Ein furioser Roman über ein in der Literatur nicht beachtetes Thema Anna hat alles im Griff. Sie dient einer »Herrin«, der Bulimie, denn es gibt nichts Wichtigeres für sie, als einen vollkommenen Körper zu besitzen und unangreifbar zu sein.Annas Eltern trennen sich, als ihre Mutter Katariina herausfindet, dass ihr Mann sie betrügt. Sie, die Estin, verleugnet ihre Herkunft, weil sie weiß, welch schlechtes Ansehen Estinnen in Finnland haben - sie gelten als russische Huren, die es geschafft haben, durch Heirat nach Finnland zu entkommen. Aus Angst, dass ihrer Tochter die gleiche Verachtung zuteil wird wie ihr, darf diese die Sprache nicht lernen und keinem sagen, woher die Mutter stammt. Dabei fahren die beiden regelmäßig nach Estland, um die Familie zu unterstützen, die das Grauen der sowjetischen Arbeitslager kennenlernte und unter den Bespitzelungen und Erpressungen durch enge Vertraute litt. Während Anna um ihr Gewicht kämpft und lernen muss, dass sie wirklich krank ist und die anorektische Bulimie sie umbringen kann, erfährt der Leser die Hintergründe der Familiengeschichte, Ursache für Annas Leiden, die bis in die Zeit der Besetzung Estlands nach dem Zweiten Weltkrieg zurückreicht.In brillanter Sprache, mit genauer Kenntnis der historischen Hintergründe und einer meisterhaften Komposition beweist Sofi Oksanen erneut, warum ihre Romane weltweit gefeiert werden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Gemeinheit!, ruft Frauke Meyer-Gosau nach 400 Seiten geduldiger Lektüre des im Original 2003 erschienenen Romans der finnischen Erfolgsautorin Sofi Oksanen. Da lässt sich die Rezensentin ein auf einen Ritt durch die finnisch-estnischen Beziehungen anhand einer mehrere Generationen umfassenden Familiengeschichte, erträgt die ausgiebige Darstellung der Bulimie-Erkrankung der Heldin, und dann? Am Ende muss sie erkennen, dass die Autorin nur eins im Sinn hat, nämlich die Erklärung der Erkrankung mit der länderübergreifenden Familiengeschichte. Für ein so dickes Buch und eine so begabte Autorin ist das ein bisschen dünn, schimpft Meyer-Gosau, zumal Oksanen sich nicht mal die Mühe macht, die Zusammenhänge näher zu erläutern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2012Bulimie und Besatzung
In ihrem Romandebüt „Stalins Kühe“ aus dem Jahr 2003 verrät Sofi Oksanen ihr großes Talent an den Effekt
Kein Zweifel: Die 1977 im finnischen Jyväskylä geborene Sofi Oksanen ist eine herausragend begabte Schriftstellerin. Ihr Roman „Fegefeuer“, der vor zwei Jahren mit großem Erfolg in Deutschland erschien, wurde in 38 Sprachen übersetzt und mit nationalen wie internationalen Preisen ausgezeichnet. Nun folgt diesem Buch über die russisch-estnische Gewaltgeschichte die deutsche Übersetzung von Sofi Oksanens 2003 erschienenem Erstling „Stalins Kühe“. Auch darin geht es um Estland in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, ebenso aber um die Finnen und deren Verhältnis zu den Esten, namentlich zu den estnischen Frauen.
Sofi Oksanen selbst stammt aus einer estnisch-finnischen Ehe – die Mutter ist eine estnische Diplom-Ingenieurin, der Vater einer finnischer Elektriker –, und man darf vermuten, dass die Autorin ziemlich umstandslos auf diese biografische Gegebenheit zurückgegriffen hat, als sie ihre Protagonistin Anna in „Stalins Kühe“ mit derselben Eltern-Konstellation ausstattete. Anfang der Siebzigerjahre lernen sich hier Annas Mutter, die Bauleiterin Katariina, und „der Finne“ (der 480 Romanseiten lang namenlos bleibt) bei einem Tanzvergnügen in Tallinn kennen. Der Finne arbeitet auf der Baustelle eines Hotels, der allerersten Kooperation zwischen finnischen und estnischen Firmen, und es ist bald klar, dass Katariina und er einander wiedersehen werden.
