Der Band vereinigt im ersten Teil mehrere sich ergänzende Studien zu den Problemen Staat, Nation, Europa. In ihnen geht es um die Erörterung von Fragen, die für die staatlich-politische Entwicklung, wie sie sich im letzten Jahrzehnt in Deutschland und auf Europa hin vollzieht, grundlegende Bedeutung erlangt haben. Neben diesen Beiträgen, die Themen einer konkreten Staatslehre aufgreifen, bringen der zweite und der dritte Teil ergänzende Studien zu den beiden Bänden Recht, Staat, Freiheit (stw 914) und Staat, Verfassung, Demokratie (stw 953). Sie betreffen Fragen der Verfassungstheorie, des Verfassungsrechts und der Rechtsphilosophie.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.03.2000Konkrete Staatslehre
Ernst-Wolfgang Böckenförde gibt Sondervoten ab
Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1419. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 22,80 Mark.
Ernst-Wolfgang Böckenförde zählt zu jenen für die Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes so wichtigen Rechtsprofessoren, die als Richter am Bundesverfassungsgericht ihre Verfassungstheorie praktisch erproben konnten. So ist etwa das Demokratieverständnis des Wissenschaftlers Böckenförde durch den Richter Böckenförde zum maßgeblichen Interpretament des grundgesetzlichen Demokratiebegriffs geworden. Wer sich Böckenfördes Rolle als Verfassungsrichter in der Zeit von Dezember 1983 bis Mai 1996 in Erinnerung ruft, wird nicht daran zweifeln, dass der berühmte Ausspruch des ehemaligen Chief Justice der Vereinigten Staaten, Charles Evan Hughes, zutrifft: "Wir leben unter einer Verfassung, aber die Richter bestimmen, was die Verfassung ist."
Von welchen Positionen und Begriffen sich Böckenförde leiten lässt, ist nicht nur zahlreichen Entscheidungen des Verfassungsgerichts abzulesen, deren Stil den Hauptverfasser, den so genannten Berichterstatter, erkennen lassen. Noch aufschlussreicher sind seine Sondervoten, mit denen er während der Zeit in Karlsruhe immer wieder fulminant gegen die Mehrheit seiner Richterkollegen angeschrieben hat. Näheres über das Fundament, auf dem Böckenförde steht, erfährt man indes nur, wenn man sein wissenschaftliches Werk beachtet. Frei von den Grenzen, die der Einzelfall zieht, und ohne den Zwang, der von Richterkollegen ausgeht, deren Vorverständnis überwunden werden will, entfaltet Böckenförde hier seine von ihm so bezeichnete "konkrete Staatslehre". Die fünfzehn Beiträge des Bandes zusammenführt, die bis auf einen aus den vergangenen zehn Jahren stammen, bereichert das Projekt um neue Aspekte, zugleich vertieft er zentrale theoretische Anliegen Böckenfördes.
Zu ihnen gehört das Nachdenken über die Bedingungen "relativer Homogenität". Am Leitfaden dieses Begriffs nähert Böckenförde sich der Frage, was moderne Staatsgesellschaften zusammenhält. Die Antwort soll Auskunft über die radizierten mentalen Gemeinsamkeiten geben, die vorhanden sein müssen, damit der Staat seine Ordnungs- und Friedenstiftungsaufgabe erfüllen kann. Unter den Bedingungen der grundsätzlich geschützten Pluralität dürfen dies keine auf Totalität angelegten Normen sein. Sie würden zwangsläufig zum Ausschluss bestimmter Menschen führen, was dem grundrechtlichen Postulat der Gleichheit widerspräche. Hinreichen muss eine relative Gemeinsamkeit, die die reale Differenz der Menschen unterfängt, ohne letzte Fragen zu beantworten. Dass es nicht leicht ist, die Voraussetzungen und Kennzeichen relativer Homogenität zu benennen, erläutert Böckenförde eindringlich. Traditionale Bindungen, etwa religiös-kirchliche Zugehörigkeiten, lösen sich auf, die Familie als Agentur der Primärsozialisation ist geschwächt, die Bindungskraft ethnisch-kulturellen Herkommens lässt nach, es dominiert immer mehr eine aufs Ökonomische verengte Weltsicht. Böckenfördes Ausführungen zur Schweiz oder zum real existierenden Föderalismus deuten an, dass die Ausbalancierung gegenläufiger Werthaltungen und Prägungen nur gelingt, wenn sie je neu als stabile Labilität institutionell verwirklicht wird.
