenhafte und nicht ganz harmlose Kulissen. Stellenweise entwirft die Autorin Szenerien mit dem Gruselpotential schauerromantischer Nachtstücke, etwa wenn die Brüder Waldo und Timothy in "Olivia überall" einen alten Wasserschrottplatz nach ihrer ertrunkenen Schwester durchtauchen. Natürlich dümpeln im brackigen Wasser nicht nur verrottende Fischkutter, sondern allerhand mysteriöses Getier.
Dem inneren Gedanken- und Phantasiestrom von Karen Russells Außenseitern kann man sich als Leser ebenso wenig entziehen wie den aberwitzigen Plots. Allerdings beginnen die beißende Ironie und der schwarzhumorige Ton, die in jedem Text vorherrschen, nach einer Weile zu befremden, vor allem, weil sie fast noch aus Kindermündern kommen. Und Kinder sind normalerweise noch keine Meister der Ironie.
Erst auf dem zweiten Blick offenbaren sich die Ursachen für deren Witz- und Wortgewandtheit. Russells junge Protagonisten sind Überlebenskünstler, sie haben entweder unter dem Versagen oder der gänzlichen Abwesenheit ihrer Eltern zu leiden. Die Geschichten sind Variationen auf das Hänsel-und-Gretel-Thema, verlassene Kinder, abenteuernd in der Wildnis, auf der Suche nach einem Zuhause. Ohne schlaue Verstellungskunst wären sie verloren. So lesen sich die im positiven Sinne unterhaltsamen Stücke auch als Kommentare auf eine zu frühe, aus der Not geborene Emanzipation von den Eltern.
Am besten gelingt die Mischung aus wilder Komik und bitterer Ironie im Glanzstück des Bandes, der Erzählung "Die Wolfsmädchen vom St.-Lucia-Heim". Nonnen versprechen im Wald hausenden Werwölfen, ihren Kindern mit Hilfe des "Handbuchs des Jesuitenordens zum lykanthropischen Kulturschock" eine "bessere Kultur" angedeihen zu lassen. Die Eltern stimmen zu; sie wollen, dass es die Kinder einmal besser haben: "Sie wollten, dass wir Zahnspangen trugen, Handtücher benutzten, ganz und gar zweisprachig wurden."
Die struppigen Mädchen namens Gwarr! oder Trrr! kommen in ein Umerziehungsheim und heißen fortan Jeanette oder Mirabelle. Sie lernen, sich die Kleider nicht vom Leib zu reißen, Kompetenzpunkte zu sammeln und die Hausheilige abzustauben. Der unbeliebten Klassenstreberin gelingt als Erster eine Art Lächeln. Aber natürlich fordert der Weg in die Zivilisation auch seine Opfer. Einige Unbelehrbare werden immer heimatlos bleiben, und sie müssen "in weißen Tennisschuhen und Hosenröcken ihren alten Rudeln" hinterherhumpeln.
FRANZISKA SENG
Karen Russell: "Schlafanstalt für Traumgestörte". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Malte Krutzsch. Verlag Kein & Aber, Zürich 2008. 304 Seiten, geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Seh dich später, Alligator: Karen Russell phantasiert in ihrem Debüt über die Probleme einer nicht ungefährlichen Kindheit auf dem amerikanischen Lande.
Die Lykanthropen sind nicht, wie lange Zeit vermutet, ausgestorben. Sie heißen "Hwraa!", "Gwarr!" oder "Trrr!" und führen eine wenig beachtete Existenz. Dort, wo die Zivilisation ausfranst und in namenlose Wildnis übergeht, wären noch unheimliche Begegnungen mit Wolfsmenschen und ihren phantastischen Kollegen zu machen. Nur leider kommt man ja so selten raus aufs Land.
Dafür klärt einen jetzt Karen Russell in ihrem Debüt, dem Erzählungsband "Schlafanstalt für Traumgestörte", über die Ausprägungen einsamen Hinterwäldlertums auf. Die Schauplätze, welche die sechsundzwanzigjährige aus Florida stammende Autorin gewählt hat, sind äußerst randständig - was nicht heißen soll, dass dort, abseits der großen Städte, nichts los wäre. Die Sümpfe und Inseln Floridas oder die Spezialanstalten, in denen hochseltene Anomalien ausgemerzt werden, sind durchaus belebt; allerdings mit Außenseitern, Exzentrikern im wahrsten Sinne des Wortes.
