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In dieser Untersuchung nimmt Maurice Halbwachs lange nach seiner Arbeit über die Cadres sociaux de la mémoire, erneut eine Fragestellung auf, die damals die Grenzen der Humanwissenschaften neu abgesteckt hatte. Seine "Topographie" des geschichtlichen Wandels der christlichen Überlieferung zeichnet den Zugriff religiöser Gruppen auf die materiellen und räumlichen Bedingungen ihres Gedenkens nach und zeigt, auf welche Weise sich das religiöse Gedächtnis selbst eine Ordnung, einen Rahmen des Erinnerns gibt, der sich in geographischer Kontinuität versinnbildlicht. Das sich gegenseitig Dauer…mehr

Produktbeschreibung
In dieser Untersuchung nimmt Maurice Halbwachs lange nach seiner Arbeit über die Cadres sociaux de la mémoire, erneut eine Fragestellung auf, die damals die Grenzen der Humanwissenschaften neu abgesteckt hatte. Seine "Topographie" des geschichtlichen Wandels der christlichen Überlieferung zeichnet den Zugriff religiöser Gruppen auf die materiellen und räumlichen Bedingungen ihres Gedenkens nach und zeigt, auf welche Weise sich das religiöse Gedächtnis selbst eine Ordnung, einen Rahmen des Erinnerns gibt, der sich in geographischer Kontinuität versinnbildlicht. Das sich gegenseitig Dauer sichernde Verhältnis von materiellem und repräsentiertem Raum, eines Raums, der immer deutlicher die Spuren seiner gesellschaftlichen Bestimmungsgründe trägt und so als Möglichkeitsbedingung einer "subjektiven" Zeit entsteht, sieht Halbwachs als historisches Ergebnis einer unablässigen "Arbeit" sozialer Gruppen, ihrer kollektiven Aneignung von Raum und Zeit. Das Gesamtwerk Maurice Halbwachs in der édition discours umfasst 7 Bände (ISBN 3-89669-990-3). Die Ausgabe wird im Frühjahr mit Erscheinen des Materialbandes abgeschlossen.
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Autorenporträt
Maurice Halbwachs (1877-1945), Schüler von Henri Bergson, Philosoph und Ökonom, war eines der namhaftesten Mitglieder der école sociologique Durkheims. Seit 1919 hatte Maurice Halbwachs eine Professur für Soziologie in Straßburg inne, die erste Professur für Soziologie überhaupt. Er pflegte enge Beziehungen zum Kreis der "Annales" um Lucien Febvre und Marc Bloch. Er war ab 1935 Nachfolger von Céléstin Bouglé an der Sorbonne und seit 1944 Lehrstuhlinhaber für Sozialpsychologie am Collège de France. Maurice Halbwachs starb im März 1945 im Konzentrationslager Buchenwald.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.03.2003

Marmor, Stein und Eisen spricht
Nur mit klopfendem Herzen zu lesen: Maurice Halbwachs im Heiligen Land
Wer in den achtziger Jahren der funktionalistischen Deutungsmuster der Sozialwissenschaften überdrüssig war, konnte Trost in einem grauen Taschenbuch aus S. Fischers wissenschaftlicher Reihe finden. Darin standen Sätze, die man nur unter Herzklopfen las: „Das Bild der Dinge hat an deren Trägheit selbst teil.” Oder Beobachtungen, wonach „allein das Bild des Raumes infolge seiner Beständigkeit die Illusion gibt, zu allen Zeiten unverändert zu sein und die Vergangenheit in der Gegenwart wiederzufinden”. Das Buch trug den merkwürdigen Titel „Das kollektive Gedächtnis”, enthielt Kapitelüberschriften wie „Die Steine der Stadt” und nannte als Verfassernamen Maurice Halbwachs.
Auf der Suche nach einer verlorenen Wissenschaft: „Maurice Halbwachs”, so lautete die knappe Notiz zum Autor im Impressum des Buchs, „1887 im Reims geboren, war Professor an der Sorbonne und am Collège de France. Am 16. März 1945 wurde er im KZ Buchenwald ermordet. Sein Werk ‚Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen’ (1925) ist vor mehreren Jahren in deutscher Übersetzung erschienen.” Tatsächlich war nicht nur diese frühere Arbeit bereits 1966 in der Reihe „Soziologische Texte” des Luchterhand Verlags, sondern auch das in Halbwachs’ Nachlass entdeckte Fragment über „Das kollektive Gedächtnis” schon einmal im Jahr 1967 erschienen. Der Nachdruck von 1985, der 1991 seine vorläufig letzte Auflage erhielt, trug noch das der deutschen Erstausgabe beigegebene Geleitwort des Soziologen Heinz Maus. Darin wurde auf eine weitere Studie von 1941 hingewiesen, in der Halbwachs seine Auffassung vom Kollektivgedächtnis – in der Nachfolge seines Lehrers Durkheim soziologisch konkret als das Gedächtnis sozialer Gruppen gefasst – exemplarisch ausgeführt hatte: in Gestalt einer „Legendären Topographie der Evangelien im Heiligen Lande”. Alle Wege führen nach Jerusalem.