Dass die Stärkung relativer Homogenität in der Form von Wertbildung und Wertvermittlung eine Aufgabe des Staates sein kann, deutet Böckenförde an, wenn er "eine politisch initiierte aktive Bewusstseinsbildung, die vom Staat getragen wird", für denkbar hält. Gleichzeitig betont er jedoch, der Staat könne einen Wertkonsens selbst nicht stiften. Aber kann er das wirklich nicht? Bei Paul Kirchhof, Böckenfördes früherem Richterkollegen, heißt es dazu: "Der Verfassungsstaat lebt (. . .) von Voraussetzungen, die von den Freiheitsberechtigten geschaffen werden, die der Staat aber rechtlich zu regeln, zu stützen, zu entwickeln und zu fördern hat." Dem steht Böckenfördes bekannter Satz gegenüber: "Es gehört zur Struktur des freiheitlichen Rechtsstaates, dass er von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann." Die Andeutungen Böckenfördes in Staat, Nation, Europa legen die Vermutung nahe, dass er diesen gut dreißig Jahre alten Satz heute nicht mehr so apodiktisch wie ehedem formulieren würde.
Ein Kleinod des Bandes ist der Aufsatz "Staatliches Recht und sittliche Ordnung". Ursprünglich in der Festschrift zum 90. Geburtstag für Josef Pieper erschienen, merkt man ihm die große Vertrautheit des Autors mit der katholischen Soziallehre und ihrer Fundierung in der Philosophie des Thomas von Aquin an, gleichzeitig das Bemühen, diese Tradition für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Böckenförde legt eine Aktualisierung der kirchlich-theologischen Idee vom staatlichen Recht vor, die weit entfernt ist von den subjektfeindlichen Fundamentalismen, die gelegentlich mit römischem Katholizismus assoziiert werden. Das Recht verzichtet auf die Durchsetzung sittlicher Maximalforderungen, um "Bedingungen der Möglichkeit für Weiteres" zu schaffen: das "Bei-sich-selbst-sein-Können des Menschen", kraft dessen er "konkret frei werden" kann, weil ihm die Freiheit gelassen wird, darüber zu entscheiden, wie viel über das ethische Minimum hinausgehende Moral er sich zumuten will. Recht ist eine Not- und Erhaltungsordnung, die bewusst davon absieht, eine Tugend- und Wahrheitsordnung zu werden.
Zur Veranschaulichung verweist Böckenförde auf das Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1993, das sich - der Quadratur des Kreises gleichkommend - bemüht, zwei gegenläufige Rechtskonzepte zum Ausgleich zu bringen: ein anthroposkeptisches Notordnungsrecht mit bescheidenem ethischen Mehrwert und ein idealistisches Moralverstärkerrecht, das meint, der scheinbar schwächelnden Sittlichkeit unter die Arme greifen zu können. Letzteres hält Böckenförde für verfehlt. Bereits in den abschließenden Bemerkungen seines Sondervotums zum Abtreibungsurteil hat er dies zum Ausdruck gebracht. In ihnen kündigt sich die nunmehr vorgelegte systematische Darlegung seines Rechtsverständnisses pointiert zusammengefasst an.
Staatslehre ist konzeptionell mehr als Staatsrechtslehre. Böckenförde beherzigt dies als Anhänger Hermann Hellers, dem es immer auch um die "seinswissenschaftliche", nicht nur die streng juristische Seite politischer Verfassung ging. Staatslehre muss außerdem methodisch konkret sein, denn nur an klar abgesteckten, meist aktuellen Fragen lässt sich die Tragfähigkeit theoretischer Reflexion über den Staat griffig überprüfen. Böckenförde hat dies als Verehrer des Carl Schmitt der Weimarer Zeit verinnerlicht, dessen Realitätsanalysen und Begriffsbildungen zumeist Reaktionen auf konkrete historisch-politische Problemlagen waren.