Die zwölfjährige Protagonistin der Erzählung "Ava ringt mit dem Alligator" etwa lebt mit ihrer vier Jahre älteren Schwester Osceola in Swamplandia, einer nur noch sporadisch von Touristen besuchten Reptilienfarm. Der Vater, Chief Bigtree, ist während des Sommers auf dem Festland, mit der toten Mutter kann nur noch per Hexenbrett kommuniziert werden. Swamplandia ist auch nicht unbedingt ein Ort für unbeschwerte Sommerfrischen: "Meilenweit Sumpf und Millionen und Abermillionen Geister und niemand außer uns Mädchen, daheim in unseren albernen Pyjamas."
Da verwundert es nicht, dass Osceola von einem Geist besessen ist, ständig nächtliche "Sumpfrendezvous" hat. Wegen dieses "nervigen Freunds" bleibt alle Arbeit - stinkiges Futterzeug für die Alligatoren köpfen, Bigtree-Latrinen spülen und die Gipszähne im Alligatorkopf bürsten - an Ava hängen. Eines Nachts kommt es wie befürchtet, Osceola brennt mit dem Geist durch, und Ava muss ihre Angst vor dem Sumpf überwinden, sich suchend in die dunklen Mangroven wagen.
Russells Helden, Heranwachsende im Zwischenreich von Kindheit und Erwachsenenwelt, streunen wie Ava durch phantastische, märchenhafte und nicht ganz harmlose Kulissen. Stellenweise entwirft die Autorin Szenerien mit dem Gruselpotential schauerromantischer Nachtstücke, etwa wenn die Brüder Waldo und Timothy in "Olivia überall" einen alten Wasserschrottplatz nach ihrer ertrunkenen Schwester durchtauchen. Natürlich dümpeln im brackigen Wasser nicht nur verrottende Fischkutter, sondern allerhand mysteriöses Getier.
Dem inneren Gedanken- und Phantasiestrom von Karen Russells Außenseitern kann man sich als Leser ebenso wenig entziehen wie den aberwitzigen Plots. Allerdings beginnen die beißende Ironie und der schwarzhumorige Ton, die in jedem Text vorherrschen, nach einer Weile zu befremden, vor allem, weil sie fast noch aus Kindermündern kommen. Und Kinder sind normalerweise noch keine Meister der Ironie.
Erst auf dem zweiten Blick offenbaren sich die Ursachen für deren Witz- und Wortgewandtheit. Russells junge Protagonisten sind Überlebenskünstler, sie haben entweder unter dem Versagen oder der gänzlichen Abwesenheit ihrer Eltern zu leiden. Die Geschichten sind Variationen auf das Hänsel-und-Gretel-Thema, verlassene Kinder, abenteuernd in der Wildnis, auf der Suche nach einem Zuhause. Ohne schlaue Verstellungskunst wären sie verloren. So lesen sich die im positiven Sinne unterhaltsamen Stücke auch als Kommentare auf eine zu frühe, aus der Not geborene Emanzipation von den Eltern.
Am besten gelingt die Mischung aus wilder Komik und bitterer Ironie im Glanzstück des Bandes, der Erzählung "Die Wolfsmädchen vom St.-Lucia-Heim". Nonnen versprechen im Wald hausenden Werwölfen, ihren Kindern mit Hilfe des "Handbuchs des Jesuitenordens zum lykanthropischen Kulturschock" eine "bessere Kultur" angedeihen zu lassen. Die Eltern stimmen zu; sie wollen, dass es die Kinder einmal besser haben: "Sie wollten, dass wir Zahnspangen trugen, Handtücher benutzten, ganz und gar zweisprachig wurden."
Die struppigen Mädchen namens Gwarr! oder Trrr! kommen in ein Umerziehungsheim und heißen fortan Jeanette oder Mirabelle. Sie lernen, sich die Kleider nicht vom Leib zu reißen, Kompetenzpunkte zu sammeln und die Hausheilige abzustauben. Der unbeliebten Klassenstreberin gelingt als Erster eine Art Lächeln. Aber natürlich fordert der Weg in die Zivilisation auch seine Opfer. Einige Unbelehrbare werden immer heimatlos bleiben, und sie müssen "in weißen Tennisschuhen und Hosenröcken ihren alten Rudeln" hinterherhumpeln.
