Nichts ist geheimnisvoller für uns Menschen, als unter die Erdoberfläche zu schauen: Die Höhlen, die Bergwerke, die Abraume - alles eine verwunschene Landschaft, die die Phantasie bewegt. Aber nicht selten können solche Sehnsuchtsorte auch mit viel Schmerz, mit Verlust und mit Beschädigungen der menschlichen Würde verbunden sein. Und davon erzählt Clemens Meyer in seinem neuen Buch. Und, wie immer bei ihm, mit zum Teil ungehörigen Wendungen und unvermuteten Ausgängen.Der Ausgabe sind atmosphärisch gefärbte Bilder des renommierten Fotografen Bertram Kober beigegeben. Nicht die Erzählungen zu illustrieren, war seine Absicht, sondern der literarischen Stimme einen weiteren Echoraum zu geben.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Nicole Henneberg nimmt Clemens Meyer den angry young Schriftsteller ab. Wie Meyer sich mit existenziellem Schreiben gegen Wohlfühlliteratur positioniert, findet sie nicht nur glaubwürdig, sondern auch unterhaltsam. Über seine poetologische Position klärt der Autor die Rezensentin in einem Essay auf, die Praxis liefern die drei ebenso im Band enthaltenen drei Kurzgeschichten. Meyer kann Räume und Figurenkonstellationen mit wenigen Strichen genau vermitteln, meint Henneberg, er erkundet "hochkonzentriert" Tiefenschichten seiner Figuren und entwirft Zeitbilder. So muss Literatur sein, findet die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.11.2021Ans Ende der Nacht und verwandelt zurück
Der archäologische Blick des Autors: Mit seinem packenden Erzählungsband "Stäube" sucht Clemens Meyer im Untergrund Glücksmomente und Enttäuschungen der ostdeutschen Vergangenheit.
Ein Mann steigt aus einem Zug. Es ist Heiligabend, er geht auf das einsame Bahnhofsgebäude zu, schaut durch das Fenster in die Gaststätte und sieht einen Jungen, der verzweifelt auf einen alten Mann einredet. Clemens Meyer schildert diese Szene und den dazugehörigen Raum so präzise und eindringlich, dass sofort ein düster leuchtendes Bild vor unseren Augen entsteht - es erinnert in seiner Melancholie an Edward Hoppers Gemälde.
"Die Glocken" heißt diese Geschichte, sie eröffnet den schmalen, hochkonzentrierten und sehr persönlichen Erzählband "Stäube". Seine drei Kurzgeschichten werden abgerundet von einem biographischen Essay, in dem der Schriftsteller, aufgewachsen in einer christlich geprägten Familie in Halle und seit frühester Jugend leidenschaftlicher Leser, erzählt, wie er zu dem wurde, der er heute ist. Als Lieblingsfeindin hat er sich hier seine gleichaltrige englische Kollegin Zadie Smith erwählt, die ihr Schriftstellerleben entspannt genießt, der es Spaß macht, zu schreiben, und die ihre Tätigkeit mit dem fröhlichen Backen von Bananenbrot vergleicht.
"Vielleicht arbeite ich ja in einem anderen Universum", entgegnet Meyer empört, in dem "Heizer schreiben, Figuren wie Bräunig aus der Wismut steigen, Franziska Linkerhand auf den Baustellen ihre Illusionen von einem neuen guten Land verlieren, wo Brüche Montage sind, das Ringen um Stoff und Form zu spüren ist." Er bekennt sich als existenzieller Autor, der beim Schreiben keine Wahl hat, was die Stoffe angeht, und der in seinen Texten die Ränder und Abgründe des Menschlichen zu ergründen versucht. Das nennt er seinen "archäologischen Blick", mit dem er lebt, seit sein Großvater, der Bergmann, ihn für unterirdische Stollen und die "Königin der Tiefe" begeisterte.
In der zentralen Geschichte des Bandes durchwandert, genauer: durchkriecht ein Mann immer wieder die unterirdische Welt, seien es Keller unter Städten oder stillgelegte Bergwerke. Zeit- und Erinnerungsebenen verrutschen und vermischen sich, wie in Fieberträumen, immer wieder werden Rettungstrupps nach ihm ausgeschickt, denen er entflieht. Er versucht nicht nur in die Unterwelt einzudringen - mit all ihren mythologischen Implikationen -, sondern auch in die Tiefen seines Bewusstseins und der Sprache. Das liest sich eindrucksvoll und verstörend, aber auch mitreißend, denn Meyer versucht nichts weniger, als ein Zeitbild zu entwerfen, von den Neunzigerjahren bis heute. Die Missverständnisse und Abstürze, die winzigen Glücksmomente und die vielen enttäuschten Hoffnungen seiner Generation, der in den Siebzigerjahren in der DDR Geborenen, geistern durch die Stollen und Schächte wie "verirrtes Licht", das den Kriechenden, zuletzt durch Steinschlag schwer Verwundeten, narrt und vorwärts lockt. Ein dunkles Märchen erzählt der Autor, von einem, der auszog, das Leben und Lieben und Vergessen zu lernen, und in unbekannten Welten aufwacht, im Krieg irgendwo, in einem Keller, in einem unterirdischen Militärcamp, doch immer gelingt es ihm, weiterzukommen. In seinen Abenteuern spielt die Realität eine ganz eigene, subversive Rolle, als würde der Kriechende in einen zerbrochenen Spiegel schauen, in dem immer neue Zerrbilder erscheinen.
