Wieviel Terror braucht der Diktator Stalin, um seine Macht zu festigen, und wie kann man leben in seinem Regime? Sascha, ein Kind vom Arbat und einer von Millionen Häftlingen, die es 1937 in der Sowjetunion gab, darf endlich aus der sibirischen Verbannung zurückkehren. Allerdings, Moskau und andere "Regimestädte" sind für ihn tabu. Auf dem mühseligen Weg durch Rußland muß Sascha erkennen, wie sehr sich alles verändert hat. Er sieht Gefangenentransporte und deren brutale Bewacher. Er spürt die Angst der Leute, die auch auf den Bahnhöfen von den Schauprozessen verfolgt werden, die nicht wagen, miteinander zu sprechen. Aber die Sehnsucht ist stärker. Trotz des Verbots fährt Sascha nach Moskau, um sich heimlich mit seiner Freundin Warja zu treffen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.03.1995Hier ist einer Feind des anderen
Anatolij Rybakow untersucht weiterhin Stalins Angstsystem
Glaube, Angst und Lüge heißen die Pfeiler, auf denen das Sowjetsystem errichtet wurde. Zuerst starb der Glaube, die revolutionäre Begeisterung, die eine tatendurstige und opferbereite Jugend erfaßt hatte. Viel später schwand die Angst. Als mit Glasnost auch der letzte Pfeiler schwankte, fiel das System in sich zusammen.
In dem Roman "Die Kinder vom Arbat", der 1966 entstand, aber erst 1987 erscheinen konnte, hat Anatolij Rybakow anhand des Schicksals des jungen, von dem Glauben an die revolutionäre Sache durchdrungenen Komsomolzen Sascha Pankratow und seiner Moskauer Freunde den Weg vom Enthusiasmus der zwanziger Jahre zum stalinistischen Terror nachgezeichnet. Der Autor konnte dabei auf eigene Erlebnisse zurückgreifen: Wie sein Held Pankratow wurde auch Rybakow im Zuge der "Säuberungen" verhaftet und für drei Jahre nach Sibirien verbannt.
Mit "Angst", so der Originaltitel, liegt nun der dritte Roman von Rybakows auf sieben Teile angelegtem Stalinzyklus auf deutsch vor. Aus unerfindlichen Gründen wurde der Titel in "Stadt der Angst" geändert, obwohl sich die Handlung keineswegs auf Moskau beschränkt, Rybakow vielmehr gerade zeigt, wie der Terror in den Jahren 1936/37, dem Höhepunkt der "großen Säuberungen", auch noch den letzten Winkel des Riesenreichs erreichte.
Sascha Pankratow ist aus der Verbannung entlassen worden; er kehrt aus Sibirien zurück und trifft auf eine Gesellschaft im Würgegriff der Angst. Angst, Panik, Hysterie bestimmen das Denken, Fühlen und Handeln aller, von dem Diktator, dessen pathologisches Psychogramm auch hier, wie schon in den beiden ersten Romanen des Zyklus, in einem parallel zur Haupthandlung verlaufenden Erzählstrang entfaltet wird, über seine Helfershelfer bis hin zu den Kindern, die Fürchterliches mit ansehen müssen.
Das von Stalin aufgebaute totalitäre System erlaubte einem einzelnen Menschen, seinen paranoiden Wahn einer ganzen Gesellschaft überzustülpen. 1937 kann sich niemand mehr entziehen: Mit Entsetzen liest Sascha die Namen der bedeutendsten russischen Schriftsteller unter einem Aufruf, der die Erschießung der in Schauprozessen verurteilten Armeeführer fordert - die Namen Soschtschenko, Tynjanow, Paustowski, Pasternak und viele andere (Pasternaks Weigerung war ignoriert worden). Wenig später wird auch Sascha bei einer Zwangskundgebung seine Hand für die Erschießung der "Feinde" heben. Sonst wäre nicht nur sein eigenes Schicksal besiegelt; er brächte auch alle, die mit ihm zu tun hatten, in tödliche Gefahr. Der von Stalin gelegte teuflische Brand fraß sich gleichsam von selbst immer weiter: Jede Verhaftung löste Kettenreaktionen weiterer Verhaftungen aus; alle Menschen in der Umgebung eines "Volksfeinds" gerieten in Verdacht; unter der Folter nannten die Verhafteten Namen - die nächsten Opfer.
Sascha ist frei, aber er trägt das Kainsmal des "Volksfeinds". Ein Vermerk im Paß verbietet ihm den Aufenthalt in den Großstädten. Jeder Chef wird sich scheuen, den Verfemten einzustellen; bei jeder Polizeikontrolle muß er mit erneuter Verhaftung rechnen; jedes Gespräch, das er mit Fremden führt, gleicht einem Gang durchs Minenfeld. Für das Regime ist er, wie ihm ein NKWD-Scherge auseinandersetzt, ein "Gekränkter", verdächtig, sich für das ihm angetane Unrecht rächen zu wollen.