FRANZISKA SENG
Karen Russell: "Schlafanstalt für Traumgestörte". Erzählungen. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Malte Krutzsch. Verlag Kein & Aber, Zürich 2008. 304 Seiten, geb., 18,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.08.2008Auch in Florida ist kein Rentner eine Insel
Ein illusionsloser Realismus verbirgt sich hinter den grotesken Phantasien, die Karen Russell in „Schlafanstalt für Traumgestörte” entfaltet
So verführerisch es sein mag, diese Erzählungen als Ausdruck der„ ungebändigten Phantasie” einer Mittzwanzigerin zu verstehen, wie es der Klappentext nahelegt, so irreführend wäre es auch. Karen Russell wurde 1981 in Miami, Florida, geboren – in einem Winkel der Erde, der sich zwischen dem Golf von Mexiko und der Karibik zu einem Fegefeuer für Rentner und Touristen entwickelt hat.
Hier dreht sich das Karussell der Billig-Kreuzfahrten noch schneller als anderswo, und für seine Sünden büßt man mit endlosem Bingospielen und Sonnenbaden, mit dem Besuch von Alligator-Ringkämpfen oder indem man sich in der berühmten Stingray-City von Schwärmen von Stachelrochen umzingeln lässt.
Wo jedes Fitzelchen Folklore von allen Seiten auf seinen Marktwert abgeklopft wird, zählen auch Werwölfe und Voodoo zum Angebot. Das stört nicht nur die Träume von Karen Russells Gestalten, denn wie bei J. G. Ballard und Ray Bradbury entsteht das Phantastische auch bei ihr durch die ins Surreale übersteigerte Darstellung einer an sich schon grotesken Wirklichkeit.
Warum sollte man auf einem Schiffsfriedhof nicht nach seiner ertrunkenen Schwester tauchen? Und warum keine Rochen füttern, wenn man sich auf seinem schwimmenden Altersheim einsam fühlt? Warum sollte man einen geistig behinderten Albino nicht in die Streiche seines „Komisch-ironischen Verbrecherrings” einbeziehen, wenn man über das Niveau seines „Kinderatlas der Milchstraße” hinausgewachsen ist?
Schaut man genauer hin, so werden hinter den Phantasmen der Karen Russell die Konturen einer weitgehend vater- und mutterlosen Gesellschaft sichtbar. Die Alten, hier Snowbirds genannt, finden an Floridas Küsten zwar viel Sonne, aber wenig menschliche Wärme. Einsamkeit ist das Generalthema dieser Geschichten, das ihre jungen und alten Gestalten verbindet. Zwischen Kindern und Rentnern klafft eine Lücke, die verschwundene Väter oder chronisch verreiste Eltern gerissen haben. „Kurz nach Olivias Tod begannen meine Eltern regelmäßig durch die Dritte Welt zu reisen”, heißt es einmal lakonisch.
Zwar fehlt es nicht an Betreuungs- und Unterhaltungsangeboten, wie in der Schlafanstalt für Traumgestörte, die der deutschen Ausgabe den Titel gibt, doch am Ende eines Ausflugs in die „Stadt der Muscheln” bleibt ein einsames, dickliches, rothaariges Mädchen übrig, das sich in einem riesigen Schneckenhaus verkrochen hat.
Dass sich unter den Phantasien über Wolfmädchen und Geisterfische ein illusionsloser Realismus verbirgt, zeigt sich am besten in der Erzählung „Aufs Meer hinaus”. Hier erfährt der Bewohner einer schwimmenden Rentnerkolonie, dass man ihn als Freiwilligen für das Projekt „Kein Rentner ist eine Insel” ausgewählt hat: „Sie werden einen gefährdeten Jugendlichen vom Festland zur Seite gestellt bekommen, der von Gerichts wegen eine Anzahl Sozialstunden abzuleisten hat.” Auch hier fehlt die Generation der Eltern, während sich der einbeinige alte Seemann Sawtooth Bigtree in „seine” gefährdete Jugendliche verliebt. Nachdem er bemerkt hat, dass sie ihn bestiehlt, fängt er an, Geldscheine und Schmerztabletten so zu platzieren, dass seine Besucherin sie problemlos mitgehen lassen kann, aber leider ist die „Anzahl der Sozialstunden” begrenzt und Gegenliebe nicht spürbar.