Unter dem Titel „Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis” ist die „Topographie légendaire des Evangiles en Terre Sainte”, wie jenes seltsam anmutende Buch bei seiner erstmaligen Veröffentlichung im besetzten Paris des Jahres 1942 hieß, jetzt auch in deutscher Übersetzung erschienen: An so entlegener Stelle allerdings, dass man befürchten muss, es könnte das Schicksal seiner Vorgänger teilen, nämlich häufig erwähnt zu werden, aber ungelesen zu bleiben. Denn weder im Fischer Verlag noch am gegenüberliegenden Mainufer, bei Suhrkamp, wo die Taschenbuchausgabe auch des ersten Gedächtnisbuches von 1925 dahindämmerte, vermochte Halbwachs’ Oeuvre einen festen Ort zu finden. Herausgegeben von Franz Schultheis und Stephan Egger, erscheint eine auf sieben Bände angelegte Werkausgabe seit zwei Jahren in der kleinen „édition discours” des Konstanzer Universitätsverlags. Im Kapitel „Geschichte und Gedächtnis” einer künftigen Ideengeschichte der alten Bundesrepublik wird auch die Frage zu beantworten sein, warum entscheidende Rezeptionsangebote, trotz ihres Eingangs in die liturgischen Gebetsmühlen der neudeutschen Erinnerungskultur und der sie bedienenden Kulturwissenschaften, niemals wirklich angenommen wurden.
Dabei – und vielleicht birgt eben dies den unheimlich-heimlichen Grund einer ausgebliebenen Rezeption – steht Halbwachs’ einzigartiger, dabei weder mit Freud noch mit C.G. Jung, auch nicht mit Warburg, Benjamin oder Proust kompatibler Zugang auf die Überlieferungen von kollektiven Denkmustern, Glaubensvorstellungen und anderen Gedächtnisinhalten als durchweg „geformten Erinnerungen” jeder naiven Erinnerungskultur diametral entgegen, insofern diese selbst zum kritischen Forschungsgegenstand wird. Der faszinierenden Weise, in der dies geschieht, kann man in diesem Buch wie auf einer Reise nach Jerusalem inne werden, Seite an Seite mit Pilgern aller Zeiten gleichzeitig. Ginge es Halbwachs nicht um eine Soziologie „ab ovo”, wäre von der zarten und hinreißenden Poetologie seines Verfahrens zu sprechen, die ihren Nachbarn am ehesten in der „Poetik des Raums” seines Landsmanns Gaston Bachelard fände.
Für Halbwachs ist die Erinnerung eine Konstruktion der Gegenwart über die Vergangenheit, und jedes Mal, wenn wir uns erinnern, so lautet die zweite, schlichte Grundvoraussetzung seiner Darlegung der Gesetzmäßigkeiten des Gruppengedächtnisses am Exempel des Siegeszugs der in einem steinigen und von der Geschichte mehrfach verwüsteten Land geborenen christlichen Religion, sind wir nicht alleine. Wir sind vielmehr mit vielen anderen gleichzeitig und mit noch mehr anderen vor uns Teil eines Chors, der sich über Generationen hinweg seiner Ursprünge und seiner Herkunft versichert, seine Legenden und vor allem die Orte pflegt, an denen sich die für das Geschick der Gemeinschaft entscheidenden Ereignisse vermeintlich zugetragen haben. Denn einzig und allein die festen Orte, auch und gerade dann, wenn sie noch so steinig, felsenschwer und träge sind, verbürgen eine sonst nicht vorhandene Stabilität der Gruppe.
Die gemeinsam geleistete „Erinnerungsarbeit” und die darüber gestifteten „Erinnerungsbilder” folgen einem ähnlichen operativen Modus von Verdichtung und Verknüpfung, Entstellung und Überlagerung wie die Freudsche „Traumarbeit”, nur mit dem Unterschied, dass sich darüber nicht die Vergangenheit mit uns in eine unbewusste Beziehung setzt, sondern das umgekehrte Verhältnis stattfindet: „Eine Erinnerung setzt uns mit der Vergangenheit in Beziehung.” Sie agiert als selbständiges, aber von unseren kollektiven Vorstellungen, Sehnsüchten und Wünschen abhängiges Subjekt, mit Auswahlmechanismen und willkürlichen Fehlern, Verstellungen, Irrtümern, um der schlichten Vereinfachung der Erinnerung willen. Oder wie ein Palästinabesucher des Jahres 1660 angesichts des evangelischen Ölbergs befand: „Die ganze Umgebung (des Berges) ist bemerkenswert wegen der wundersamen Begebenheiten, die dort stattgefunden haben. Ich glaube, dass man sie an diesem Ort versammelt hat, um den Pilgern und auch ihren Führern lange Wege zu ersparen.”
