Der Ingenieur war der "neue Mensch", der im Idealbild der Bolschewiki die Sowjetunion bevölkern sollte. Er sollte nicht nur das Land industrialisieren, sondern ein neues Leben und Arbeiten schaffen. Schattenberg widmet sich der ersten Generation sowjetischer Ingenieure, die ausgebildet wurde, um in den dreißiger Jahren das Land aufzubauen. Auf der Basis von Memoiren erforscht sie, in welchen Kategorien die Ingenieure selbst ihr Leben wahrnahmen. Stimmte es mit den Vorgaben der Propaganda überein? Wo waren die Abweichungen zu groß? Sie analysiert, warum sich die Sprösslinge der alten, verfolgten Elite genauso wie die Arbeiterkinder für die Industrialisierung begeisterten, welche Ansprüche sie an ihre Leben stellten und wie es ihnen schließlich gelang, den selbst erfahrenen Terror so zu verarbeiteten, dass sie weiterhin an "ihre" Sowjetunion glauben konnten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.02.2003Aufbruch und Absturz des neuen Menschen
Jede Havarie produziert den Verdacht der Sabotage: Susanne Schattenberg untersucht die Rolle der Ingenieure im Stalinismus
In den letzten Jahren hat sich die Geschichtsschreibung zur osteuropäischen Zeitgeschichte langsam aus den Schematismen des Kalten Krieges befreit. Seit die Archive der Sowjetunion mit gewissen Einschränkungen zugänglich sind, konnten die vor 1989 oft spekulativ gebliebenen Ergebnisse westlicher Forschung überprüft und zurechtgerückt werden. Dabei sind Sensationen aus den „Geheimverliesen des Kreml” zwar weitgehend ausgeblieben. Doch gerade sozial- und kulturgeschichtliche Studien leisten jetzt echte Pionierarbeit. Denn nirgendwo lassen sich die historischen Mahlgeräusche zwischen gewachsenen Strukturen und den idealistischen Zukunftsvisionen des 20. Jahrhunderts deutlicher vernehmen als beim „Projekt” Sowjetunion.
Susanne Schattenbergs Untersuchung über die Lebenswelten der sowjetischen Ingenieure in den 1930er Jahren schildert die Geschichte eines Berufsstandes, der in der prägenden Formierungsphase der Sowjetunion außergewöhnlich bedeutsam war. Denn die zaristische Rückständigkeit sollte nach der Oktoberrevolution rasch überwunden und die sozialistische Gesellschaft vor allem durch eine massive Technisierung aufgebaut werden. Die älteren, noch bürgerlich sozialisierten Ingenieure stellten der jungen Sowjetunion ihre Dienste durchaus bereitwillig zur Verfügung, schien diese doch zunächst eine technokratisch anmutende Politik zu verfolgen. Als Ende der 1920er Jahre ideologische Vorgaben an Bedeutung gewannen, wurden sie, oft unter dem Vorwand der „Sabotage”, durch eine jüngere Generation von Technikern ersetzt. Die Autorin beschreibt eindringlich, wie dieser idealistisch beseelte Nachwuchs bereits als eine politische Funktionselite für gesellschaftliche Schlüsselpositionen im realen Sozialismus erzogen worden war.
Die Helden der Zeitverdichtung
Die Darstellung verweist über die Geschichte der Sowjetunion hinaus. Denn Ingenieure sind für die gewaltige Dynamik alltäglicher Lebensveränderung weltweit von höchster Bedeutung gewesen. Nicht nur die Technik selbst, auch die Techniker und ihre spezifische Weltsicht haben sich im 20. Jahrhundert weitgehend unabhängig von ideologischen Systemen entwickelt. Dabei haben sie immer wieder auch totalitäre oder diktatorische Systeme unterstützt oder sich von ihnen einbinden lassen. Für das nationalsozialistische Deutschland würde man sich eine vergleichbare Studie wünschen, die den internationalen Charakter dieses Berufsstandes im Auge behält und den Zwiespalt zwischen der Begeisterung für technisch-soziale Großtaten und terroristischer Verfolgung beschreibt.
Doch gab es in der Sowjetunion auch Besonderheiten. Hier wurde der Gleichklang zwischen technischen und sozialen Entwicklungen als ein besonders inniger gesehen. Baustellen wurden zu Sinnbildern des „Aufbruchs” und Ingenieure zu symbolträchtigen „Erbauern” der sozialistischen Gesellschaft. Gerade die 1930er Jahre waren dabei durch einen Grundton der Gewaltsamkeit und Unduldsamkeit geprägt. Denn die Sowjetunion war bemüht, in möglichst kurzer Zeit gegenüber den konkurrierenden USA einen gewaltigen Rückstand aufzuholen. Ingenieure sollten „die Zeit verdichten”, und von der Propaganda wurden sie zu Helden einer neuen Zeit stilisiert, aber auch zu Musterfällen des „neuen Menschen” im Sozialismus.
