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Der polnische Schriftsteller Stefan Chwin, in Deutschland vor allem bekannt geworden durch seinen Roman "Tod in Danzig" (poln. "Hanemann"), umkreist in der vorliegenden 3. Dresdner Poetikdozentur seine Heimatstadt Danzig als Stätte der Erinnerung und Ort seines Schreibens. Es geht ihm dabei um den Umgang des Schriftstellers mit einer konstant fortlaufenden Erzählung des Lebens und der eigenen, gefundenen wie erfundenen, literarischen Narration.

Produktbeschreibung
Der polnische Schriftsteller Stefan Chwin, in Deutschland vor allem bekannt geworden durch seinen Roman "Tod in Danzig" (poln. "Hanemann"), umkreist in der vorliegenden 3. Dresdner Poetikdozentur seine Heimatstadt Danzig als Stätte der Erinnerung und Ort seines Schreibens. Es geht ihm dabei um den Umgang des Schriftstellers mit einer konstant fortlaufenden Erzählung des Lebens und der eigenen, gefundenen wie erfundenen, literarischen Narration.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.11.2005

Dünn wie Hostien sind diese Mädchen
Das Ornament auf dem Siegel der Kunst: Stefan Chwin erzählt vom postsozialistischen Danzig
Als vor kurzem in Polen die Nationalkonservativen unter der Führung der Brüder Kazcynski die Parlamentswahlen gewannen und wenig später Lech Kaczynski bei der Stichwahl zum Amt des Staatspräsidenten triumphierte, wuchs hierzulande die Sorge vor einer Verschlechterung des deutsch-polnischen Verhältnisses. Allzu ungehemmt hatten Lech Kaczynski und sein Zwillingsbruder Jaroslaw im Wahlkampf die antideutsche Karte gespielt. Kenner der polnischen Innenpolitik aber trauen den Kaczynskis außenpolitischen Pragmatismus durchaus zu. Zu den Gesten, mit denen Lech Kaczynski nach seiner Wahl versicherte, ihm sei an guten Beziehungen zu Deutschland gelegen, gehörte auch das demonstrative Bekenntnis, sein Lieblingsroman sei der „Zauberberg”.
Die potentiellen Konfliktthemen zwischen dem Polen des 21. Jahrhunderts und Deutschland, dem von seiner Geschichte überschatteten Nachbarn im Westen, sind in der Nachkriegsliteratur beider Länder allgegenwärtig. Die Stadt Danzig spielt dabei eine besondere Rolle. Im Werk von Günter Grass tritt der Schilderung des Kampfes um die Danziger Post in der „Blechtrommel” in der Novelle „Im Krebsgang” die Versenkung des Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff” in der Danziger Bucht und damit das Thema „Vertreibung” an die Seite. Und die polnischen Autoren aus der Nachkriegsgeneration verzahnen nicht nur die Geschichte beider Länder, sondern auch deren Literaturen. „Castorp” heißt der jüngste Roman des 1957 in Danzig geborenen Pawel Huelle. Aus einem Nebensatz in Thomas Manns „Zauberberg” steigen darin die Semester Castorps am Polytechnikum des preußischen Danzig auf. „Tod in Danzig” (1995) hieß auf deutsch der Roman „Hanemann”, in dem der 1949 geborene Stefan Chwin vom Schicksal eines deutschen Anatomen im Danzig des Jahres 1945 erzählte.
Im Jahre 2000 hat Stefan Chwin die Poetikdozentur an der Universität Dresden innegehabt. Jetzt sind die Vorlesungen auf deutsch erschienen. Sie enthalten nicht nur eine kurze Geschichte des Wiederaufbaus der Stadt nach 1945, sondern zugleich und vor allem ausführliche Erläuterungen des Autors zur „Privatarchäologie” seiner Heimatstadt: Danzig als „Palimpsest”: die frischesten Schriftzeichen polnisch, darunter das Russische, darunter „in schwarzer gotischer Schrift” das Deutsche, durchsetzt mit Inschriften in Hebräisch.