Klar wird aber im Folgenden auch, dass estnische Frauen, die in den Siebzigerjahren Finnen heirateten und mit ihnen nach Finnland gezogen sind, dort als „russische Nutten“ verhöhnt und abgelehnt werden - es ist also geraten, dass diese Frauen ihre Herkunft, so gut es geht, verbergen, und dass sie auch ihren Kindern einprägen, keinesfalls über die estnischen Familienbande zu sprechen. Obwohl Mutter und Tochter häufig mit der Fähre von Helsinki nach Tallinn übersetzen und dort die Tante und die Großmutter besuchen, darf Anna nicht Estnisch lernen (was sie aber, begabt wie sie ist, trotzdem tut) und den anderen Kindern in der finnischen Kleinstadt nichts von den Wurzeln ihrer Mutter verraten. Die aus Furcht selbstgewählte soziale Isolation der Mutter überträgt sich so auf die Tochter, und es ist kein Wunder, dass die sich nur mit einem Mädchen anfreundet, das ebenfalls aus einer finnisch-estnischen Verbindung stammt – und natürlich ist die Mutter schärfstens dagegen.
Es wird in „Stalins Kühe“ aber nicht nur von einer verhinderten sozialen Zugehörigkeit zur westlichen Gesellschaft erzählt, an der die provinziell-selbstgerechten Finnen wie die eingeheiratete Estin gleichermaßen ihren Anteil haben. Während Sofi Oksanen die estnische Geschichte am Beispiel der Großmutter-Familie bis in die Kriegszeit zurückverfolgt, als deutsche und russische Besatzung einander ablösten, und patriotische Esten für die Befreiung ihres Landes von jeglicher Fremdherrschaft kämpften, steht auf der anderen Seite Katariinas Tochter Anna im Zentrum.
Parallel geschaltet in zumeist knappen Szenen werden die zunehmend desaströse Beziehung zwischen Katariina und ihrem Ehemann, estnische Familiengeschichten von Widerstand, Verrat und Verschleppung sowie die Entwicklung des jungen Mädchens, das mit den Jahren an Bulimie in Verbindung mit Anorexie erkrankt. Aus diesem dritten Erzählstrang erwachsen mit der Zeit auch die Probleme des Buches.
Denn zwar werden die familiären wie die politischen Hintergründe von Annas Biografie so prägnant wie sinnlich-eindringlich erzählt. Zwar lässt man es sich lange gefallen, immer wieder in die nicht sehr erfreulichen Prozeduren bei Annas heimlichen Fress- und Kotzorgien hineingezogen zu werden. Auch ihren Männerbeziehungen und deren Auswirkungen auf die Essstörung der hochbegabten Studienabbrecherin, all deren Therapieversuchen und Tablettenabhängigkeiten folgt man mit einiger, nach etwa 400 Seiten freilich dann fühlbar nachlassender Geduld.
Mit der aber ist es endgültig vorbei, als in den schmalen letzten Teilen des Buches klar wird, dass wir es hier mit einem sehr besonderen Narzissmus-Projekt zu tun haben: So zwanghaft, wie Anna ihre sorgfältig ausgewählten Esswaren in sich hineinstopft und sie dann wieder von sich gibt, lässt Sofi Oksanen ihre historischen und gesellschaftspolitischen Erzählstränge einfach auslaufen, die bulimische Anorektikerin aber triumphiert: Sie ist unheilbar!
Das Ärgerlichste daran ist, dass Oksanen suggeriert, Anna, die letztlich am wenigsten interessante, da zunehmend auf ihren gestörten Lust-Haushalt reduzierte Figur, habe ihre psycho-physische Erkrankung aus den beschädigten Vorgeschichten ihrer finnisch-estnischen Familie bezogen. Wie jedoch und wodurch eigentlich, von der besonderen Krankheitslogik also, erfährt der Leser nichts. Hätte sich die Autorin, wenn sie schon auf einer derart steilen These besteht, nicht die Mühe machen können, den Zusammenhang ein wenig zu erhellen?
