Produktdetails
- Supercoralli
- Verlag: Einaudi, T.
- Erscheinungstermin: 28. September 2009
- Italienisch
- Gewicht: 308g
- ISBN-13: 9788806171247
- ISBN-10: 8806171240
- Artikelnr.: 26611074
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2010Die blutige Saite
Gefangenschaft ist der Preis: Tiziano Scarpas Vivaldi-Roman "Stabat mater"
Eine Stadt der Sinnesfreuden muss wissen, wo sie ihre unehelichen Kinder unterbringt: In Venedig gab es vier "ospedali" für verwaiste, kranke und unerwünschte Kinder. Die Serenissima hat daraus Kunst und Kapital geschlagen. Im siebzehnten Jahrhundert erlangten diese Institutionen Ruhm, weil sie ihre weiblichen Zöglinge zu hervorragenden Musikantinnen und Sängerinnen ausbildeten. Im Ospedale Santa Maria della Pietà, dem ältesten Waisenhaus, komponiert und dirigiert Antonio Vivaldi von 1703 und trifft dort das sechzehnjährige Violintalent Cecilia. So jedenfalls erzählt es Tiziano Scarpa in seinem Roman "Stabat mater", der mit dem wichtigsten italienischen Literaturpreis, dem Premio Strega, ausgezeichnet wurde.
Scarpa erzählt schwierige Monate in Cecilias Leben aus ihrer Sicht. Das Mädchen wird zur Frau und stellt sich Fragen zu Identität und Einsamkeit, Liebe und Tod, situationsbedingt in zugespitzter Weise: Schließlich kennt Cecilia ihre Mutter nicht; auf die Bedeutung dieser Leerstelle spielt der Titel an, wenn der Roman auch von einer schmerzerfüllten Tochter handelt. "Stabat mater" präsentiert sich als eine Reihe von Botschaften an die Unbekannte: Nachts, wenn die Angst, "eine schwarze, giftige Flüssigkeit", steigt, steht Cecilia auf und hält Zwiesprache mit ihrem Tod, einer Frau mit Medusenhaupt, die kommt, wann es ihr gefällt; oder sie schreibt ihrer Mutter. Auf Antwort kann sie nicht hoffen, vom Erfahrungsreichtum der Außenwelt ist sie abgeschnitten.
Das alles ist keine leichte Kost. Im Falle Scarpas mag das überraschen, der gewohnt phantasievoll-schnoddrige Ton, mit dem er schon mal von einem verliebten Papst berichtet, weicht hier einem von existentieller Not getriebenen Schreiben. Selten gleitet der Stil ins Meer pathetischer Gefühle ab, fast immer wählt er ein griffiges Bild, einen konkreten Gegenstand, ein aberwitziges Detail, an dem die Sprache Halt findet - auf diesen Pfeilern baut er sein imaginäres Venedig, eine düstere, leidenschaftliche Stadt.
"Stabat mater" ist ein Text im Fluss, dessen Absätze einem ausgeprägten Rhythmus folgen, von Olaf Matthias Roth feinfühlig ins Deutsche übertragen. Das Tempo ist mal grave, mal vivace, von Musik jedoch ist zunächst wenig die Rede. Don Giulio, Komponist des Stifts, ist ein müder Greis; Cecilia hat andere Sorgen und traktiert die Violine ohne Enthusiasmus. Einmal wöchentlich tritt sie mit den anderen in der Kirche auf, spielt auf Emporen hinter vergoldeten Gittern. Manchmal halten Adelige um die Hand der Mädchen an, die müssen sich dann zwischen Musik und Ehe entscheiden, denn tatsächlich war ihnen das Spielen außerhalb der Waisenhäuser verboten.
Ins graue Einerlei bricht ein roter Haarschopf ein: Vivaldi, der "Prete Rosso", bringt die Fülle der Natur mit, seine "Vier Jahreszeiten" sind ein "Windhauch des Universums", der Cecilia aufrüttelt und sie mit dem Orchester verschmelzen lässt. Da macht es nichts, dass der Autor die historische Genauigkeit opfert, die "Vier Jahreszeiten" sind späteren Datums, Scarpa gesteht es im Nachwort: Das Publikum ist begeistert, Cecilia erschüttert, der Leser sind hingerissen. Er wird in die Komplizenschaft zwischen Genie und junger Frau hineingezogen. Cecilia verweigert die Mitarbeit, spielt absichtlich falsch, und Vivaldi durchschaut sie: "Zu einer derartigen Mittelmäßigkeit ist nur derjenige imstande, der perfekt spielen kann." Feinfühlig hält Scarpa die Waage zwischen Enthusiasmus und Distanz, wie auch Vivaldis Bewunderung durchsetzt ist von Eifersucht und Cecilias Verehrung von Zweifel. Vivaldi bietet Cecilia an, seine Virtuosin zu werden. Der Preis: ewige Gefangenschaft, denn will sie musizieren, so muss sie die Heiratsangebote ablehnen und hinter den Gittern der Empore bleiben.
Kunst oder Leben, so lautet die radikale Alternative. Gekonnt kondensiert Scarpa das geforderte Opfer in einem blutigen Bild. Vivaldi verlangt von Cecilia, dass sie ein Lamm schlachtet, um aus dem Darm eine Saite für ihr Instrument zu gewinnen. Sie tut es - und trifft eine Entscheidung. Dieser Roman spiegelt das Leben kraftvoll wider, insbesondere der zweite Teil in seiner atemlosen Beiläufigkeit ist grandios: Musik und Literatur, Leben und Kunst verschmelzen hier zur Fuge und reißen den Leser mit in ein Finale, aus dem es nur ein abruptes Erwachen geben kann.
