Mit dem Zerfall der dynastischen Ordnung, der im Jahre 1912 zur Ausrufung einer Republik geführt hatte, setzte in China eine Phase kaum zu überbietender geistiger, politischer, sozialer, militärischer und ökonomischer Pluralisierungsprozesse ein. Doch frühe republikanische Versuche, ein parlamentarisches System zu konstituieren, scheiterten bereits nach kurzer Zeit. Angesichts der Zersplitterung des Landes in Einflussbereiche lokaler und regionaler Militärmachthaber, der Infragestellung der staatlichen Souveränität, des fortwährenden Drucks ausländischer Mächte und der anhaltenden ökonomischen Entwicklungsdefizite sah ein großer Teil der geistigen Eliten Chinas das Gebot der Stunde in der Schaffung einer modernen staatlichen Ordnung und dem Aufbau einer "Neuen Kultur". Thomas Fröhlich untersucht am Beispiel der namhaften Intellektuellen Ding Wenjiang (1887-1936), Zhang Junmai (1887-1969), Hu Shi (1891-1962) und Chen Duxiu (1879-1942) die zeitgenöss ischen Vorstellungen von staatlicher und kultureller Ordnung. Diese Denker deckten im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein sehr breites Spektrum politischer Ideen marxistischer, demokratischer oder diktatorischer Ausrichtung ab. Mit seiner Feststellung, dass die ausgewählten Intellektuellen über keinen Begriff des Politischen verfügten, eröffnet Thomas Fröhlich einen neuen Zugang zu deren expertokratischem Staatsdenken, das bis heute einen beträchtlichen Einfluss in China genießt. Um diesen Zugang begrifflich zu bestimmen, wird in seiner Untersuchung die Idee einer entpolitisierten Ordnung menschlichen Zusammenlebens, wie sie im westlichen politischen Denken auftritt, begrifflich erörtert. Dabei erweist sich, dass die bisherigen Zuordnungen dieser Denker der chinesischen Republikzeit zum Neo-Traditionalismus, Sino-Liberalismus, Sino-Marxismus oder zur Dichotomie von Tradition und Moderne ausgesprochen fragwürdig ist. Die Studie zeigt außerdem, dass die umstrittenen Arbeiten der v ier Intellektuellen zur westlichen Philosophie, Wissenschaftstheorie sowie den geistesgeschichtlichen Traditionen Chinas zu einer vollständigen Entpolitisierung ihrer Programme für den nationalen Wiederaufbau führte.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Den Ansatz des Sinologen Thomas Fröhlich, die Rezeption westlicher Ideen in das chinesische Staatsdenken "als Kette produktiver Missverständnisse" zu verstehen, findet der Rezensent mit dem Kürzel pap. offensichtlich interessant. Die Studie beschäftigt sich stark mit Quellen und konzentriert sich maßgeblich auf vier politische Intellektuelle (Ding Wenjiang, Zhang Junmai, Hu Shi und Chen Duxiu) während der Republikzeit. Vor allem die Analyse, woran "das 'expertokratische' Staatsdenken als Knäuel widersprüchlicher Konzepte" letztendlich scheiterte, findet der Rezensent ergiebig.
© Perlentaucher Medien GmbH
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