Doch seine Lage unterscheidet sich nur noch unerheblich von der aller anderen: Inzwischen hat sich das ganze Land in ein riesiges Gefängnis, einen Wartesaal zum GULag verwandelt - die Grenzen zwischen Lager und Außenwelt, zwischen Häftling und Normalbürger, zwischen Täter und Opfer verschwimmen. Aus Angst verhaften, verurteilen, foltern die Täter; aus Angst denunzieren und applaudieren die Opfer.
"Was jetzt geschah", sagt sich Sascha, "war die logische Folge dessen, was damals geschehen war." Aus blindem revolutionärem Glauben erwuchs ein Terrorsystem. Glaubte das Volk an die maßlosen Verbrechen, zu denen sich die Angeklagten der Schauprozesse bekannten? Angesichts der Allgegenwart von Terror und Lüge eine hypothetische Frage. Jedenfalls schien Lion Feuchtwanger, der als persönlicher Gast Stalins an einem der Schauprozesse teilnahm, keine Zweifel zu hegen. Rybakow führt ihn als Beispiel für alle ausländischen Intellektuellen vor, die - im Gegensatz zu André Gide, der ebenfalls zitiert wird - dem Tyrannen auf den Leim gingen oder bewußt die Augen schlossen und dafür sorgten, daß Stalins Ansehen im Westen kaum Schaden nahm.
Wie schon in den "Kindern vom Arbat" und den "Jahren des Terrors" (dem zweiten Roman des Zyklus) hat Rybakow auch in der "Stadt der Angst" Dokumentation und Fiktion zu einem originellen Mischgenre zusammengefügt. Allerdings teilt der Roman auch die Schwächen seiner beiden Vorgänger - typisierte, psychologisch wenig differenzierte Figuren, ausufernde, langatmige Beschreibungen, ein hausbacken konventioneller Stil. Stalin und Hitler, so der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski in einem Essay, haben auch den Roman umgebracht: Angesichts der Massenvernichtungen, der ganz neuen Dimension des Schreckens, mußte er verstummen.
Um so anachronistischer wirkt die Erzählweise Rybakows, die nicht an die russische Avantgarde und ihre der neuen Erfahrung totalitärer Entfremdung weit eher gerechten Stilmittel, sondern an die realistischen Traditionen des neunzehnten Jahrhunderts anknüpft. Gleichwohl weiß Rybakow den Alltag unter Stalin, den Terror und die psychischen Deformationen, die er bewirkt, die neue "Normalität" des Schreckens in vielen Szenen und Bildern eindringlich darzustellen. Die "Stadt der Angst" ist keine brillante Abrechnung mit dem Stalinismus wie "Meister und Margarita" oder der "Archipel GULag", wohl aber ein lesenswertes, ehrliches und spannendes Buch über das Leben unter einem mörderischen Regime. KONRAD FUHRMANN
Anatolij Rybakow: "Stadt der Angst". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Juri Elperin. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1994. 511 S., br., 32,- DM.
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Anatolij Rybakow untersucht weiterhin Stalins Angstsystem
Glaube, Angst und Lüge heißen die Pfeiler, auf denen das Sowjetsystem errichtet wurde. Zuerst starb der Glaube, die revolutionäre Begeisterung, die eine tatendurstige und opferbereite Jugend erfaßt hatte. Viel später schwand die Angst. Als mit Glasnost auch der letzte Pfeiler schwankte, fiel das System in sich zusammen.
In dem Roman "Die Kinder vom Arbat", der 1966 entstand, aber erst 1987 erscheinen konnte, hat Anatolij Rybakow anhand des Schicksals des jungen, von dem Glauben an die revolutionäre Sache durchdrungenen Komsomolzen Sascha Pankratow und seiner Moskauer Freunde den Weg vom Enthusiasmus der zwanziger Jahre zum stalinistischen Terror nachgezeichnet. Der Autor konnte dabei auf eigene Erlebnisse zurückgreifen: Wie sein Held Pankratow wurde auch Rybakow im Zuge der "Säuberungen" verhaftet und für drei Jahre nach Sibirien verbannt.
Mit "Angst", so der Originaltitel, liegt nun der dritte Roman von Rybakows auf sieben Teile angelegtem Stalinzyklus auf deutsch vor. Aus unerfindlichen Gründen wurde der Titel in "Stadt der Angst" geändert, obwohl sich die Handlung keineswegs auf Moskau beschränkt, Rybakow vielmehr gerade zeigt, wie der Terror in den Jahren 1936/37, dem Höhepunkt der "großen Säuberungen", auch noch den letzten Winkel des Riesenreichs erreichte.
Sascha Pankratow ist aus der Verbannung entlassen worden; er kehrt aus Sibirien zurück und trifft auf eine Gesellschaft im Würgegriff der Angst. Angst, Panik, Hysterie bestimmen das Denken, Fühlen und Handeln aller, von dem Diktator, dessen pathologisches Psychogramm auch hier, wie schon in den beiden ersten Romanen des Zyklus, in einem parallel zur Haupthandlung verlaufenden Erzählstrang entfaltet wird, über seine Helfershelfer bis hin zu den Kindern, die Fürchterliches mit ansehen müssen.