Dieser Ausgang des historisch, politisch und individualgeschichtlich weit verzweigten, mehr als ein halbes Jahrhundert an Unrechtsgeschichte umgreifenden Romans ist ein großer Jammer. Denn was diese Erzählerin kann, ist unbestreitbar: Lebendiger, einprägsamer, härter (und in Teilen auch komischer) ist von der Entrechtung des Einzelnen lange nicht erzählt worden. Wie sie aber ihre Fähigkeiten missbraucht, um am Ende überraschend eine fatal entgleiste Figur ins Recht zu setzen, ist allein in literarischer Hinsicht unverzeihlich: Es wirkt, als würde dem Leser im Schlussakt vor die Füße gespien, was ihm Hunderte von Seiten als Nahrung für Phantasie, Wissen und Gefühl so verlockend vor Augen gehalten wurde.
FRAUKE MEYER-GOSAU
Sofi Oksanen: Stalins Kühe. Roman. Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 490 Seiten, 22,99 Euro.
Leider setzt die Erzählerin
am Ende eine fatal entgleiste
Figur ins Recht - schade
Sofi Oksanen , geboren 1977, ist eine finnisch-estnische Schriftstellerin und Dramaturgin. Ihr dritter Roman „Fegefeuer“, der 2011 erschien, führte monatelang die finnische Bestsellerliste an und wurde mehrmals ausgezeichnet.
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In ihrem Romandebüt „Stalins Kühe“ aus dem Jahr 2003 verrät Sofi Oksanen ihr großes Talent an den Effekt
Kein Zweifel: Die 1977 im finnischen Jyväskylä geborene Sofi Oksanen ist eine herausragend begabte Schriftstellerin. Ihr Roman „Fegefeuer“, der vor zwei Jahren mit großem Erfolg in Deutschland erschien, wurde in 38 Sprachen übersetzt und mit nationalen wie internationalen Preisen ausgezeichnet. Nun folgt diesem Buch über die russisch-estnische Gewaltgeschichte die deutsche Übersetzung von Sofi Oksanens 2003 erschienenem Erstling „Stalins Kühe“. Auch darin geht es um Estland in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, ebenso aber um die Finnen und deren Verhältnis zu den Esten, namentlich zu den estnischen Frauen.
Sofi Oksanen selbst stammt aus einer estnisch-finnischen Ehe – die Mutter ist eine estnische Diplom-Ingenieurin, der Vater einer finnischer Elektriker –, und man darf vermuten, dass die Autorin ziemlich umstandslos auf diese biografische Gegebenheit zurückgegriffen hat, als sie ihre Protagonistin Anna in „Stalins Kühe“ mit derselben Eltern-Konstellation ausstattete. Anfang der Siebzigerjahre lernen sich hier Annas Mutter, die Bauleiterin Katariina, und „der Finne“ (der 480 Romanseiten lang namenlos bleibt) bei einem Tanzvergnügen in Tallinn kennen. Der Finne arbeitet auf der Baustelle eines Hotels, der allerersten Kooperation zwischen finnischen und estnischen Firmen, und es ist bald klar, dass Katariina und er einander wiedersehen werden.
Klar wird aber im Folgenden auch, dass estnische Frauen, die in den Siebzigerjahren Finnen heirateten und mit ihnen nach Finnland gezogen sind, dort als „russische Nutten“ verhöhnt und abgelehnt werden - es ist also geraten, dass diese Frauen ihre Herkunft, so gut es geht, verbergen, und dass sie auch ihren Kindern einprägen, keinesfalls über die estnischen Familienbande zu sprechen. Obwohl Mutter und Tochter häufig mit der Fähre von Helsinki nach Tallinn übersetzen und dort die Tante und die Großmutter besuchen, darf Anna nicht Estnisch lernen (was sie aber, begabt wie sie ist, trotzdem tut) und den anderen Kindern in der finnischen Kleinstadt nichts von den Wurzeln ihrer Mutter verraten. Die aus Furcht selbstgewählte soziale Isolation der Mutter überträgt sich so auf die Tochter, und es ist kein Wunder, dass die sich nur mit einem Mädchen anfreundet, das ebenfalls aus einer finnisch-estnischen Verbindung stammt – und natürlich ist die Mutter schärfstens dagegen.
