Am 9. November 1944 wurde die Schwarzhändlerin Martha Rebbien in ihrer Berliner Wohnung verhaftet, nachdem sie schon vier Jahre lang am Berliner Schwarzhandel teilgenommen hatte. Ihre Geschichte ist zugleich die Geschichte eines Marktes, die Geschichte seiner Teilnehmer undihrer Praktiken, der ökonomischen Makrobedingungen wie einzelner alltäglicher Anpassungsleistungen. Sie ist in erweiterter Perspektive auch eine Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner während des Krieges."Stadt der Schieber"ist eine kulturwissenschaftliche, überaus facettenreiche Analyse des Schwarzmarkts in Berlin, die in der prominenten Figur des"Schiebers"einen archimedischen Punkt findet, der das Phänomen in seine lange Vorgeschichte einbettet und die Folgen des Schwarzhandels als radikale Markterfahrung nachzeichnet.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.01.2009Vom Tauschnetzwerk einer Kellnerin
War Berlin im Zweiten Weltkrieg durch Schwarzhandel eine "Stadt der Schieber"?
Es bestand bisher Einigkeit unter Zeitgenossen wie Historikern, dass es im Zweiten Weltkrieg keinen Schwarzmarkt in Deutschland gegeben hat. Denn schon bei der Vorbereitung des Krieges hatte das NS-Regime darauf geachtet, die Fehler von 1914 bis 1918 zu vermeiden. Damals hatte der Staat die Versorgung der Bevölkerung unzureichend organisiert. Es war nicht eine Frage der Moral, sondern des puren Überlebens, im Wege des "Schleichhandels" oder durch "Hamstern" zusätzliche Lebensmittel zu besorgen. Um derartige Missstände beim nächsten Krieg zu vermeiden, sorgte ein umfassendes System der Rationierung für eine mitunter knappe, aber doch insgesamt ausreichende Versorgung, die erstaunlicherweise bis zum Kriegsende aufrechterhalten wurde. Der gesicherten Versorgung entsprach die rücksichtslose Verfolgung derer, die Lebensmittel und andere Versorgungsgüter der Bewirtschaftung entzogen und auf eigene Rechnung vertrieben. Solchen "Kriegswirtschaftsverbrechern", gemeinhin "Schieber" genannt, drohten drakonische Strafen. Diese müssen abschreckend gewirkt haben, so dass in der Erinnerung die Vorstellung eines veritablen Schwarzmarktes im Krieg keinen Platz gefunden hat. Der hatte sich erst nach Kriegsende, vor allem durch die Einbeziehung von Angehörigen der alliierten Streitkräfte, rasant entwickelt.
Nun lernen wir, dass dieses Erinnerungsbild falsch ist. Schon im Titel wird signalisiert, dass in Berlin bereits im Krieg Schwarzhandel getrieben wurde. Und es blieb nicht beim banalen Umschlagsplatz für illegale Waren. Die Märkte bildeten "in ihrer Form als Versammlungsöffentlichkeit wichtige Bezugspunkte einer räumlichen wie moralischen Neubestimmung des städtischen Lebens". Mehr noch, "sie wurden zu einem wichtigen Bestandteil des Krisendiskurses, der den Untergang der Stadt verhandelte". Eine solche Entwicklung sei nur möglich gewesen, "weil die Strafverfolgungsbehörden nur einen marginalen Teil der begangenen Delikte aufdeckten".
Das sind Thesen, die das Verhalten des Regimes wie der Bevölkerung in neuem Licht erscheinen lassen. Werden sie aber durch die hier vorgelegten Quellen bestätigt? Das ist keineswegs der Fall. Im Zentrum stehen einschlägige Akten der Berliner Staatsanwaltschaft. Es werden 183 Einzelfälle ausgewertet - keine beeindruckende Zahl für eine Riesenstadt wie Berlin. Auf die Tätigkeit einer arbeitslosen Kellnerin wird immer wieder verwiesen; sie betrieb Schwarzhandel seit 1941 und wurde im November 1944 verhaftet. Sie sei der Mittelpunkt eines "Tauschnetzwerkes nachweislich mit mindestens 20 Personen in direktem und mit mindestens weiteren 20 Personen in indirektem Kontakt" gewesen. Auch das zeigt eher begrenzte Verhältnisse. Nun könnte man meinen, dass die lange, wenn auch begrenzte Praxis dieser Frau genügend Anschauungsmaterial bietet, um über Waren und Preise zu informieren, einen Einblick in das Milieu zu geben und den Verfolgungsdruck der Polizei zu beschreiben. Davon ist jedoch nicht die Rede.
