Dieses Buch zerstört eine Legende: die vom radikalen Traditionsbruch, wie sie die Avantgarde des 20. Jahrhunderts von sich verbreitet hat. Die Akzeptanz dieser Erfindung schien so unumstößlich, dass die Denkfigur, die darin festgeschrieben ist, bis heute ohne kritischen Einwand blieb. Die Legende von der avantgardistischen Innovation zu analysieren, bedeutet folglich, sie zu zerstören. Den Anstoß dazu gab die Avantgarde selbst mit der Layoutierung ihrer eigenen Vorgeschichte. Geschichtsdiagramme, für die es bislang keinen rechten Begriff, geschweige denn ein bildwissenschaftliches Bewusstsein gab, die jedoch das latente Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Erneuerung vermitteln, bilden das Ausgangsmaterial für diese Untersuchung. Gemeint sind Kunststammbäume. Bei dieser Bildgattung handelt es sich um genealogische Konstruktionen, mit denen Künstler wie Historiker unsere Ansicht und unser Urteilsvermögen über den Verlauf der Kunst nachhaltig prägten. Ihre ikonische Festschreibung von konsekutiven Epochen und ihre diagrammatische Verortung der Maler und Bildhauer brachten System in den Ablauf der Geschichte. Anhand von Verzweigungssystemen machten sie den Verlauf der Entwicklungen anschaulich und setzten zum besseren Verständnis abstrakte Schautafeln und Graphen ein. Mit dem Kunststammbaum als der übergeordneten Kategorie eines heterogenen Phänomens ist also einerseits ein historiographischer Ordnungstypus und andererseits ein Herleitungsmodel in der Art eines Filiationsnachweises gemeint. In den genealogischen Neuordnungen der Vergangenheit kommt das wechselnde Selbstverständnis der Moderne exemplarisch zum Ausdruck. Schon aus diesem Grund ist der Kunststammbaum ein bemerkenswertes Symptom für avanciertes Geschichtsbewusstsein. How has the history of art been made visible, and how is it made visible today? Family trees, diagrams, tables-this book by Astrit Schmidt-Burkhardt looks at the subject from the nineteenth century to today. This book also destroys a legend: the legend of the radical break in tradition that the avantgarde of the twentieth century claimed for itself. This idea was so widely and unequivocally accepted that the category of thinking that it encapsulated has remained unchallenged to this day. Art family trees are genealogical constructions by means of which artists and historians have exerted a lasting influence on the way we perceive and judge the history of art. Their iconical notation of consecutive epochs and diagrammatic positioning of artists brought order to the course of history. The use of a system of branches made it easier to consider complex issues, and so enabled new insights. For these reasons the art genealogy is a remarkable sign of an advanced consciousness of history.
Astrit Schmidt-Burkhardt
Stammbäume der Kunst
Zur Genealogie der Avantgarde
2005. IX, 473 S., 202 schwarz-weiße Abbildungen, br.
ISBN 978-3-05-004066-0
Dieses Buch zerstört eine Legende: die vom radikalen Traditionsbruch, wie sie die Avantgarde des 20. Jahrhunderts von sich verbreitet hat. Die Akzeptanz dieser Erfindung schien so unumstößlich, dass die Denkfigur, die darin festgeschrieben ist, bis heute ohne kritischen Einwand blieb. Die Legende von der avantgardistischen Innovation zu analysieren, bedeutet folglich, sie zu zerstören. Den Anstoß dazu gab die Avantgarde selbst mit der Layoutierung ihrer eigenen Vorgeschichte. Geschichtsdiagramme, für die es bislang keinen rechten Begriff, geschweige denn ein bildwissenschaftliches Bewusstsein gab, die jedoch das latente Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Erneuerung vermitteln, bilden das Ausgangsmaterial für diese Untersuchung.
Gemeint sind Kunststammbäume. Bei dieser Bildgattung handelt es sich um genealogische Konstruktionen, mit denen Künstler wie Historiker unsere Ansicht und unser Urteilsvermögen über den Verlauf der Kunst nachhaltig prägten. Ihre ikonische Festschreibung von konsekutiven Epochen und ihre diagrammatische Verortung der Maler und Bildhauer brachten System in den Ablauf der Geschichte. Anhand von Verzweigungssystemen machten sie den Verlauf der Entwicklungen anschaulich und setzten zum besseren Verständnis abstrakte Schautafeln und Graphen ein. Mit dem Kunststammbaum als der übergeordneten Kategorie eines heterogenen Phänomens ist also einerseits ein historiographischer Ordnungstypus und andererseits ein Herleitungsmodel in der Art eines Filiationsnachweises gemeint. In den genealogischen Neuordnungen der Vergangenheit kommt das wechselnde Selbstverständnis der Moderne exemplarisch zum Ausdruck. Schon aus diesem Grund ist der Kunststammbaum ein bemerkenswertes Symptom für avanciertes Geschichtsbewusstsein.
