Unter Stalin wurden in den 30er Jahren mehr als eine Million Sowjetbürger umgebracht, Millionen andere starben durch Zwangsarbeit, Deportation, Hungersnot, Lagerhaft oder während Folterverhören. Diese Verbrechen galten zu Zeiten des Kalten Krieges nicht als Genozid. Die hohen Ideale für die Stalin angeblich gekämpft hatte, verhinderten eine Auseinandersetzung. Zudem galt diese Verfolgung der eigenen Bevölkerung als Teil der Kriegsvorbereitung; der Ausgang des Zweiten Weltkriegs schien dieses Vorgehen zu rechtfertigen. Auch nach internationalem Recht galt der Mord an sozialen oder politischen Minderheiten nicht als Genozid.Norman Naimark erweitert die Kriterien für den Genozid - die UN-Konventionen von 1948 waren unter großem sowjetischen Einfluss entstanden - und kann so darlegen, daß der von Stalin befohlene Massenmord ein Genozid war. Er erzählt die erschütternden Geschichten der systematischen Vernichtung. Er betrachtet die Unterwerfung und Auslöschung der sogenannten Kulaken, den Holodomor, also die Ermordung durch Hunger in der Ukraine, die Unterdrückung und Ermordung von "Volksfeinden" und die Große Säuberung zwischen 1936 und 1938. Und er kommt zu dem Schluß, daß der Genozid - ähnlich wie der Holocaust - nicht ohne die Figur des charismatischen Diktators möglich war.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Kritisch geht Rezensent Detlev Claussen mit Norman M. Naimarks Studie "Stalin und der Genozid" ins Gericht. Der Versuch des in Stanford Osteuropäische Geschichte lehrenden Autors, die sowjetischen Massenmorde mit der Person Stalins zu erklären, analog der Erklärung des Holocausts mit Hitler, überzeugt ihn in keiner Weise. Er hält dem Autor vor, die größten Verbrechen des 20. Jahrhunderts - Auschwitz und den Gulag - unter einem extrem weit gefassten Begriff des Genozids zusammenzuzwingen, der sich von jeder sinnvollen Bezeichnung für Völkermord entfernt. Claussen spricht von einer Erweiterung des Begriffs ins "nichtssagende Allgemeine". Generell wirft er Naimark vor, sich "primitivster Mittel" zu bedienen, um diese unbegreiflichen Verbrechen einer breiten Öffentlichkeit darzustellen. Vor allem bemängelt Claussen einen vulgärpsychologisch untermauerten Personalismus des Autors, der alles auf Stalins Psyche zurückführe, die gesellschaftlichen Kräfte, Strukturen und Realitäten in der Sowjetunion aber ignoriere.
© Perlentaucher Medien GmbH
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