Dass der Alte den sprechenden Namen „Sägezahn Großbaum” trägt, ist Teil eines literarischen Understatements, das die Erzählung leichthändiger und leichtfertiger erscheinen lässt, als sie ist. Dass der Einbeinige vor dem Besuch des Mädchens Stückchen von Apfelsinenschale auf dem Boot verteilt, um „seinen unangenehm süßlichen Altmännergeruch” zu übertönen, zeigt hingegen, dass er sich in den Händen einer ausgezeichneten Erzählerin befindet. Mag man bei dem Karton, in dem der beinamputierte Alte seine unnützen linken Schuhe sammelt, schon an ähnliche Einsprengsel bei Samuel Beckett denken, so steht die Rührung, mit der er feststellt, dass das Mädchen außer Dollarscheinen auch seine linken Socken stiehlt, für das Aufkeimen einer Hoffnung, die ebenso vergeblich ist wie das Warten auf Godot.
Nicht alle Erzählungen des Bandes erreichen dieses Format. Manche, wie etwa „Ava ringt mit dem Alligator”, gleichen auch Kindern, die mit großem Trara aufbrechen und über alle Stränge schlagen, um am Ende zerzaust und ratlos zu schließen. Doch dem Abheben folgt ein umso eindrucksvollerer Bodenkontakt: „Es ist Merino, unser lebendiges, blökendes Lamm, jetzt nur ein Haufen Fleisch und Pullover”, heißt es treffend über den Kadaver eines hingemetzelten Schafs.
Auch wer niemals in das Gehäuse einer prähistorischen Riesenschnecke kriechen wird, kann aus diesen Geschichten eine Ahnung davon mitnehmen, wie so etwas sein könnte: „Es ging viel tiefer runter, als sie erwartet hatte. Drinnen hatte die Schale einen reinen, blauen Geruch, wie die Erinnerung an Salz.” Inzwischen soll Karen Russell an einem Roman arbeiten. Mit ihren Erzählungen hat sie schon einmal die höchsten Erwartungen geweckt. ULRICH BARON
KAREN RUSSELL: Schlafanstalt für Traumgestörte. Aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch. Kein & Aber, Zürich 2008. 302 Seiten, 18,90 Euro.
So ist Florida: Gute Laune im Alligatoren-Teich! Foto: AFP
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Ein illusionsloser Realismus verbirgt sich hinter den grotesken Phantasien, die Karen Russell in „Schlafanstalt für Traumgestörte” entfaltet
So verführerisch es sein mag, diese Erzählungen als Ausdruck der„ ungebändigten Phantasie” einer Mittzwanzigerin zu verstehen, wie es der Klappentext nahelegt, so irreführend wäre es auch. Karen Russell wurde 1981 in Miami, Florida, geboren – in einem Winkel der Erde, der sich zwischen dem Golf von Mexiko und der Karibik zu einem Fegefeuer für Rentner und Touristen entwickelt hat.
Hier dreht sich das Karussell der Billig-Kreuzfahrten noch schneller als anderswo, und für seine Sünden büßt man mit endlosem Bingospielen und Sonnenbaden, mit dem Besuch von Alligator-Ringkämpfen oder indem man sich in der berühmten Stingray-City von Schwärmen von Stachelrochen umzingeln lässt.
Wo jedes Fitzelchen Folklore von allen Seiten auf seinen Marktwert abgeklopft wird, zählen auch Werwölfe und Voodoo zum Angebot. Das stört nicht nur die Träume von Karen Russells Gestalten, denn wie bei J. G. Ballard und Ray Bradbury entsteht das Phantastische auch bei ihr durch die ins Surreale übersteigerte Darstellung einer an sich schon grotesken Wirklichkeit.
Warum sollte man auf einem Schiffsfriedhof nicht nach seiner ertrunkenen Schwester tauchen? Und warum keine Rochen füttern, wenn man sich auf seinem schwimmenden Altersheim einsam fühlt? Warum sollte man einen geistig behinderten Albino nicht in die Streiche seines „Komisch-ironischen Verbrecherrings” einbeziehen, wenn man über das Niveau seines „Kinderatlas der Milchstraße” hinausgewachsen ist?