How has the history of art been made visible, and how is it made visible today? Family trees, diagrams, tables-this book by Astrit Schmidt-Burkhardt looks at the subject from the nineteenth century to today. This book also destroys a legend: the legend of the radical break in tradition that the avantgarde of the twentieth century claimed for itself. This idea was so widely and unequivocally accepted that the category of thinking that it encapsulated has remained unchallenged to this day.
Art family trees are genealogical constructions by means of which artists and historians have exerted a lasting influence on the way we perceive and judge the history of art. Their iconical notation of consecutive epochs and diagrammatic positioning of artists brought order to the course of history. The use of a system of branches made it easier to consider complex issues, and so enabled new insights.
For these reasons the art genealogy is a remarkable sign of an advanced consciousness of history.
Astrit Schmidt-Burkhardt
Stammbäume der Kunst
Zur Genealogie der Avantgarde
2005. IX, 473 S., 202 schwarz-weiße Abbildungen, br.
ISBN 978-3-05-004066-0
Dieses Buch zerstört eine Legende: die vom radikalen Traditionsbruch, wie sie die Avantgarde des 20. Jahrhunderts von sich verbreitet hat. Die Akzeptanz dieser Erfindung schien so unumstößlich, dass die Denkfigur, die darin festgeschrieben ist, bis heute ohne kritischen Einwand blieb. Die Legende von der avantgardistischen Innovation zu analysieren, bedeutet folglich, sie zu zerstören. Den Anstoß dazu gab die Avantgarde selbst mit der Layoutierung ihrer eigenen Vorgeschichte. Geschichtsdiagramme, für die es bislang keinen rechten Begriff, geschweige denn ein bildwissenschaftliches Bewusstsein gab, die jedoch das latente Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Erneuerung vermitteln, bilden das Ausgangsmaterial für diese Untersuchung.
Gemeint sind Kunststammbäume. Bei dieser Bildgattung handelt es sich um genealogische Konstruktionen, mit denen Künstler wie Historiker unsere Ansicht und unser Urteilsvermögen über den Verlauf der Kunst nachhaltig prägten. Ihre ikonische Festschreibung von konsekutiven Epochen und ihre diagrammatische Verortung der Maler und Bildhauer brachten System in den Ablauf der Geschichte. Anhand von Verzweigungssystemen machten sie den Verlauf der Entwicklungen anschaulich und setzten zum besseren Verständnis abstrakte Schautafeln und Graphen ein. Mit dem Kunststammbaum als der übergeordneten Kategorie eines heterogenen Phänomens ist also einerseits ein historiographischer Ordnungstypus und andererseits ein Herleitungsmodel in der Art eines Filiationsnachweises gemeint. In den genealogischen Neuordnungen der Vergangenheit kommt das wechselnde Selbstverständnis der Moderne exemplarisch zum Ausdruck. Schon aus diesem Grund ist der Kunststammbaum ein bemerkenswertes Symptom für avanciertes Geschichtsbewusstsein.
How has the history of art been made visible, and how is it made visible today? Family trees, diagrams, tables-this book by Astrit Schmidt-Burkhardt looks at the subject from the nineteenth century to today. This book also destroys a legend: the legend of the radical break in tradition that the avantgarde of the twentieth century claimed for itself. This idea was so widely and unequivocally accepted that the category of thinking that it encapsulated has remained unchallenged to this day.
Art family trees are genealogical constructions by means of which artists and historians have exerted a lasting influence on the way we perceive and judge the history of art. Their iconical notation of consecutive epochs and diagrammatic positioning of artists brought order to the course of history. The use of a system of branches made it easier to consider complex issues, and so enabled new insights.
For these reasons the art genealogy is a remarkable sign of an advanced consciousness of history.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2005Avantgardisten, auf die Bäume!
Die Tradition der Traditionsüberwinder: Astrit Schmidt-Burkhardts umwälzendes Buch über die Vorhut der Moderne
Selbstbewusster ist die Kunst der Moderne selten bedacht worden. Astrit Schmidt-Burkhardt entwickelt ihre umwälzende Untersuchung zur künstlerischen Avantgarde im Gestus einer Gewissheit, die über einen Zeitraum von zwanzig Jahren buchstäblich erklettert wurde. Die Avantgardebewegungen, so lautet die Quintessenz, haben sich in Form von Stammbäumen ausdrücklich in eine geschichtliche Kontinuität gestellt. Damit aber sind Begriff und Geltung der Avantgarden insofern im Kern berührt, als diese wie eine „Vorhut” im Niemandsland der Geschichte zu agieren beanspruchten.