Es wird in „Stalins Kühe“ aber nicht nur von einer verhinderten sozialen Zugehörigkeit zur westlichen Gesellschaft erzählt, an der die provinziell-selbstgerechten Finnen wie die eingeheiratete Estin gleichermaßen ihren Anteil haben. Während Sofi Oksanen die estnische Geschichte am Beispiel der Großmutter-Familie bis in die Kriegszeit zurückverfolgt, als deutsche und russische Besatzung einander ablösten, und patriotische Esten für die Befreiung ihres Landes von jeglicher Fremdherrschaft kämpften, steht auf der anderen Seite Katariinas Tochter Anna im Zentrum.
Parallel geschaltet in zumeist knappen Szenen werden die zunehmend desaströse Beziehung zwischen Katariina und ihrem Ehemann, estnische Familiengeschichten von Widerstand, Verrat und Verschleppung sowie die Entwicklung des jungen Mädchens, das mit den Jahren an Bulimie in Verbindung mit Anorexie erkrankt. Aus diesem dritten Erzählstrang erwachsen mit der Zeit auch die Probleme des Buches.
Denn zwar werden die familiären wie die politischen Hintergründe von Annas Biografie so prägnant wie sinnlich-eindringlich erzählt. Zwar lässt man es sich lange gefallen, immer wieder in die nicht sehr erfreulichen Prozeduren bei Annas heimlichen Fress- und Kotzorgien hineingezogen zu werden. Auch ihren Männerbeziehungen und deren Auswirkungen auf die Essstörung der hochbegabten Studienabbrecherin, all deren Therapieversuchen und Tablettenabhängigkeiten folgt man mit einiger, nach etwa 400 Seiten freilich dann fühlbar nachlassender Geduld.
Mit der aber ist es endgültig vorbei, als in den schmalen letzten Teilen des Buches klar wird, dass wir es hier mit einem sehr besonderen Narzissmus-Projekt zu tun haben: So zwanghaft, wie Anna ihre sorgfältig ausgewählten Esswaren in sich hineinstopft und sie dann wieder von sich gibt, lässt Sofi Oksanen ihre historischen und gesellschaftspolitischen Erzählstränge einfach auslaufen, die bulimische Anorektikerin aber triumphiert: Sie ist unheilbar!
Das Ärgerlichste daran ist, dass Oksanen suggeriert, Anna, die letztlich am wenigsten interessante, da zunehmend auf ihren gestörten Lust-Haushalt reduzierte Figur, habe ihre psycho-physische Erkrankung aus den beschädigten Vorgeschichten ihrer finnisch-estnischen Familie bezogen. Wie jedoch und wodurch eigentlich, von der besonderen Krankheitslogik also, erfährt der Leser nichts. Hätte sich die Autorin, wenn sie schon auf einer derart steilen These besteht, nicht die Mühe machen können, den Zusammenhang ein wenig zu erhellen?
Dieser Ausgang des historisch, politisch und individualgeschichtlich weit verzweigten, mehr als ein halbes Jahrhundert an Unrechtsgeschichte umgreifenden Romans ist ein großer Jammer. Denn was diese Erzählerin kann, ist unbestreitbar: Lebendiger, einprägsamer, härter (und in Teilen auch komischer) ist von der Entrechtung des Einzelnen lange nicht erzählt worden. Wie sie aber ihre Fähigkeiten missbraucht, um am Ende überraschend eine fatal entgleiste Figur ins Recht zu setzen, ist allein in literarischer Hinsicht unverzeihlich: Es wirkt, als würde dem Leser im Schlussakt vor die Füße gespien, was ihm Hunderte von Seiten als Nahrung für Phantasie, Wissen und Gefühl so verlockend vor Augen gehalten wurde.
FRAUKE MEYER-GOSAU
Sofi Oksanen: Stalins Kühe. Roman. Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 490 Seiten, 22,99 Euro.
Leider setzt die Erzählerin
am Ende eine fatal entgleiste
Figur ins Recht - schade
Sofi Oksanen , geboren 1977, ist eine finnisch-estnische Schriftstellerin und Dramaturgin. Ihr dritter Roman „Fegefeuer“, der 2011 erschien, führte monatelang die finnische Bestsellerliste an und wurde mehrmals ausgezeichnet.
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»Prägnant wie sinnlich-eindringlich erzählt. [...] Lebendig, einprägsamer, härter (in Teilen auch komischer) ist von der Entrechtung des Einzelnen lange nicht erzählt worden.« Süddeutsche Zeitung 20121127