Schaut man genauer hin, so werden hinter den Phantasmen der Karen Russell die Konturen einer weitgehend vater- und mutterlosen Gesellschaft sichtbar. Die Alten, hier Snowbirds genannt, finden an Floridas Küsten zwar viel Sonne, aber wenig menschliche Wärme. Einsamkeit ist das Generalthema dieser Geschichten, das ihre jungen und alten Gestalten verbindet. Zwischen Kindern und Rentnern klafft eine Lücke, die verschwundene Väter oder chronisch verreiste Eltern gerissen haben. „Kurz nach Olivias Tod begannen meine Eltern regelmäßig durch die Dritte Welt zu reisen”, heißt es einmal lakonisch.
Zwar fehlt es nicht an Betreuungs- und Unterhaltungsangeboten, wie in der Schlafanstalt für Traumgestörte, die der deutschen Ausgabe den Titel gibt, doch am Ende eines Ausflugs in die „Stadt der Muscheln” bleibt ein einsames, dickliches, rothaariges Mädchen übrig, das sich in einem riesigen Schneckenhaus verkrochen hat.
Dass sich unter den Phantasien über Wolfmädchen und Geisterfische ein illusionsloser Realismus verbirgt, zeigt sich am besten in der Erzählung „Aufs Meer hinaus”. Hier erfährt der Bewohner einer schwimmenden Rentnerkolonie, dass man ihn als Freiwilligen für das Projekt „Kein Rentner ist eine Insel” ausgewählt hat: „Sie werden einen gefährdeten Jugendlichen vom Festland zur Seite gestellt bekommen, der von Gerichts wegen eine Anzahl Sozialstunden abzuleisten hat.” Auch hier fehlt die Generation der Eltern, während sich der einbeinige alte Seemann Sawtooth Bigtree in „seine” gefährdete Jugendliche verliebt. Nachdem er bemerkt hat, dass sie ihn bestiehlt, fängt er an, Geldscheine und Schmerztabletten so zu platzieren, dass seine Besucherin sie problemlos mitgehen lassen kann, aber leider ist die „Anzahl der Sozialstunden” begrenzt und Gegenliebe nicht spürbar.
Dass der Alte den sprechenden Namen „Sägezahn Großbaum” trägt, ist Teil eines literarischen Understatements, das die Erzählung leichthändiger und leichtfertiger erscheinen lässt, als sie ist. Dass der Einbeinige vor dem Besuch des Mädchens Stückchen von Apfelsinenschale auf dem Boot verteilt, um „seinen unangenehm süßlichen Altmännergeruch” zu übertönen, zeigt hingegen, dass er sich in den Händen einer ausgezeichneten Erzählerin befindet. Mag man bei dem Karton, in dem der beinamputierte Alte seine unnützen linken Schuhe sammelt, schon an ähnliche Einsprengsel bei Samuel Beckett denken, so steht die Rührung, mit der er feststellt, dass das Mädchen außer Dollarscheinen auch seine linken Socken stiehlt, für das Aufkeimen einer Hoffnung, die ebenso vergeblich ist wie das Warten auf Godot.
Nicht alle Erzählungen des Bandes erreichen dieses Format. Manche, wie etwa „Ava ringt mit dem Alligator”, gleichen auch Kindern, die mit großem Trara aufbrechen und über alle Stränge schlagen, um am Ende zerzaust und ratlos zu schließen. Doch dem Abheben folgt ein umso eindrucksvollerer Bodenkontakt: „Es ist Merino, unser lebendiges, blökendes Lamm, jetzt nur ein Haufen Fleisch und Pullover”, heißt es treffend über den Kadaver eines hingemetzelten Schafs.
Auch wer niemals in das Gehäuse einer prähistorischen Riesenschnecke kriechen wird, kann aus diesen Geschichten eine Ahnung davon mitnehmen, wie so etwas sein könnte: „Es ging viel tiefer runter, als sie erwartet hatte. Drinnen hatte die Schale einen reinen, blauen Geruch, wie die Erinnerung an Salz.” Inzwischen soll Karen Russell an einem Roman arbeiten. Mit ihren Erzählungen hat sie schon einmal die höchsten Erwartungen geweckt. ULRICH BARON
KAREN RUSSELL: Schlafanstalt für Traumgestörte. Aus dem Amerikanischen von Malte Krutzsch. Kein & Aber, Zürich 2008. 302 Seiten, 18,90 Euro.
So ist Florida: Gute Laune im Alligatoren-Teich! Foto: AFP
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