Das von Stalin aufgebaute totalitäre System erlaubte einem einzelnen Menschen, seinen paranoiden Wahn einer ganzen Gesellschaft überzustülpen. 1937 kann sich niemand mehr entziehen: Mit Entsetzen liest Sascha die Namen der bedeutendsten russischen Schriftsteller unter einem Aufruf, der die Erschießung der in Schauprozessen verurteilten Armeeführer fordert - die Namen Soschtschenko, Tynjanow, Paustowski, Pasternak und viele andere (Pasternaks Weigerung war ignoriert worden). Wenig später wird auch Sascha bei einer Zwangskundgebung seine Hand für die Erschießung der "Feinde" heben. Sonst wäre nicht nur sein eigenes Schicksal besiegelt; er brächte auch alle, die mit ihm zu tun hatten, in tödliche Gefahr. Der von Stalin gelegte teuflische Brand fraß sich gleichsam von selbst immer weiter: Jede Verhaftung löste Kettenreaktionen weiterer Verhaftungen aus; alle Menschen in der Umgebung eines "Volksfeinds" gerieten in Verdacht; unter der Folter nannten die Verhafteten Namen - die nächsten Opfer.
Sascha ist frei, aber er trägt das Kainsmal des "Volksfeinds". Ein Vermerk im Paß verbietet ihm den Aufenthalt in den Großstädten. Jeder Chef wird sich scheuen, den Verfemten einzustellen; bei jeder Polizeikontrolle muß er mit erneuter Verhaftung rechnen; jedes Gespräch, das er mit Fremden führt, gleicht einem Gang durchs Minenfeld. Für das Regime ist er, wie ihm ein NKWD-Scherge auseinandersetzt, ein "Gekränkter", verdächtig, sich für das ihm angetane Unrecht rächen zu wollen.
Doch seine Lage unterscheidet sich nur noch unerheblich von der aller anderen: Inzwischen hat sich das ganze Land in ein riesiges Gefängnis, einen Wartesaal zum GULag verwandelt - die Grenzen zwischen Lager und Außenwelt, zwischen Häftling und Normalbürger, zwischen Täter und Opfer verschwimmen. Aus Angst verhaften, verurteilen, foltern die Täter; aus Angst denunzieren und applaudieren die Opfer.
"Was jetzt geschah", sagt sich Sascha, "war die logische Folge dessen, was damals geschehen war." Aus blindem revolutionärem Glauben erwuchs ein Terrorsystem. Glaubte das Volk an die maßlosen Verbrechen, zu denen sich die Angeklagten der Schauprozesse bekannten? Angesichts der Allgegenwart von Terror und Lüge eine hypothetische Frage. Jedenfalls schien Lion Feuchtwanger, der als persönlicher Gast Stalins an einem der Schauprozesse teilnahm, keine Zweifel zu hegen. Rybakow führt ihn als Beispiel für alle ausländischen Intellektuellen vor, die - im Gegensatz zu André Gide, der ebenfalls zitiert wird - dem Tyrannen auf den Leim gingen oder bewußt die Augen schlossen und dafür sorgten, daß Stalins Ansehen im Westen kaum Schaden nahm.
Wie schon in den "Kindern vom Arbat" und den "Jahren des Terrors" (dem zweiten Roman des Zyklus) hat Rybakow auch in der "Stadt der Angst" Dokumentation und Fiktion zu einem originellen Mischgenre zusammengefügt. Allerdings teilt der Roman auch die Schwächen seiner beiden Vorgänger - typisierte, psychologisch wenig differenzierte Figuren, ausufernde, langatmige Beschreibungen, ein hausbacken konventioneller Stil. Stalin und Hitler, so der polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski in einem Essay, haben auch den Roman umgebracht: Angesichts der Massenvernichtungen, der ganz neuen Dimension des Schreckens, mußte er verstummen.
Um so anachronistischer wirkt die Erzählweise Rybakows, die nicht an die russische Avantgarde und ihre der neuen Erfahrung totalitärer Entfremdung weit eher gerechten Stilmittel, sondern an die realistischen Traditionen des neunzehnten Jahrhunderts anknüpft. Gleichwohl weiß Rybakow den Alltag unter Stalin, den Terror und die psychischen Deformationen, die er bewirkt, die neue "Normalität" des Schreckens in vielen Szenen und Bildern eindringlich darzustellen. Die "Stadt der Angst" ist keine brillante Abrechnung mit dem Stalinismus wie "Meister und Margarita" oder der "Archipel GULag", wohl aber ein lesenswertes, ehrliches und spannendes Buch über das Leben unter einem mörderischen Regime. KONRAD FUHRMANN
Anatolij Rybakow: "Stadt der Angst". Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Juri Elperin. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1994. 511 S., br., 32,- DM.
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