Mitten in der chaotischen Millionenstadt Lima begegnen wir dem jungen JournalistenÓscar, der eine Reportage über als Clowns verkleidete Bettler schreibensoll, und dem Lastwagenfahrer Gregorio Rabassa. Wir werden Zeugen davon,wie ein junger Mann, El Pintor, sein Kunststudium abbricht und sich der Guerillaanschließt, um die Bewohner Limas mit schwarz angemalten Hunden zuerschrecken, und begleiten den zehnjährigen Maico zu seiner Arbeit an eineder dichtbefahrenen Straßenkreuzungen der Stadt, wo er sich Tag für Tag miteinem Blinden um seinen Lohn, ein paar kümmerliche Münzen, streiten muss.Wie schon in seinem großartigen Roman Lost City Radio entwirft Daniel Alarcónin seinen hochgelobten Erzählungen die Szenerie einer Stadt zwischen Verzweiflungund Hoffnung. Für Alarcón gibt es nichts Privates, das nicht zugleichpolitisch wäre und umgekehrt; das Leben und das alltägliche Überleben seinerProtagonisten - und manchmal auch ihr Sterben - spiegeln im Kleinen die ungelöstenKonflikte einer Gesellschaft im Umbruch.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.10.2012Die Piranhas von Lima
Kühl wie eine Messerklinge: Der Erzählungsband „Stadt der Clowns“ von Daniel Alarcón
Unten am Watt gibt es eine Bar. Ein alter Mann, sehr weißes Haar, kommt herein und setzt sich her. Er wird drei Sätze sagen, über die du nachdenken könntest. „Ich mag euer Land“, sagt er zum Beispiel. „Gute Schmuggler. Interessantes Klima. Reizende, großherzige Frauen.“ Dann, als du ablehnst, mit ihm zum hell erleuchteten Hafen zu gehen, fällt der zweite Satz: „Ihr bewundert nichts, ihr Leute. Deswegen seid ihr so rückständig.“ Den dritten hörst du später vor deinem Hotel. Der Alte ist dir gefolgt, jetzt zieht er ein Messer hervor: „Siehst du, ich hatte gehofft, dich heute Abend zu überfallen.“
Immer wieder in diesem Buch trifft man auf Sätze, die einen nicht einfach entkommen lassen. Und wenn sie nicht von weißhaarigen alten Männern stammen, dann von reizenden, großherzigen Frauen. Oder von neugierigen, selbstsicheren Blinden, denen erst übel mitgespielt werden muss, ehe sie wirklich hilflos sind. Es ist ein guter Sommer gewesen für die jüngere lateinamerikanische Literatur und ihre deutschen Leser. Zuerst der verschwiegene Kurzkrimi „Letzter Zug nach Buenos Aires“ von Hernán Ronsino, Jahrgang 1975, dann die unheimliche Mengele-Phantasie „Wakolda“ von Lucía Puenzo, Jahrgang 1976, jetzt die Erzählungen „Stadt der Clowns“, kühl wie eine Messerklinge, von Daniel Alarcón, Jahrgang 1977.
In Peru kämpfen Aufständische für eine gerechtere Gesellschaft. Nur in Lima, der Hauptstadt am Meer, tun alle so, als ginge das Leben weiter wie bisher. In der Nacht klingelt das Telefon, weil die Aufständischen wissen, dass sie bei Fernando anrufen können. Er steigt ins Auto, um einen Compañero aufzulesen, geplagt von schlechtem Gewissen, Frau und Kind allein zu lassen. Aber er kann nicht anders. Einmal sagt der Vater über ihn, er habe ein großes Herz, „voller Sehnsucht, aber kämpferisch; mitfühlend, aber argwöhnisch; fähig, große Ideen in unlösbaren Knoten persönlicher Angst zu bündeln“. „Krieg bei Kerzenschein“ heißt diese Geschichte. Fernando wird diesen Krieg nicht überleben.
Eine andere Geschichte, „Los Miles“, nicht mehr als zwei Seiten lang, erzählt, wie sich erniedrigtes Volk Land nimmt und über Nacht Häuser baut aus Draht und Aluminium, Steppdecken und Treibholz, Plastikplanen und Gummireifen. Obgleich Bulldozer anrücken, wird die Siedlung nicht angetastet. Das klingt, wie von Fernando geträumt. Aber meistens geht es, wenn irgendwo in Lateinamerika Beleidigte und Erniedrigte Land besetzen, nicht ganz so glimpflich zu. Darüber hat Elena Poniatowska zum Beispiel detailliert berichtet, in ihren Mexiko-Reportagen „Stark ist das Schweigen“.