Etwas von dem Geist der zwanziger Jahre, dem das unentwegte Ringen um die Grundfragen eigen ist, durchweht auch die Beiträge Böckenfördes.
STEPHAN RIXEN
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Ernst-Wolfgang Böckenförde gibt Sondervoten ab
Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1419. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 22,80 Mark.
Ernst-Wolfgang Böckenförde zählt zu jenen für die Wirkungsgeschichte des Grundgesetzes so wichtigen Rechtsprofessoren, die als Richter am Bundesverfassungsgericht ihre Verfassungstheorie praktisch erproben konnten. So ist etwa das Demokratieverständnis des Wissenschaftlers Böckenförde durch den Richter Böckenförde zum maßgeblichen Interpretament des grundgesetzlichen Demokratiebegriffs geworden. Wer sich Böckenfördes Rolle als Verfassungsrichter in der Zeit von Dezember 1983 bis Mai 1996 in Erinnerung ruft, wird nicht daran zweifeln, dass der berühmte Ausspruch des ehemaligen Chief Justice der Vereinigten Staaten, Charles Evan Hughes, zutrifft: "Wir leben unter einer Verfassung, aber die Richter bestimmen, was die Verfassung ist."
Von welchen Positionen und Begriffen sich Böckenförde leiten lässt, ist nicht nur zahlreichen Entscheidungen des Verfassungsgerichts abzulesen, deren Stil den Hauptverfasser, den so genannten Berichterstatter, erkennen lassen. Noch aufschlussreicher sind seine Sondervoten, mit denen er während der Zeit in Karlsruhe immer wieder fulminant gegen die Mehrheit seiner Richterkollegen angeschrieben hat. Näheres über das Fundament, auf dem Böckenförde steht, erfährt man indes nur, wenn man sein wissenschaftliches Werk beachtet. Frei von den Grenzen, die der Einzelfall zieht, und ohne den Zwang, der von Richterkollegen ausgeht, deren Vorverständnis überwunden werden will, entfaltet Böckenförde hier seine von ihm so bezeichnete "konkrete Staatslehre". Die fünfzehn Beiträge des Bandes zusammenführt, die bis auf einen aus den vergangenen zehn Jahren stammen, bereichert das Projekt um neue Aspekte, zugleich vertieft er zentrale theoretische Anliegen Böckenfördes.
Zu ihnen gehört das Nachdenken über die Bedingungen "relativer Homogenität". Am Leitfaden dieses Begriffs nähert Böckenförde sich der Frage, was moderne Staatsgesellschaften zusammenhält. Die Antwort soll Auskunft über die radizierten mentalen Gemeinsamkeiten geben, die vorhanden sein müssen, damit der Staat seine Ordnungs- und Friedenstiftungsaufgabe erfüllen kann. Unter den Bedingungen der grundsätzlich geschützten Pluralität dürfen dies keine auf Totalität angelegten Normen sein. Sie würden zwangsläufig zum Ausschluss bestimmter Menschen führen, was dem grundrechtlichen Postulat der Gleichheit widerspräche. Hinreichen muss eine relative Gemeinsamkeit, die die reale Differenz der Menschen unterfängt, ohne letzte Fragen zu beantworten. Dass es nicht leicht ist, die Voraussetzungen und Kennzeichen relativer Homogenität zu benennen, erläutert Böckenförde eindringlich. Traditionale Bindungen, etwa religiös-kirchliche Zugehörigkeiten, lösen sich auf, die Familie als Agentur der Primärsozialisation ist geschwächt, die Bindungskraft ethnisch-kulturellen Herkommens lässt nach, es dominiert immer mehr eine aufs Ökonomische verengte Weltsicht. Böckenfördes Ausführungen zur Schweiz oder zum real existierenden Föderalismus deuten an, dass die Ausbalancierung gegenläufiger Werthaltungen und Prägungen nur gelingt, wenn sie je neu als stabile Labilität institutionell verwirklicht wird.