Der Autor hat anderes im Blick. Ihn leiten neue, vornehmlich aus der Ethnologie kommende Fragestellungen. Schwarzhandel wird primär als eine Tauschkultur verstanden, die "multiplexe Beziehungen" und spezielle Tauschtechniken entwickelte. Das ist kein Zufall, denn Zierenberg will die "Berliner Tauschgesellschaft" im "Sinne einer ethnologisch geschulten Analyse" in den Griff bekommen. Das ist jedoch weder notwendig noch überzeugend. Denn die Hervorhebung des Tauschens verschiebt die Gewichte. Natürlich gab es auch Tausch, wie in jeder Mangelwirtschaft, aber schwarz gehandelte Ware wurde in erster Linie mit Geld bezahlt. Denn die Reichsmark blieb als gesetzliches Zahlungsmittel unangefochten und auch in der Nachkriegszeit noch in Geltung - freilich mit erheblichem Wertverlust. Der "ethnologische Blick" hat Konsequenzen. Der angeblich florierende Schwarzmarkt wird nicht fassbar. Er wird in eine Vielzahl sozialer Kontakte aufgelöst. Da ist von Viertelstrukturen, Tauschräumen und Konsum- wie Privaträumen die Rede. An Hand der Ermittlungsakten wird ein soziales Beziehungsgeflecht aufgebaut, das aber wichtige Sachverhalte ausblendet. Über die tatsächliche Ernährungslage der Bevölkerung ist kaum etwas zu erfahren. Die Existenz des Schwarzmarktes wird ganz einfach aus der Tatsache abgeleitet, dass es genügend Verordnungen gab, die den illegalen Handel mit Strafen bedrohten. Also muss es einen solchen gegeben haben. Mit gewissen Bereichen von Berlin-Mitte war zugleich ein kriminalitätsanfälliges Milieu gegeben, das seit Alfred Döblins Roman hinlänglich bekannt ist.
Von Verhaftungen ist die Rede, aber es wird das Strafmaß nicht mitgeteilt, das in den geschilderten Fällen verhängt wurde. Selbst bei der im November 1944 verhafteten Kellnerin wird nur mitgeteilt, dass die Anklageschrift am 31. März 1945 fertiggestellt war, aber nichts über das zu erwartende Strafmaß. Ebenso wenig ist zu erfahren, wie die Polizei Umfang und Bedeutung des Schwarzhandels einschätzte. Die Ordnungshüter werden nur einmal mild getadelt. Die Arbeit des Gewerbeaußendienstes - das war offensichtlich die Task force gegen die "Schieber" - sei nicht "rein sachbezogen und objektiv" gewesen, sondern bewegte sich im "Kontext von Deutungsvorgaben", die eine "politische Bewertung des Schwarzhandels" zur Folge hatten. Wenn der Schwarzhandel ein politisch gefährliches Ausmaß angenommen hätte, wäre mit Sicherheit die Gestapo eingeschaltet worden. Die taucht jedoch nicht auf. Das "älteste Gewerbe" findet großes Interesse. Obwohl es naheliegend ist, dass diese nur geduldete Tätigkeit zum Schwarzhandel viele Querverbindungen aufwies, aber für die besondere Kriegssituation im Grunde unbeachtlich ist, erhalten wir dennoch wichtige Aufschlüsse: "Die Dienstleistung Sex gehörte zu den Tauschobjekten des Berliner Schwarzmarktes." Auch fehlt der Hinweis nicht, dass der Schwarzhandel im Bordell an "etablierte Käufer-Kunde-Beziehungen anknüpfen" konnte.
Von der eingangs angekündigten "Öffentlichkeit" des Schwarzmarktes ist später nicht mehr die Rede. Nur einmal heißt es sibyllinisch, im Winter 1944/45 habe es einen "kritischen" Moment gegeben. In einem "Vakuum staatlicher Ordnung entstand der versammlungsöffentliche Berliner Schwarzmarkt". Gibt es dafür einen Beleg? Mitnichten. Das ist ein groteskes Fehlurteil angesichts des permanenten Einsatzes von Polizei, Feuerwehr, Organisation Todt und anderen Einheiten, die das öffentliche Leben trotz der zunehmenden Luftangriffe aufrecht erhielten. Eine "Stadt der Schieber", des "anscheinend unbehelligten illegalen Handels", hat es in Berlin nicht gegeben.