Daniel Alarcón schreibt auf Amerikanisch. Geboren in Lima, zog er schon als Kind mit der Familie in die USA. Heute lebt er in Oakland, Kalifornien. Für sein Debüt „Lost City Radio“ erhielt er in Berlin den Internationalen Literaturpreis für den besten fremdsprachigen Roman. Zum Großteil sind die hier versammelten Erzählungen schon früher entstanden, aber nicht weniger preiswürdig. Überwiegend spielen sie in der Hauptstadt, dem „schönen, geschändeten Lima“. Mit Ausnahme von „Los Miles“, wo es um die Masse, ja um die Tausenden geht, bekommen wir es mit Einzelnen zu tun, mit ihrer Einsamkeit, ihrer Unruhe und Zerrissenheit, noch dazu ihren oft dreckigen Kampf ums Überleben.
In „Stadt der Clowns“, der Titelgeschichte, wird Óscar beauftragt, eine Reportage über als Clowns verkleidete Bettler zu schreiben. Ihm kommt der Gedanke, selbst ein Kostüm mit roter Nase überzuziehen, mit den Clowns einen Bus zu besteigen und Geld zu sammeln. Es läuft nicht schlecht. „Sie kamen meiner Stimmung entgegen. Verwandelten sie, indem sie das Absurde aufgriffen, die Scham begrüßten. Lach mich aus. Beleidige mich. Und wenn du es tust, habe ich gewonnen. Lima war im Geist und in der Tat eine Stadt der Clowns.“
In der Schule haben sie Óscar Piraña gerufen. Weil er aus einem üblen Viertel stammte, aus San Juan de Lurigancho. Piranhas werden in Lima Räubergangs genannt, die Autos im Stau überfallen, Radkappen, Spiegel, Lampen abziehen oder, wenn sie gut drauf sind, Fenster einschlagen und Brieftaschen, Handys, Uhren mitnehmen.
Óscars Vater hatte eine andere Methode. Als Arbeiter kam er in die Häuser der Wohlhabenden und prägte sich ein, was dort zu holen sein würde. Irgendwann zog er Óscar ins Geschäft, ausgerechnet ins Haus eines älteren Mitschülers. Gute Beute, aber Óscar war erst zufrieden, als er sich einen eleganten Anzug gegriffen hatte. In diesem Anzug ging er, nachdem er hineingewachsen war, zum Vorstellungsgespräch in die Zeitungsredaktion. Er wurde genommen.
RALPH HAMMERTHALER
Daniel Alarcón, geboren 1977 in Lima, lebt und schreibt in Kalifornien.
FOTO: PICTURE-ALLIANCE / APA/PICTUREDE
Daniel Alarcón: Stadt der Clowns. Aus dem Amerikanischen von Friederike Meltendorf. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012. 192 Seiten, 18,90 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kühl wie eine Messerklinge: Der Erzählungsband „Stadt der Clowns“ von Daniel Alarcón
Unten am Watt gibt es eine Bar. Ein alter Mann, sehr weißes Haar, kommt herein und setzt sich her. Er wird drei Sätze sagen, über die du nachdenken könntest. „Ich mag euer Land“, sagt er zum Beispiel. „Gute Schmuggler. Interessantes Klima. Reizende, großherzige Frauen.“ Dann, als du ablehnst, mit ihm zum hell erleuchteten Hafen zu gehen, fällt der zweite Satz: „Ihr bewundert nichts, ihr Leute. Deswegen seid ihr so rückständig.“ Den dritten hörst du später vor deinem Hotel. Der Alte ist dir gefolgt, jetzt zieht er ein Messer hervor: „Siehst du, ich hatte gehofft, dich heute Abend zu überfallen.“
Immer wieder in diesem Buch trifft man auf Sätze, die einen nicht einfach entkommen lassen. Und wenn sie nicht von weißhaarigen alten Männern stammen, dann von reizenden, großherzigen Frauen. Oder von neugierigen, selbstsicheren Blinden, denen erst übel mitgespielt werden muss, ehe sie wirklich hilflos sind. Es ist ein guter Sommer gewesen für die jüngere lateinamerikanische Literatur und ihre deutschen Leser. Zuerst der verschwiegene Kurzkrimi „Letzter Zug nach Buenos Aires“ von Hernán Ronsino, Jahrgang 1975, dann die unheimliche Mengele-Phantasie „Wakolda“ von Lucía Puenzo, Jahrgang 1976, jetzt die Erzählungen „Stadt der Clowns“, kühl wie eine Messerklinge, von Daniel Alarcón, Jahrgang 1977.
In Peru kämpfen Aufständische für eine gerechtere Gesellschaft. Nur in Lima, der Hauptstadt am Meer, tun alle so, als ginge das Leben weiter wie bisher. In der Nacht klingelt das Telefon, weil die Aufständischen wissen, dass sie bei Fernando anrufen können. Er steigt ins Auto, um einen Compañero aufzulesen, geplagt von schlechtem Gewissen, Frau und Kind allein zu lassen. Aber er kann nicht anders. Einmal sagt der Vater über ihn, er habe ein großes Herz, „voller Sehnsucht, aber kämpferisch; mitfühlend, aber argwöhnisch; fähig, große Ideen in unlösbaren Knoten persönlicher Angst zu bündeln“. „Krieg bei Kerzenschein“ heißt diese Geschichte. Fernando wird diesen Krieg nicht überleben.