Da auf den zahlreichen Großbaustellen jedoch allenthalben improvisiert werden musste und es daher zu vielen Havarien kam, kehrte sich der Sabotagevorwurf in den späten 1930er Jahren schließlich auch gegen die jüngere Ingenieurs-Generation. Schattenberg zeigt, wie sich nach der technokratischen Aufbruchsphase nun zunehmend der Primat des Politischen bemerkbar machte, der nach technischer und ökonomischer Effizienz kaum noch fragte. Damit wurden erste Vorzeichen der Stagnation sichtbar, welche die letzten Jahrzehnte der Sowjetunion so nachhaltig prägen sollte. Es ist ein Kernthema der Darstellung, wie die meisten Ingenieure darum bemüht waren, biographische Brüche, die Standesehre und das Ziel einer umfassend industrialisierten Gesellschaft auch unter ungünstiger werdenden Vorzeichen miteinander zu vereinbaren.
Das Buch variiert ein historisches Leitmotiv des 20. Jahrhunderts. Neben der differenzierten Deutung der sowjetischen Lebenswelt wird eine großartige Materialfülle geboten, auch mit pointiert ausgewerteten Filmen, Autobiografien und Interviews. Es liest sich weitgehend ermüdungsfrei, wenn auch auf jeder Seite von den unendlichen Strapazen einer – oft vergeblich gebliebenen – Aufbauarbeit berichtet wird.
DIRK VAN LAAK
SUSANNE SCHATTENBERG: Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren. Oldenbourg Verlag München 2002. 457 Seiten, 49,80 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Jede Havarie produziert den Verdacht der Sabotage: Susanne Schattenberg untersucht die Rolle der Ingenieure im Stalinismus
In den letzten Jahren hat sich die Geschichtsschreibung zur osteuropäischen Zeitgeschichte langsam aus den Schematismen des Kalten Krieges befreit. Seit die Archive der Sowjetunion mit gewissen Einschränkungen zugänglich sind, konnten die vor 1989 oft spekulativ gebliebenen Ergebnisse westlicher Forschung überprüft und zurechtgerückt werden. Dabei sind Sensationen aus den „Geheimverliesen des Kreml” zwar weitgehend ausgeblieben. Doch gerade sozial- und kulturgeschichtliche Studien leisten jetzt echte Pionierarbeit. Denn nirgendwo lassen sich die historischen Mahlgeräusche zwischen gewachsenen Strukturen und den idealistischen Zukunftsvisionen des 20. Jahrhunderts deutlicher vernehmen als beim „Projekt” Sowjetunion.
Susanne Schattenbergs Untersuchung über die Lebenswelten der sowjetischen Ingenieure in den 1930er Jahren schildert die Geschichte eines Berufsstandes, der in der prägenden Formierungsphase der Sowjetunion außergewöhnlich bedeutsam war. Denn die zaristische Rückständigkeit sollte nach der Oktoberrevolution rasch überwunden und die sozialistische Gesellschaft vor allem durch eine massive Technisierung aufgebaut werden. Die älteren, noch bürgerlich sozialisierten Ingenieure stellten der jungen Sowjetunion ihre Dienste durchaus bereitwillig zur Verfügung, schien diese doch zunächst eine technokratisch anmutende Politik zu verfolgen. Als Ende der 1920er Jahre ideologische Vorgaben an Bedeutung gewannen, wurden sie, oft unter dem Vorwand der „Sabotage”, durch eine jüngere Generation von Technikern ersetzt. Die Autorin beschreibt eindringlich, wie dieser idealistisch beseelte Nachwuchs bereits als eine politische Funktionselite für gesellschaftliche Schlüsselpositionen im realen Sozialismus erzogen worden war.
Die Helden der Zeitverdichtung
Die Darstellung verweist über die Geschichte der Sowjetunion hinaus. Denn Ingenieure sind für die gewaltige Dynamik alltäglicher Lebensveränderung weltweit von höchster Bedeutung gewesen. Nicht nur die Technik selbst, auch die Techniker und ihre spezifische Weltsicht haben sich im 20. Jahrhundert weitgehend unabhängig von ideologischen Systemen entwickelt. Dabei haben sie immer wieder auch totalitäre oder diktatorische Systeme unterstützt oder sich von ihnen einbinden lassen. Für das nationalsozialistische Deutschland würde man sich eine vergleichbare Studie wünschen, die den internationalen Charakter dieses Berufsstandes im Auge behält und den Zwiespalt zwischen der Begeisterung für technisch-soziale Großtaten und terroristischer Verfolgung beschreibt.