Dass die Stärkung relativer Homogenität in der Form von Wertbildung und Wertvermittlung eine Aufgabe des Staates sein kann, deutet Böckenförde an, wenn er "eine politisch initiierte aktive Bewusstseinsbildung, die vom Staat getragen wird", für denkbar hält. Gleichzeitig betont er jedoch, der Staat könne einen Wertkonsens selbst nicht stiften. Aber kann er das wirklich nicht? Bei Paul Kirchhof, Böckenfördes früherem Richterkollegen, heißt es dazu: "Der Verfassungsstaat lebt (. . .) von Voraussetzungen, die von den Freiheitsberechtigten geschaffen werden, die der Staat aber rechtlich zu regeln, zu stützen, zu entwickeln und zu fördern hat." Dem steht Böckenfördes bekannter Satz gegenüber: "Es gehört zur Struktur des freiheitlichen Rechtsstaates, dass er von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann." Die Andeutungen Böckenfördes in Staat, Nation, Europa legen die Vermutung nahe, dass er diesen gut dreißig Jahre alten Satz heute nicht mehr so apodiktisch wie ehedem formulieren würde.
Ein Kleinod des Bandes ist der Aufsatz "Staatliches Recht und sittliche Ordnung". Ursprünglich in der Festschrift zum 90. Geburtstag für Josef Pieper erschienen, merkt man ihm die große Vertrautheit des Autors mit der katholischen Soziallehre und ihrer Fundierung in der Philosophie des Thomas von Aquin an, gleichzeitig das Bemühen, diese Tradition für die Gegenwart fruchtbar zu machen. Böckenförde legt eine Aktualisierung der kirchlich-theologischen Idee vom staatlichen Recht vor, die weit entfernt ist von den subjektfeindlichen Fundamentalismen, die gelegentlich mit römischem Katholizismus assoziiert werden. Das Recht verzichtet auf die Durchsetzung sittlicher Maximalforderungen, um "Bedingungen der Möglichkeit für Weiteres" zu schaffen: das "Bei-sich-selbst-sein-Können des Menschen", kraft dessen er "konkret frei werden" kann, weil ihm die Freiheit gelassen wird, darüber zu entscheiden, wie viel über das ethische Minimum hinausgehende Moral er sich zumuten will. Recht ist eine Not- und Erhaltungsordnung, die bewusst davon absieht, eine Tugend- und Wahrheitsordnung zu werden.
Zur Veranschaulichung verweist Böckenförde auf das Abtreibungsurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1993, das sich - der Quadratur des Kreises gleichkommend - bemüht, zwei gegenläufige Rechtskonzepte zum Ausgleich zu bringen: ein anthroposkeptisches Notordnungsrecht mit bescheidenem ethischen Mehrwert und ein idealistisches Moralverstärkerrecht, das meint, der scheinbar schwächelnden Sittlichkeit unter die Arme greifen zu können. Letzteres hält Böckenförde für verfehlt. Bereits in den abschließenden Bemerkungen seines Sondervotums zum Abtreibungsurteil hat er dies zum Ausdruck gebracht. In ihnen kündigt sich die nunmehr vorgelegte systematische Darlegung seines Rechtsverständnisses pointiert zusammengefasst an.
Staatslehre ist konzeptionell mehr als Staatsrechtslehre. Böckenförde beherzigt dies als Anhänger Hermann Hellers, dem es immer auch um die "seinswissenschaftliche", nicht nur die streng juristische Seite politischer Verfassung ging. Staatslehre muss außerdem methodisch konkret sein, denn nur an klar abgesteckten, meist aktuellen Fragen lässt sich die Tragfähigkeit theoretischer Reflexion über den Staat griffig überprüfen. Böckenförde hat dies als Verehrer des Carl Schmitt der Weimarer Zeit verinnerlicht, dessen Realitätsanalysen und Begriffsbildungen zumeist Reaktionen auf konkrete historisch-politische Problemlagen waren.
Etwas von dem Geist der zwanziger Jahre, dem das unentwegte Ringen um die Grundfragen eigen ist, durchweht auch die Beiträge Böckenfördes.
STEPHAN RIXEN
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