Eine andere Geschichte, „Los Miles“, nicht mehr als zwei Seiten lang, erzählt, wie sich erniedrigtes Volk Land nimmt und über Nacht Häuser baut aus Draht und Aluminium, Steppdecken und Treibholz, Plastikplanen und Gummireifen. Obgleich Bulldozer anrücken, wird die Siedlung nicht angetastet. Das klingt, wie von Fernando geträumt. Aber meistens geht es, wenn irgendwo in Lateinamerika Beleidigte und Erniedrigte Land besetzen, nicht ganz so glimpflich zu. Darüber hat Elena Poniatowska zum Beispiel detailliert berichtet, in ihren Mexiko-Reportagen „Stark ist das Schweigen“.
Daniel Alarcón schreibt auf Amerikanisch. Geboren in Lima, zog er schon als Kind mit der Familie in die USA. Heute lebt er in Oakland, Kalifornien. Für sein Debüt „Lost City Radio“ erhielt er in Berlin den Internationalen Literaturpreis für den besten fremdsprachigen Roman. Zum Großteil sind die hier versammelten Erzählungen schon früher entstanden, aber nicht weniger preiswürdig. Überwiegend spielen sie in der Hauptstadt, dem „schönen, geschändeten Lima“. Mit Ausnahme von „Los Miles“, wo es um die Masse, ja um die Tausenden geht, bekommen wir es mit Einzelnen zu tun, mit ihrer Einsamkeit, ihrer Unruhe und Zerrissenheit, noch dazu ihren oft dreckigen Kampf ums Überleben.
In „Stadt der Clowns“, der Titelgeschichte, wird Óscar beauftragt, eine Reportage über als Clowns verkleidete Bettler zu schreiben. Ihm kommt der Gedanke, selbst ein Kostüm mit roter Nase überzuziehen, mit den Clowns einen Bus zu besteigen und Geld zu sammeln. Es läuft nicht schlecht. „Sie kamen meiner Stimmung entgegen. Verwandelten sie, indem sie das Absurde aufgriffen, die Scham begrüßten. Lach mich aus. Beleidige mich. Und wenn du es tust, habe ich gewonnen. Lima war im Geist und in der Tat eine Stadt der Clowns.“
In der Schule haben sie Óscar Piraña gerufen. Weil er aus einem üblen Viertel stammte, aus San Juan de Lurigancho. Piranhas werden in Lima Räubergangs genannt, die Autos im Stau überfallen, Radkappen, Spiegel, Lampen abziehen oder, wenn sie gut drauf sind, Fenster einschlagen und Brieftaschen, Handys, Uhren mitnehmen.
Óscars Vater hatte eine andere Methode. Als Arbeiter kam er in die Häuser der Wohlhabenden und prägte sich ein, was dort zu holen sein würde. Irgendwann zog er Óscar ins Geschäft, ausgerechnet ins Haus eines älteren Mitschülers. Gute Beute, aber Óscar war erst zufrieden, als er sich einen eleganten Anzug gegriffen hatte. In diesem Anzug ging er, nachdem er hineingewachsen war, zum Vorstellungsgespräch in die Zeitungsredaktion. Er wurde genommen.
RALPH HAMMERTHALER
Daniel Alarcón, geboren 1977 in Lima, lebt und schreibt in Kalifornien.
FOTO: PICTURE-ALLIANCE / APA/PICTUREDE
Daniel Alarcón: Stadt der Clowns. Aus dem Amerikanischen von Friederike Meltendorf. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2012. 192 Seiten, 18,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Ralph Hammerthaler freut sich über die vielversprechenden Werke junger lateinamerikanischer Autoren, die in den letzten Monaten erschienen sind; Daniel Alarcón, Jahrgang 1977, sei einer von ihnen. Seine Erzählungen in "Stadt der Clowns" sind "kühl wie eine Messerklinge", findet der Rezensent. Beinahe alle Geschichten spielen in Parus Hauptstadt Lima. Der Leser bekomme es in den Geschichte vor allem mit einzelnen Menschen zu tun, "mit ihrer Einsamkeit, ihrer Unruhe und Zerrissenheit". Eine Ausnahme bildet die Geschichte "Los Miles", verrät Hammerthaler: auf nicht einmal zwei Seiten erzähle der Autor gleich von einem ganzen unterdrückten Volk, das seine Aluminium-Steppdecken-Stadt vor bedrohlichen Bulldozern beschützen will.
© Perlentaucher Medien GmbH
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» Alarcón erzählt erstaunlich souverän, mit passionierter Kühle und Genauigkeit « Wolfgang Schneider, Literaturen