Nach seinem Siegeszug im Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts von den italienischen Futuristen beerbt, erlebte der Avantgarde-Begriff nach dem ersten Weltkrieg eine zweite Mobilisierung in Dada und De Stijl, um in Theo van Doesburgs emphatischen Militärjargon seine kanonische Formel zu finden; die Avantgarde sei als Speerspitze alle jener Kunstformen zu begreifen, die durch vollständig neue Ausdrucksformen weltweit „aufmarschierten”. Selbstbetrachtung der Künstlerbewegungen geriet zur „Truppenschau” einer visuellen Waffenbrüderschaft, die den Angriff auf die Tradition immer von neuem vortrug.
Das mitreißende Pathos dieses Angriffs auf die Kontinuität der Zeit war Teil eines Klimas, in dem sich Carl Schmitts Theorie des Ausnahmezustandes, Walter Benjamins Begriff des „Chocks” und Joseph A. Schumpeters Kategorie der „kreativen Zerstörung” ausbildeten. Sie alle waren gegen den zeitvergeudenden Zeitfluss der Kontinuität gerichtet. Seither war die Attacke auf die Geschichte ein Signum der Moderne, das im Bild der antihistoristischen Avantgarde die künstlerische Beglaubigung erkannte. Von Arnold Gehlen bis zu Peter Bürger, der mit dem Ausstieg aus der Geschichte allerdings auch die Verfügung über die Tradition verband, ist diese „große Erzählung” gepflegt worden.
Gegenüber diesem Grundmuster besitzt die These des Buches einen geradezu aberwitzigen Charakter. Der hochfliegende Traum des absolut Neuen, dies ist der schwer widerlegbare Tenor, war im Moment seiner Formulierung auf die Geschichte bezogen. Neu war nie die Kunst selbst, sondern die doppelpolige Reflexion ihrer Voraussetzungen.
Roberto Ohrts „Phantom Avantgarde” hat bereits 1990 entwickelt, dass die Avantgarde geradezu gezwungen war, Familienforschung zu betreiben, weil die Halbwertszeit jedweder Kunstbewegung rapide abnahm. Zum Zeichen dieser höchst produktiven Absurdität, die Geschichte als Kronzeugin ihrer eigenen Überwindung aufzurufen, wurde der Stammbaum. Was als Riss, Schnitt, Schock, „Jetzt” und „Now” auftrat, war das immer neue Austreiben frischer Triebe am Kunstbaum der Moderne.
Das genealogische Grundmotiv war ein Produkt der Beutezüge der Truppen Napoleons. In Paris kamen so unübersehbare, aus ihren historischen Bindungen entwurzelte Mengen an Werken von so viefältigen Stilformen und Schulen zusammen, dass die Systematisierung ein Gebot der puren Masse war. Im selben Zug galt es, dem Bildersturm der Revolution ein Geschichtsbewusstsein entgegenzustellen, das auch die Kunstwerke der Monarchien als schützenswertes Gut zu begreifen vermochte. Auf beide Motive reagierten die Schemata und Kunstbäume des Arcisse de Caumont, die sich vornehmlich der bedrohten mittelalterlichen Architektur Frankreichs widmeten, ebenso wie Ferdinand Oliviers Stammbäume der deutschen Kunst.
Auf zerfressenem Ast
Die Kunst des Mittelalters blieb ein Modell der Stammbäume auch im zwanzigsten Jahrhundert. Nicht zufällig war es der Mediävist Charles Rufus Morey, der seinen Schüler Alfred Barr mit Diagrammen der Kunstentwicklung dieser Epoche beeindruckte. Als erster Direktor des Museum of Modern Art in New York wurde dieser zu einer der drei Hauptfiguren der kunsthistorischen Diagrammatik. Seine Ausstellung „Cubism and Abstract Art” von 1936, die vermutlich wie kein anderes Ereignis das Bild der modernen Kunst geprägt hat, zeigte als Titelblatt ein von oben nach unten auf den Boden der Gegenwart sich hinziehendes Flussdiagramm, das die Zweige des Stammbaums mit den Vektoren von Schlachtplänen verband. Barrs Stammbaumskizzen berührten in ihrer montagehaften Form den Bereich der Kunst selbst, und seine militärischen Diagramme der Kunstgeschichte in Torpedoform hatten den Charakter einer surrealen Konzeptkunst. Die entschiedene Kritik des intellektuell zweifelsohne überragenden Kunsthistorikers Meyer Shapiro konnte diesen Aspekt nicht treffen.
Der Verwendung der diagrammatischen Motive durch Künstler, die das Denken in Kontinuitäten ironisierten und dennoch unentwegt neue Stammbäume und Beziehungsgeflechte produzierten, bildet den so überraschenden wie brillanten Hautptteil des Buches. Im Einklang mit dem Phänomen, dass die Diagrammkunst des zwanzigsten Jahrhunderts weitgehend aus Variationen futuristischer Motive bestand, entwickelt es mit seiner Fülle hier auch ein besonderes Tempo. Ausgerechnet Umberto Boccioni, dessen Simultan-Bewegungsbilder die Zeit in einzelne Momente zu pressen suchten, hat mehrfach Diagramme produziert, in denen er den Kampf gegen den Vergangenheitskult des „Passatismus” als Wurzel immer neuer Stammbäume plakatierte.