Das einzig Tröstliche sind seine Wahrnehmungen, sein Tast- und Geruchssinn, er spürt das Pulsieren der Steine unter seiner Hand, schmeckt das Wasser. Die eindrucksvollen Fotografien von Bertram Kober zeigen die Räume dieser Geschichten, auch die aufgerissene Erde und die Schaufelbagger des Braunkohletagebaus. Zerstörte Welt und Zauberwelt in einem sind diese Räume an der Schwelle zwischen Ober- und Unterwelt, und so heißt eine Geschichte "Wo die Drachen wohnen": Sie handelt von einem durch den Tagebau zerstörten Dorf, in das die kindliche Erzählerin wegen des Geruchs immer wieder zurückkehrt. "Es gibt so viele verschiedene Sorten Staub, ganz feinen weißen, auch schwarzen aus Kohle, mancher schmeckt bitter, anderer süß, als ich ganz klein war, kannte ich sie alle." Jetzt führt sie Touristen durch Zwickau, zeigt ihnen die Orte, an denen Uwe Mundlos und Beate Zschäpe lebten, ansonsten hängt sie mit ihrer gewalttätigen Clique am Hauptbahnhof herum und sorgt sich um deren Opfer.
Als angehender Schriftsteller hat sich Clemens Meyer gerne als angry young man stilisiert, während seines Studiums am Leipziger Literaturinstitut musste er eine Strafe in der Jugendarrestanstalt Zeithain absitzen. Als die Mauer fiel, war er achtzehn und beobachtete in den folgenden Jahren mit verzweifelter Sorge die Selbstzerstörung seiner Freunde, davon erzählt er in seinem Debüt "Als wir träumten" (2006). Schon damals war sein Ideal eine existenzielle Literatur, die etwas wagt, eine radikale, artifizielle Form des Realismus, die keine Berührungsängste mit Surrealem und Märchenhaftem hat, eine vielschichtige Reise ans Ende der Nacht und zurück an ihren Anfang ("Wozu Literatur?" Ein Nachsatz). Was er sich vorgenommen hat für die Geschichte "Dem Grund zu" - einen Mann in einem Raum zu zeigen, in seiner ganzen Körperlichkeit, "der den Raum gefüllt mit seinem Leben, seinem Sterben" -, das ist ihm mit Bravour gelungen. Dazu gibt es Literatur, könnte man hinzufügen, denn "Bananenbrote haben wir doch genug". NICOLE HENNEBERG.
Clemens Meyer: "Stäube".
Mit Fotografien von Bertram Kober. Verlag Faber & Faber, Leipzig 2021.
128 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der archäologische Blick des Autors: Mit seinem packenden Erzählungsband "Stäube" sucht Clemens Meyer im Untergrund Glücksmomente und Enttäuschungen der ostdeutschen Vergangenheit.
Ein Mann steigt aus einem Zug. Es ist Heiligabend, er geht auf das einsame Bahnhofsgebäude zu, schaut durch das Fenster in die Gaststätte und sieht einen Jungen, der verzweifelt auf einen alten Mann einredet. Clemens Meyer schildert diese Szene und den dazugehörigen Raum so präzise und eindringlich, dass sofort ein düster leuchtendes Bild vor unseren Augen entsteht - es erinnert in seiner Melancholie an Edward Hoppers Gemälde.
"Die Glocken" heißt diese Geschichte, sie eröffnet den schmalen, hochkonzentrierten und sehr persönlichen Erzählband "Stäube". Seine drei Kurzgeschichten werden abgerundet von einem biographischen Essay, in dem der Schriftsteller, aufgewachsen in einer christlich geprägten Familie in Halle und seit frühester Jugend leidenschaftlicher Leser, erzählt, wie er zu dem wurde, der er heute ist. Als Lieblingsfeindin hat er sich hier seine gleichaltrige englische Kollegin Zadie Smith erwählt, die ihr Schriftstellerleben entspannt genießt, der es Spaß macht, zu schreiben, und die ihre Tätigkeit mit dem fröhlichen Backen von Bananenbrot vergleicht.