Ein Pilger ist ein Mensch, der über Steine wandert. Der Historiker ist ihm verwandt, insofern auch er die Gruppe, aus der er stammt, vorübergehend verlässt, um in die Fremde zu gehen, bis er wieder zurückkehrt, um vor seiner Gruppe Zeugnis abzulegen. So folgt auch Halbwachs der Leben-Jesu-Forschung, wie sie seit Ernest Renan betrieben wurde, mit dem Ziel, hinter die Orte des biblischen Jesus, bis auf die ursprünglichen, die historischen Orte zurückzugehen.
Doch was bleibt, wenn dort Schicht für Schicht der Überlieferungen abgetragen ist? Steine, nichts als Steine, Steine, an die sich wechselnde und konträre Erinnerungen heften, Gräber. Brunnen und Höhlen, hier eine Eckkante, die als Gedächtnisstütze dient, und da ein gespaltener Stein mit dem Abdruck menschlicher Gliedmaßen, dessen eine Hälfte hier und dessen andere Hälfte dort verehrt wird. Erinnerungen folgen Erinnerungen dicht auf dem Fuße, oder sie heften sich an Mandelbäume, und alle festen Orte sind oftmals auch nur Steinwürfe voneinander entfernt.
Man ahnt, nicht ohne Frösteln, das gewaltige Politikum, auf das hier zugegriffen wird, nicht nur im Hinblick auf das Christentum als weltgeschichtliche Macht oder auf das bis heute umstrittene geographische Terrain seiner Ursprünge, an dem zwei weitere monotheistische Religionen mit ihren Völkern Anteil haben, sondern auch als historische Modellanalyse für die Untersuchung der politischen Religionen des 19. und 20. Jahrhunderts: Denn diese haben ebenfalls ihre Heiligen Stätten und ihr umkämpftes Jerusalem, ob sie nun Moskau, Rom, München, Sarajevo, Amselfeld, Gettysburg, Ground Zero oder wie auch immer heißen. In ihrer Bedeutung für die Untersuchung der Wirkungsmächtigkeit kollektiver Vorstellungen und Glaubensinhalte ist Halbwachs’ Studie nur mit Marc Blochs „Les rois thaumaturges” und Ernst H. Kantorowicz’ „The King’s Two Bodies” vergleichbar.
Unmöglich, den Gedanken- und Bilderreichtum von Halbwachs’ dicht gestricktem Buch, das dem Stil seiner Schilderungen nach an Proust erinnert, auch nur annähernd wiederzugeben. Man kann es nur, man muss es lesen, mit pochendem Herzen, so wie man eine biblische Landschaft liest, bei deren Anblick man sich der Erinnerungen nicht erwehren kann.
VOLKER BREIDECKER
MAURICE HALBWACHS: Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis. Herausgegeben und aus dem Französischen übersetzt von Stephan Egger. UVK Verlag, Konstanz 2003. 268 Seiten, 24 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Jan Assmann begrüßt sehr, dass dieses im Original bereits 1941 erschienene Buch von Halbwachs nun endlich übersetzt worden ist. So könne nun ein Umstand sichtbar werden, den der Rezensent "hochinteressant" nennt: Halbwachs habe seinen bis zu diesem Buch strikt auf das lebendige Gedächtnis beschränkten Gedächtnisbegriff sowie seine ganzen Hypothesen hier nun, und "offenbar bedenkenlos", auf die Sphäre der äußeren Zeichen ausgedehnt. Halbwachs habe in diesem letzten von ihm vollendeten Buch zum Thema Gedächtnis also, schreibt Assmann, seinen Focus vom "kollektiven" zum "kulturellen" Gedächtnis hin verlagert. Gegenstand dieses Buches sind, so erfahren wir, die Stätten des christlichen Gedächtnisses im Heiligen Land - an deren Beispiel Halbwachs dann unter anderem seine These belege, wonach Gedächtnis immer im Nachhinein rekonstruiert wird; insofern die Errichtung vieler dieser Stätten im Nachhinein nämlich aktuellen Bedürfnissen eines zur Staatskirche aufgestiegenen Christentums entsprang.

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