Reeperbahn, Große Freiheit, Davidwache, Herbertstraße, Goldener Handschuh, Sex-Theater und Peep-Shows - nicht weniger stereotyp als die Orte, die den Mythos St. Pauli bilden, sind die zugehörigen Bildwelten. Doch St. Pauli war stets auch gelebter Alltag und hatte zumeist wenig mit den Phantasmen zu tun, die neugierige Touristen und Vorstädter seit jeher anziehen. Wie es in dieser Zwischenwelt aus Rotlichtmilieu und gewöhnlichem Kiezleben aussah, hat Enno Kaufhold in den Jahren von 1975 bis 1985 mit der Kamera festgehalten. Als Student der Kunst- und Fotogeschichte und vom Anspruch der sozial-dokumentarischen Fotografie jener Jahre ausgehend suchte er einen unverstellten Blick auf den Stadtteil, den er in unregelmäßigen Abständen bei Tag und bei Nacht durchstreifte, um mit versteckter Kamera zu fotografieren. Verborgen bleiben musste der Apparat bei diesem Setting, weil der Fotograf Reaktionen auf seine Kamera strikt vermeiden wollte - Authentizität und unverfälschte Ansichten ohne jede Bewertung des Dargestellten waren das Ziel. Von Beginn an stand dabei fest, dass die Fotografien erst lange Zeit später würden veröffentlicht werden können. Mit fast vierzig Jahren Abstand ist nun die Zeit gekommen, Kaufholds Bilderschatz und unvergleichliche Hommage an das St. Pauli der 1970er und 1980er Jahre an die Öffentlichkeit zu bringen.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Till Briegleb blättert beeindruckt durch Enno Kaufholds Fotobuch "St. Pauli. Fotografien 1975-1985". In der Blütezeit des Hamburger Rotlicht-Viertels, begab sich der Fotograf bei Tag auf die Straßen, um mit versteckter Kamera "den Alltag eines Mythos" einzufangen, berichtet Briegleb. Dabei fotografierte er skurrile Momente wie Kinder, die neben Bordellen Flohmarkt spielen, genauso wie Betrunkene am Boden, Prostituierte und alte Seemänner beim Einkauf. Briegleb lässt sich von diesen bemerkenswerten Momentaufnahmen in die damalige Stimmung "zwischen Euphorie und Absturz" versetzten und stößt zwischen den Extremen auch auf Zärtlichkeit.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2022Nicht nur die Liebe zählt
Seine Kamera, schreibt Enno Kaufhold, habe er beim Fotografieren in St. Pauli stets gut versteckt, um zu unverfälschten Ansichten zu gelangen. Es ist auch gut möglich, dass Reaktionen auf den Apparat seiner Serie ein so rasches wie heftiges Ende beschert hätten. Denn daran, dass zwischen der "Kuschelkoje" und dem "Goldenen Handschuh" eine eigene Art von Liebe zählte, lässt auch Kaufholds insgesamt freundlich ausfallende Milieustudie keinen Zweifel. Dabei war es ihm keineswegs darum zu tun, einen Alltag zwischen Prostitution und Alkohol zu verklären. Vielmehr bringt er ein mitunter verstörendes Moment von Selbstverständlichkeit in seine stets pointierten Beobachtungen, einerlei, ob sich in Peepshows, Bierhallen und den offenen Türen der Herbertstraße die Extreme entfalten oder er mit Kindern und Familien inmitten des Kiez auch bürgerliche Lebensentwürfe präsentiert. Fast mag man bei diesem großartig unspektakulären Buch von humanistisch ausgerichtetem Heimatkundeunterricht eines etwas anderen Stadtteils sprechen. F.L.
"St. Pauli - Fotografien 1975 -1985" von Enno Kaufhold. Junius Verlag, Hamburg 2021. 320 Seiten, zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos. Gebunden, 49,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Seine Kamera, schreibt Enno Kaufhold, habe er beim Fotografieren in St. Pauli stets gut versteckt, um zu unverfälschten Ansichten zu gelangen. Es ist auch gut möglich, dass Reaktionen auf den Apparat seiner Serie ein so rasches wie heftiges Ende beschert hätten. Denn daran, dass zwischen der "Kuschelkoje" und dem "Goldenen Handschuh" eine eigene Art von Liebe zählte, lässt auch Kaufholds insgesamt freundlich ausfallende Milieustudie keinen Zweifel. Dabei war es ihm keineswegs darum zu tun, einen Alltag zwischen Prostitution und Alkohol zu verklären. Vielmehr bringt er ein mitunter verstörendes Moment von Selbstverständlichkeit in seine stets pointierten Beobachtungen, einerlei, ob sich in Peepshows, Bierhallen und den offenen Türen der Herbertstraße die Extreme entfalten oder er mit Kindern und Familien inmitten des Kiez auch bürgerliche Lebensentwürfe präsentiert. Fast mag man bei diesem großartig unspektakulären Buch von humanistisch ausgerichtetem Heimatkundeunterricht eines etwas anderen Stadtteils sprechen. F.L.
"St. Pauli - Fotografien 1975 -1985" von Enno Kaufhold. Junius Verlag, Hamburg 2021. 320 Seiten, zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos. Gebunden, 49,90 Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main