"Vielleicht arbeite ich ja in einem anderen Universum", entgegnet Meyer empört, in dem "Heizer schreiben, Figuren wie Bräunig aus der Wismut steigen, Franziska Linkerhand auf den Baustellen ihre Illusionen von einem neuen guten Land verlieren, wo Brüche Montage sind, das Ringen um Stoff und Form zu spüren ist." Er bekennt sich als existenzieller Autor, der beim Schreiben keine Wahl hat, was die Stoffe angeht, und der in seinen Texten die Ränder und Abgründe des Menschlichen zu ergründen versucht. Das nennt er seinen "archäologischen Blick", mit dem er lebt, seit sein Großvater, der Bergmann, ihn für unterirdische Stollen und die "Königin der Tiefe" begeisterte.
In der zentralen Geschichte des Bandes durchwandert, genauer: durchkriecht ein Mann immer wieder die unterirdische Welt, seien es Keller unter Städten oder stillgelegte Bergwerke. Zeit- und Erinnerungsebenen verrutschen und vermischen sich, wie in Fieberträumen, immer wieder werden Rettungstrupps nach ihm ausgeschickt, denen er entflieht. Er versucht nicht nur in die Unterwelt einzudringen - mit all ihren mythologischen Implikationen -, sondern auch in die Tiefen seines Bewusstseins und der Sprache. Das liest sich eindrucksvoll und verstörend, aber auch mitreißend, denn Meyer versucht nichts weniger, als ein Zeitbild zu entwerfen, von den Neunzigerjahren bis heute. Die Missverständnisse und Abstürze, die winzigen Glücksmomente und die vielen enttäuschten Hoffnungen seiner Generation, der in den Siebzigerjahren in der DDR Geborenen, geistern durch die Stollen und Schächte wie "verirrtes Licht", das den Kriechenden, zuletzt durch Steinschlag schwer Verwundeten, narrt und vorwärts lockt. Ein dunkles Märchen erzählt der Autor, von einem, der auszog, das Leben und Lieben und Vergessen zu lernen, und in unbekannten Welten aufwacht, im Krieg irgendwo, in einem Keller, in einem unterirdischen Militärcamp, doch immer gelingt es ihm, weiterzukommen. In seinen Abenteuern spielt die Realität eine ganz eigene, subversive Rolle, als würde der Kriechende in einen zerbrochenen Spiegel schauen, in dem immer neue Zerrbilder erscheinen.
Das einzig Tröstliche sind seine Wahrnehmungen, sein Tast- und Geruchssinn, er spürt das Pulsieren der Steine unter seiner Hand, schmeckt das Wasser. Die eindrucksvollen Fotografien von Bertram Kober zeigen die Räume dieser Geschichten, auch die aufgerissene Erde und die Schaufelbagger des Braunkohletagebaus. Zerstörte Welt und Zauberwelt in einem sind diese Räume an der Schwelle zwischen Ober- und Unterwelt, und so heißt eine Geschichte "Wo die Drachen wohnen": Sie handelt von einem durch den Tagebau zerstörten Dorf, in das die kindliche Erzählerin wegen des Geruchs immer wieder zurückkehrt. "Es gibt so viele verschiedene Sorten Staub, ganz feinen weißen, auch schwarzen aus Kohle, mancher schmeckt bitter, anderer süß, als ich ganz klein war, kannte ich sie alle." Jetzt führt sie Touristen durch Zwickau, zeigt ihnen die Orte, an denen Uwe Mundlos und Beate Zschäpe lebten, ansonsten hängt sie mit ihrer gewalttätigen Clique am Hauptbahnhof herum und sorgt sich um deren Opfer.
Als angehender Schriftsteller hat sich Clemens Meyer gerne als angry young man stilisiert, während seines Studiums am Leipziger Literaturinstitut musste er eine Strafe in der Jugendarrestanstalt Zeithain absitzen. Als die Mauer fiel, war er achtzehn und beobachtete in den folgenden Jahren mit verzweifelter Sorge die Selbstzerstörung seiner Freunde, davon erzählt er in seinem Debüt "Als wir träumten" (2006). Schon damals war sein Ideal eine existenzielle Literatur, die etwas wagt, eine radikale, artifizielle Form des Realismus, die keine Berührungsängste mit Surrealem und Märchenhaftem hat, eine vielschichtige Reise ans Ende der Nacht und zurück an ihren Anfang ("Wozu Literatur?" Ein Nachsatz). Was er sich vorgenommen hat für die Geschichte "Dem Grund zu" - einen Mann in einem Raum zu zeigen, in seiner ganzen Körperlichkeit, "der den Raum gefüllt mit seinem Leben, seinem Sterben" -, das ist ihm mit Bravour gelungen. Dazu gibt es Literatur, könnte man hinzufügen, denn "Bananenbrote haben wir doch genug". NICOLE HENNEBERG.
Clemens Meyer: "Stäube".
Mit Fotografien von Bertram Kober. Verlag Faber & Faber, Leipzig 2021.
128 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main