HENNING KÖHLER
Malte Zierenberg: Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939-1950. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 336 S., 36,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
War Berlin im Zweiten Weltkrieg durch Schwarzhandel eine "Stadt der Schieber"?
Es bestand bisher Einigkeit unter Zeitgenossen wie Historikern, dass es im Zweiten Weltkrieg keinen Schwarzmarkt in Deutschland gegeben hat. Denn schon bei der Vorbereitung des Krieges hatte das NS-Regime darauf geachtet, die Fehler von 1914 bis 1918 zu vermeiden. Damals hatte der Staat die Versorgung der Bevölkerung unzureichend organisiert. Es war nicht eine Frage der Moral, sondern des puren Überlebens, im Wege des "Schleichhandels" oder durch "Hamstern" zusätzliche Lebensmittel zu besorgen. Um derartige Missstände beim nächsten Krieg zu vermeiden, sorgte ein umfassendes System der Rationierung für eine mitunter knappe, aber doch insgesamt ausreichende Versorgung, die erstaunlicherweise bis zum Kriegsende aufrechterhalten wurde. Der gesicherten Versorgung entsprach die rücksichtslose Verfolgung derer, die Lebensmittel und andere Versorgungsgüter der Bewirtschaftung entzogen und auf eigene Rechnung vertrieben. Solchen "Kriegswirtschaftsverbrechern", gemeinhin "Schieber" genannt, drohten drakonische Strafen. Diese müssen abschreckend gewirkt haben, so dass in der Erinnerung die Vorstellung eines veritablen Schwarzmarktes im Krieg keinen Platz gefunden hat. Der hatte sich erst nach Kriegsende, vor allem durch die Einbeziehung von Angehörigen der alliierten Streitkräfte, rasant entwickelt.
Nun lernen wir, dass dieses Erinnerungsbild falsch ist. Schon im Titel wird signalisiert, dass in Berlin bereits im Krieg Schwarzhandel getrieben wurde. Und es blieb nicht beim banalen Umschlagsplatz für illegale Waren. Die Märkte bildeten "in ihrer Form als Versammlungsöffentlichkeit wichtige Bezugspunkte einer räumlichen wie moralischen Neubestimmung des städtischen Lebens". Mehr noch, "sie wurden zu einem wichtigen Bestandteil des Krisendiskurses, der den Untergang der Stadt verhandelte". Eine solche Entwicklung sei nur möglich gewesen, "weil die Strafverfolgungsbehörden nur einen marginalen Teil der begangenen Delikte aufdeckten".
Das sind Thesen, die das Verhalten des Regimes wie der Bevölkerung in neuem Licht erscheinen lassen. Werden sie aber durch die hier vorgelegten Quellen bestätigt? Das ist keineswegs der Fall. Im Zentrum stehen einschlägige Akten der Berliner Staatsanwaltschaft. Es werden 183 Einzelfälle ausgewertet - keine beeindruckende Zahl für eine Riesenstadt wie Berlin. Auf die Tätigkeit einer arbeitslosen Kellnerin wird immer wieder verwiesen; sie betrieb Schwarzhandel seit 1941 und wurde im November 1944 verhaftet. Sie sei der Mittelpunkt eines "Tauschnetzwerkes nachweislich mit mindestens 20 Personen in direktem und mit mindestens weiteren 20 Personen in indirektem Kontakt" gewesen. Auch das zeigt eher begrenzte Verhältnisse. Nun könnte man meinen, dass die lange, wenn auch begrenzte Praxis dieser Frau genügend Anschauungsmaterial bietet, um über Waren und Preise zu informieren, einen Einblick in das Milieu zu geben und den Verfolgungsdruck der Polizei zu beschreiben. Davon ist jedoch nicht die Rede.