Chwin neigt zu Mythologisierungen, er will partout ein modernes Troja aus Danzig machen. Aber das Schlüsselereignis, auf das er seine Geburt als Romancier datiert, der von seiner Stadt erzählt, ist ein präzises Datum. Es lag vor seiner Geburt und es fand nicht in Danzig statt, sondern in Warschau: am 7. August 1944, als seine Mutter, Sanitäterin der polnischen Heimatarmee („Armia Krajowa”) in der umkämpften Stadt, einen verletzten Deutschen medizinisch versorgte, obwohl sie am Tag zuvor noch, die Massenerschießungen von Zivilisten durch die Deutschen vor Augen, geschworen hatte, „keinen Gegner mehr zu verschonen”.
Chwin beschreibt diese Szene im schmucklosen Stil einer Chronik. Wenn er die Angst in den Augen des Verletzten in eine Metapher fasst, dann ist sie naturgeschichtlicher Art: „er erstarrte wie ein Insekt, das sich im Schatten eines herannahenden Menschen tot stellt”. Die Frage, warum die Mutter so handelte, wie sie handelte, sagt Chwin, stand am Ursprung seines Romanwerks. Wer aber seine Romane kennt, weiß, dass neben dieser Frage ein zweiter Ursprungsimpuls stand: der Wille zur großen Kunst. Diesem Willen ist die Chronik nicht genug: Er zielt auf Symbol, Mythos, Metapher. Möglichst verschlungen soll das Ornament auf dem Siegel der Kunst sein, das er der Geschichte aufprägt.
Die inneren Gefährdungen, die dem Romancier Stefan Chwin durch seinen Willen zur Kunst erwachsen, lassen sich an seinem jüngsten Roman gut ablesen. „Der goldene Pelikan” ist in Polen 2003 erschienen. Sein Schauplatz ist das Danzig der unmittelbaren Gegenwart: Krieg und Vertreibung, aber auch Sozialismus und Solidarnosc sind nur noch Vergangenheit, das Angebot an Waren und Weltanschauungen unterscheidet sich nicht von dem im Westen. Der Held ist im Danzig der unmittelbaren Nachkriegszeit geboren, wie sein Autor als Kind von Flüchtlingen, die es in die Stadt verschlagen hat. Er hat es zum arrivierten Bürger gebracht, zum Professor an der Juristischen Fakultät, und er ist Mitglied der Weltgesellschaft, die den Anschlag auf die Twin Towers in New York erlebt hat und nun von Irak, von Guantanamo und von der Marssonde Galileo liest.
Seinem verheirateten, aber kinderlosen Helden bereitet Chwin ein Schicksal, wie es die Figuren in der Romanwelt von Georges Simenon häufig trifft: Ein anfänglich als geringfügig erscheinendes Ereignis entfaltet eine ungeahnte Eigendynamik und bringt das gesamte Lebensgefüge des Helden zum Einsturz. Der Professor, ein wenig unaufmerksam bei einer Prüfung, wehrt den Protest einer Studentin gegen ihre schlechte Benotung unwirsch ab. Als er zufällig vom Selbstmord einer gescheiterten Kandidatin hört, beginnt der Verdacht seiner möglichen Schuld seine Existenz zu unterminieren. Stufe um Stufe fällt er aus seiner Welt, verliert Frau, Beruf, Wohnung, wird obdachloser Bettler, bis ihn kurz vor seinem Tod eine Frau rettet, in der er die Examens- und Selbstmordkandidatin zu erkennen meint.
„Die Stadt, in der Jakub auf die Welt kam, war verwüstet und leer.” Mit diesem Satz beginnt der Roman. Aber den Ton der Legende wird er nicht durchhalten, der biblische Name, der hier wie in Joseph Roths „Hiob” den Helden umgibt, kann daran nichts ändern. Denn wie mit dem Erzählmuster „Legende” experimentiert Chwin auch mit dem Muster „Romananfang à la Musil”, und wenn er die Nachkriegsjahrzehnte im Zeitraffer Revue passieren lässt, schlägt er den Johann Peter Hebel-Ton an. Die Legende aber verträgt sich weder mit der Stilmischung noch mit der Form des Essays und schon gar nicht mit den Energien von Ironie, Satire und Polemik.