NIKLAS BENDER
Tiziano Scarpa: "Stabat mater". Roman. Aus dem Italienischen von Olaf Matthias Roth. Wagenbach Verlag, Berlin 2009. 144 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gefangenschaft ist der Preis: Tiziano Scarpas Vivaldi-Roman "Stabat mater"
Eine Stadt der Sinnesfreuden muss wissen, wo sie ihre unehelichen Kinder unterbringt: In Venedig gab es vier "ospedali" für verwaiste, kranke und unerwünschte Kinder. Die Serenissima hat daraus Kunst und Kapital geschlagen. Im siebzehnten Jahrhundert erlangten diese Institutionen Ruhm, weil sie ihre weiblichen Zöglinge zu hervorragenden Musikantinnen und Sängerinnen ausbildeten. Im Ospedale Santa Maria della Pietà, dem ältesten Waisenhaus, komponiert und dirigiert Antonio Vivaldi von 1703 und trifft dort das sechzehnjährige Violintalent Cecilia. So jedenfalls erzählt es Tiziano Scarpa in seinem Roman "Stabat mater", der mit dem wichtigsten italienischen Literaturpreis, dem Premio Strega, ausgezeichnet wurde.
Scarpa erzählt schwierige Monate in Cecilias Leben aus ihrer Sicht. Das Mädchen wird zur Frau und stellt sich Fragen zu Identität und Einsamkeit, Liebe und Tod, situationsbedingt in zugespitzter Weise: Schließlich kennt Cecilia ihre Mutter nicht; auf die Bedeutung dieser Leerstelle spielt der Titel an, wenn der Roman auch von einer schmerzerfüllten Tochter handelt. "Stabat mater" präsentiert sich als eine Reihe von Botschaften an die Unbekannte: Nachts, wenn die Angst, "eine schwarze, giftige Flüssigkeit", steigt, steht Cecilia auf und hält Zwiesprache mit ihrem Tod, einer Frau mit Medusenhaupt, die kommt, wann es ihr gefällt; oder sie schreibt ihrer Mutter. Auf Antwort kann sie nicht hoffen, vom Erfahrungsreichtum der Außenwelt ist sie abgeschnitten.
Das alles ist keine leichte Kost. Im Falle Scarpas mag das überraschen, der gewohnt phantasievoll-schnoddrige Ton, mit dem er schon mal von einem verliebten Papst berichtet, weicht hier einem von existentieller Not getriebenen Schreiben. Selten gleitet der Stil ins Meer pathetischer Gefühle ab, fast immer wählt er ein griffiges Bild, einen konkreten Gegenstand, ein aberwitziges Detail, an dem die Sprache Halt findet - auf diesen Pfeilern baut er sein imaginäres Venedig, eine düstere, leidenschaftliche Stadt.
"Stabat mater" ist ein Text im Fluss, dessen Absätze einem ausgeprägten Rhythmus folgen, von Olaf Matthias Roth feinfühlig ins Deutsche übertragen. Das Tempo ist mal grave, mal vivace, von Musik jedoch ist zunächst wenig die Rede. Don Giulio, Komponist des Stifts, ist ein müder Greis; Cecilia hat andere Sorgen und traktiert die Violine ohne Enthusiasmus. Einmal wöchentlich tritt sie mit den anderen in der Kirche auf, spielt auf Emporen hinter vergoldeten Gittern. Manchmal halten Adelige um die Hand der Mädchen an, die müssen sich dann zwischen Musik und Ehe entscheiden, denn tatsächlich war ihnen das Spielen außerhalb der Waisenhäuser verboten.
Ins graue Einerlei bricht ein roter Haarschopf ein: Vivaldi, der "Prete Rosso", bringt die Fülle der Natur mit, seine "Vier Jahreszeiten" sind ein "Windhauch des Universums", der Cecilia aufrüttelt und sie mit dem Orchester verschmelzen lässt. Da macht es nichts, dass der Autor die historische Genauigkeit opfert, die "Vier Jahreszeiten" sind späteren Datums, Scarpa gesteht es im Nachwort: Das Publikum ist begeistert, Cecilia erschüttert, der Leser sind hingerissen. Er wird in die Komplizenschaft zwischen Genie und junger Frau hineingezogen. Cecilia verweigert die Mitarbeit, spielt absichtlich falsch, und Vivaldi durchschaut sie: "Zu einer derartigen Mittelmäßigkeit ist nur derjenige imstande, der perfekt spielen kann." Feinfühlig hält Scarpa die Waage zwischen Enthusiasmus und Distanz, wie auch Vivaldis Bewunderung durchsetzt ist von Eifersucht und Cecilias Verehrung von Zweifel. Vivaldi bietet Cecilia an, seine Virtuosin zu werden. Der Preis: ewige Gefangenschaft, denn will sie musizieren, so muss sie die Heiratsangebote ablehnen und hinter den Gittern der Empore bleiben.
Kunst oder Leben, so lautet die radikale Alternative. Gekonnt kondensiert Scarpa das geforderte Opfer in einem blutigen Bild. Vivaldi verlangt von Cecilia, dass sie ein Lamm schlachtet, um aus dem Darm eine Saite für ihr Instrument zu gewinnen. Sie tut es - und trifft eine Entscheidung. Dieser Roman spiegelt das Leben kraftvoll wider, insbesondere der zweite Teil in seiner atemlosen Beiläufigkeit ist grandios: Musik und Literatur, Leben und Kunst verschmelzen hier zur Fuge und reißen den Leser mit in ein Finale, aus dem es nur ein abruptes Erwachen geben kann.
NIKLAS BENDER
Tiziano Scarpa: "Stabat mater". Roman. Aus dem Italienischen von Olaf Matthias Roth. Wagenbach Verlag, Berlin 2009. 144 S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main