Der Autor hat anderes im Blick. Ihn leiten neue, vornehmlich aus der Ethnologie kommende Fragestellungen. Schwarzhandel wird primär als eine Tauschkultur verstanden, die "multiplexe Beziehungen" und spezielle Tauschtechniken entwickelte. Das ist kein Zufall, denn Zierenberg will die "Berliner Tauschgesellschaft" im "Sinne einer ethnologisch geschulten Analyse" in den Griff bekommen. Das ist jedoch weder notwendig noch überzeugend. Denn die Hervorhebung des Tauschens verschiebt die Gewichte. Natürlich gab es auch Tausch, wie in jeder Mangelwirtschaft, aber schwarz gehandelte Ware wurde in erster Linie mit Geld bezahlt. Denn die Reichsmark blieb als gesetzliches Zahlungsmittel unangefochten und auch in der Nachkriegszeit noch in Geltung - freilich mit erheblichem Wertverlust. Der "ethnologische Blick" hat Konsequenzen. Der angeblich florierende Schwarzmarkt wird nicht fassbar. Er wird in eine Vielzahl sozialer Kontakte aufgelöst. Da ist von Viertelstrukturen, Tauschräumen und Konsum- wie Privaträumen die Rede. An Hand der Ermittlungsakten wird ein soziales Beziehungsgeflecht aufgebaut, das aber wichtige Sachverhalte ausblendet. Über die tatsächliche Ernährungslage der Bevölkerung ist kaum etwas zu erfahren. Die Existenz des Schwarzmarktes wird ganz einfach aus der Tatsache abgeleitet, dass es genügend Verordnungen gab, die den illegalen Handel mit Strafen bedrohten. Also muss es einen solchen gegeben haben. Mit gewissen Bereichen von Berlin-Mitte war zugleich ein kriminalitätsanfälliges Milieu gegeben, das seit Alfred Döblins Roman hinlänglich bekannt ist.
Von Verhaftungen ist die Rede, aber es wird das Strafmaß nicht mitgeteilt, das in den geschilderten Fällen verhängt wurde. Selbst bei der im November 1944 verhafteten Kellnerin wird nur mitgeteilt, dass die Anklageschrift am 31. März 1945 fertiggestellt war, aber nichts über das zu erwartende Strafmaß. Ebenso wenig ist zu erfahren, wie die Polizei Umfang und Bedeutung des Schwarzhandels einschätzte. Die Ordnungshüter werden nur einmal mild getadelt. Die Arbeit des Gewerbeaußendienstes - das war offensichtlich die Task force gegen die "Schieber" - sei nicht "rein sachbezogen und objektiv" gewesen, sondern bewegte sich im "Kontext von Deutungsvorgaben", die eine "politische Bewertung des Schwarzhandels" zur Folge hatten. Wenn der Schwarzhandel ein politisch gefährliches Ausmaß angenommen hätte, wäre mit Sicherheit die Gestapo eingeschaltet worden. Die taucht jedoch nicht auf. Das "älteste Gewerbe" findet großes Interesse. Obwohl es naheliegend ist, dass diese nur geduldete Tätigkeit zum Schwarzhandel viele Querverbindungen aufwies, aber für die besondere Kriegssituation im Grunde unbeachtlich ist, erhalten wir dennoch wichtige Aufschlüsse: "Die Dienstleistung Sex gehörte zu den Tauschobjekten des Berliner Schwarzmarktes." Auch fehlt der Hinweis nicht, dass der Schwarzhandel im Bordell an "etablierte Käufer-Kunde-Beziehungen anknüpfen" konnte.
Von der eingangs angekündigten "Öffentlichkeit" des Schwarzmarktes ist später nicht mehr die Rede. Nur einmal heißt es sibyllinisch, im Winter 1944/45 habe es einen "kritischen" Moment gegeben. In einem "Vakuum staatlicher Ordnung entstand der versammlungsöffentliche Berliner Schwarzmarkt". Gibt es dafür einen Beleg? Mitnichten. Das ist ein groteskes Fehlurteil angesichts des permanenten Einsatzes von Polizei, Feuerwehr, Organisation Todt und anderen Einheiten, die das öffentliche Leben trotz der zunehmenden Luftangriffe aufrecht erhielten. Eine "Stadt der Schieber", des "anscheinend unbehelligten illegalen Handels", hat es in Berlin nicht gegeben.
HENNING KÖHLER
Malte Zierenberg: Stadt der Schieber. Der Berliner Schwarzmarkt 1939-1950. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008. 336 S., 36,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main