All dies aber hat Chwin seinem Roman beigemischt. Der Besuch des Helden bei einem New Age-inspirierten Therapeuten folgt dem Standardmodell einer Satire auf die Psychologie, die nichts von der Seele weiß, ein reaktionärer und ein modernistischer Pfarrer demonstrieren die Aporien der Seelsorge in nachmetaphysischen Zeiten. Ein eigens erfundenes Gastspiel der „Körperwelten” des Gunther von Hagens in der Kirche des modernistischen Pfarrers macht das Ausmaß der geistigen Krise auch dem Begriffstutzigsten klar. Und nicht eben unaufdringlich wird der Leidensweg des Helden mit den Weltkriegs-Toten in der Ostsee, in den Friedhöfen und verrottenden Tunnels Danzigs verknüpft. Jakubs Unterweltfahrt gleitet in schwarze Kolportage, seine Rettung durch die verzeihende Frau in erotisch gefärbten Erlösungskitsch ab.
An keiner Stelle, selbst nicht, als er im Supermarkt kleine Diebstähle begeht, entwickelt Jakub auch nur ein Quentchen juristischer Phantasie. Dafür ist der Jura-Professor zu vollgestopft mit Mythologie und Symbolik. Und mit der neuen Mythologie der „drei Könige Guerlain, Kenzo, Lagerfeld” und ihres Hofstaates. Seine Studentinnen leben in der Welt der Markennamen, sind aber dünn „wie Hostien”. Über Danzig steht „die rote Hostie der Sonne”, Jakub glaubt im eigenen Brustkorb seine Seele zu sehen „wie eine lebendige, soeben geschluckte Hostie”. Sein letzter Blick fällt auf eine kalte Münze, die glänzt „wie eine Hostie”. Aber der Metaphernzauber kann dem Roman die Arbeit der Verknüpfung von Seelenwelt und postsozialistisscher Warenwelt nicht abnehmen. Denn Chwin ist leider nicht Simenon gefolgt, dem großen Lehrmeister einer Prosa des beiläufigen Unglücks, sondern dem Willen zur Kunst. LOTHAR MÜLLER
STEFAN CHWIN: Der goldene Pelikan. Roman. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Carl Hanser Verlag, München 2005. 302 Seiten, 19,90 Euro.
STEFAN CHWIN: Stätten des Erinnerns. Dresdner Poetikvorlesung 2000. Aus dem Polnischen übersetzt von Sylvia Miodona, Alfred Sproede und Bogumila Partyk-Hirschberger. Mit einer Einleitung von Roland Erb, einem Nachwort und einer Bibliographie von Alfred Sproede. Thelem Universitätsverlag, Dresden 2005. 218 Seiten, 12, 80 Euro.
Die restaurierte Danziger Marienkirche im Jahre 1961
Foto: Alfred Strobel
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Schon in seinem Roman "Tod in Danzig" von 1995 habe Stefan Chwin von seiner Heimatstadt Danzig erzählt, weiß Rezensent Lothar Müller. In den Dresdner Poetikvorlesungen gebe er nun sowohl einen kurzen Abriss der Wiederaufbaugeschichte Danzigs nach 1945 als auch Erläuterungen zu seiner "Privatarchäologie". Darunter versteht der Rezensent zum einen Chwins Trojaisierung Danzigs, in deren Sedimenten die ganz große Geschichte lesbar sei, und zum anderen die Verbindung solcher Weltgeschichte mit der Privatgeschichte und Geburtsstunde des Romanciers Stefan Chwin. Die Mutter des Autors helfe nämlich noch vor dessen Geburt als Sanitäterin einem deutschen Soldaten, obwohl sie tags zuvor Massenerschießungen von Zivilisten gesehen hatte. Wer nun, behauptet der Rezensent, die Romane Chwins kenne, kenne auch dessen "Willen zur großen Kunst", für den die "Privatarchäologie" der Poetikvorlesungen eine Art mythologisierende Vorarbeit darstellten.

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