Doch gab es in der Sowjetunion auch Besonderheiten. Hier wurde der Gleichklang zwischen technischen und sozialen Entwicklungen als ein besonders inniger gesehen. Baustellen wurden zu Sinnbildern des „Aufbruchs” und Ingenieure zu symbolträchtigen „Erbauern” der sozialistischen Gesellschaft. Gerade die 1930er Jahre waren dabei durch einen Grundton der Gewaltsamkeit und Unduldsamkeit geprägt. Denn die Sowjetunion war bemüht, in möglichst kurzer Zeit gegenüber den konkurrierenden USA einen gewaltigen Rückstand aufzuholen. Ingenieure sollten „die Zeit verdichten”, und von der Propaganda wurden sie zu Helden einer neuen Zeit stilisiert, aber auch zu Musterfällen des „neuen Menschen” im Sozialismus.
Da auf den zahlreichen Großbaustellen jedoch allenthalben improvisiert werden musste und es daher zu vielen Havarien kam, kehrte sich der Sabotagevorwurf in den späten 1930er Jahren schließlich auch gegen die jüngere Ingenieurs-Generation. Schattenberg zeigt, wie sich nach der technokratischen Aufbruchsphase nun zunehmend der Primat des Politischen bemerkbar machte, der nach technischer und ökonomischer Effizienz kaum noch fragte. Damit wurden erste Vorzeichen der Stagnation sichtbar, welche die letzten Jahrzehnte der Sowjetunion so nachhaltig prägen sollte. Es ist ein Kernthema der Darstellung, wie die meisten Ingenieure darum bemüht waren, biographische Brüche, die Standesehre und das Ziel einer umfassend industrialisierten Gesellschaft auch unter ungünstiger werdenden Vorzeichen miteinander zu vereinbaren.
Das Buch variiert ein historisches Leitmotiv des 20. Jahrhunderts. Neben der differenzierten Deutung der sowjetischen Lebenswelt wird eine großartige Materialfülle geboten, auch mit pointiert ausgewerteten Filmen, Autobiografien und Interviews. Es liest sich weitgehend ermüdungsfrei, wenn auch auf jeder Seite von den unendlichen Strapazen einer – oft vergeblich gebliebenen – Aufbauarbeit berichtet wird.
DIRK VAN LAAK
SUSANNE SCHATTENBERG: Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren. Oldenbourg Verlag München 2002. 457 Seiten, 49,80 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dirk van Laak ist sehr angetan von dieser Studie über die Ingenieure im Stalinismus. Er lobt die Autorin für ihre "eindringliche" Schilderung des Idealismus, der die Nachwuchsingenieure unter Stalin antrieb, um das technische Defizit der Sowjetunion zu überwinden. Dabei geht die Untersuchung für den Rezensenten über den Rahmen der Sowjetunion hinaus, da die Ingenieure, wie er ausführt, für die "gewaltige Dynamik alltäglicher Lebensverhältnisse" auch anderswo eine maßgebliche Rolle spielten. Dennoch hatten die Ingenieure in der Sowjetunion durchaus eine "Sonderrolle", räumt Van Laak ein, und er lobt die Autorin dafür, in ihrem Buch herauszuarbeiten, dass besonders dieser Berufsstand unter dem "Primat des Politischen" stand und die "Effizienz" ihrer Tätigkeiten zunehmend in den Hintergrund trat. Der Rezensent ist beeindruckt von der "großartigen Materialfülle", die Schattenberg in ihrem Buch verarbeitet hat, wobei ihm besonders gefällt, dass sie auch Filme, Autobiografien und Interviews herangezogen und "pointiert gedeutet" hat. Dass die Lektüre "weitgehend ermüdungsfrei" war, weiß der Rezensent auch zu schätzen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"This book, written with great literary qualities, is a fascinating account of everyday Stalinism seen through the eyes of Soviet engineers." (Rosalinde Sartori in: Russian Review, Vol. 63/4 (Oktober) 2004)"Unser Wissen über Stalins Terrorregime der späten dreißiger Jahre kann durch die Nachzeichnung von biographischen Einzelschicksalen vervollständigt werden. Dies leistet Schattenbergs herausragende gesellschaftgeschichtliche Studie der Berufsgruppe sowjetischer Ingenieure in beeindruckender Weise." (Georg Wagner-Kyora in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 91,4/ 2004)
"Unser Wissen über Stalins Terrorregime der späten dreißiger Jahre kann durch die Nachzeichnung von biographischen Einzelschicksalen vervollständigt werden. Dies leistet Schattenbergs herausragende gesellschaftgeschichtliche Studie der Berufsgruppe sowjetischer Ingenieure in beeindruckender Weise." (Georg Wagner-Kyora in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 91,4/ 2004)"This book, written with great literary qualities, is a fascinating account of everyday Stalinism seen through the eyes of Soviet engineers." (Rosalinde Sartori in: Russian Review, Vol. 63/4 (Oktober) 2004)