Die gewitzten Diagramme Francis Picabias boten bei aller Parodierung des futuristischen Mangels an Humor doch immer auch eigene Selbstinthronisationen, und dasselbe gilt für die surrealistische Hierarchisierung der Künstler. Diese Kanonbildung gibt der Verfasserin Gelegenheit, eine Geschichte des Rankings geistiger Leistung von der Frühmoderne bis in die Gegenwart zu skizzieren.
Zum zweiten bedeutenden Baumpfleger wurde der New Yorker Künstler Ad Reinhardt. Dass er bei Meyer Shapiro Kunstgeschichte studiert hat, hielt ihn nicht davon ab, nach dem Krieg Baumkarikaturen zu zeichnen, in denen er die abstrakte Kunst in prächtige Kronen auffächerte, wohingegen der Ast der figürlichen Künstler, vom Wurm zerfressen, abbrach. In den Baumbildern Reinhardts wurde der Kampf der Künstler als Auseinandersetzung von Holzfällern am Stammbaum der Kunstgeschichte ausgefochten.
In der Bundesrepublik der frühen sechziger Jahre trug die Münchner Künstlergruppe SPUR den Traditionsbruch mit unerhörter Insistenz vor, um sich selbst desto nachhaltiger zu historisieren; so hat HP Zimmer die kurze Verbindung der SPUR mit Guy Desbords Situationistischer Internationale und anderen Gruppen in seinen genealogischen Zeichnungen mit einer dynamischen Eindrehung des Baumes in eine Spiralform verbunden. Ein besonderes Verdienst von Schmidt-Burkhardts Werk liegt darin, dass es den selbst gesetzten historischen Stellenwert dieser Künstlergruppe aus der zeitlichen Distanz bekräftigt.
Nach Barr und Reinhardt erschließt die Verfasserin George Manciunas als dritten überragenden Stammbaumkünstler des zwanzigsten Jahrhunderts. Bereits vor zwei Jahren hat sie in einer Berliner Ausstellung zu zeigen verstanden, wie dieser Kopf der Fluxus-Bewegung die kunsthistorischen Stammbäume zu einer veritablen Kunstform entwickelt hat: Fluxus als bewegtes Baumdiagramm. Manciunas diagrammatisches Archiv ist in seiner Mischung aus Pedanterie, Manie und Expansionstrieb gleichermaßen beeindruckend wie irritierend, zumal es die Entwicklungen nicht etwa nach Jahren oder Epochen, sondern nach Tagen nachzeichnet.
Es mag fraglich sein, ob die abschließende Beschäftigung mit Anselm Kiefers Selbsteinordnung in Reihen von Vorbildern noch unmittelbar zum Thema gehört, aber im Verein mit Werken von Gerhard Merz, die den Kunstbaum als entblätterte Minimal Art monumentalisierten, ergibt sich eine eigene Variante der künstlerischen Genealogien.
In einer theoretischen Summe zieht Schmidt-Burkhardt mit Verve die Konsequenzen für die Schärfung der kunsthistorischen Methoden. So überzeugend sie dafür plädiert, die alte Geltung der Kunstgeschichte als allgemeiner Bildwissenschaft, wie sie bis 1933 bestanden hat und seit zirka vierzig Jahren wiedergewonnen wird, zu stärken, so entgeht auch sie der Gefahr nicht immer, die Beschäftigung mit dem Diagramm als paradigmatische Neuerung auszuweisen und damit die Legende, deren Zerstörung sie ihr Buch gewidmet hat, auf ihr eigenes Fach anzuwenden. Hier zeigt sich das Problem, dass die Fachgeschichte oftmals gerade jene Methoden unterschätzt, die sie in ihrer selbstverständlichen Praxis nicht zu theoretisieren brauchte; so war die Beschäftigung mit dem Mittelalter immer auch systematische Analyse von Diagrammen. Die Verfasserin hätte über Gabriele Bickendorfs Standardwerk zur Kunstgeschichte vor Winckelmann die Lücke zwischen dem siebzehnten und dem frühen neunzehnten Jahrhundert schließen können. Damit wären die Wurzeln von Caumonts Wiedergewinnung des Mittelalters deutlicher geworden. Schließlich fehlt der Hinweis auf evolutionäre Stammbäume der Biologie.
Kino der Metaphern
Angesichts der überbordenden Fülle des Werkes sind dies jedoch fast unfaire Einwände. Als kunsthistorische Habilitationsschrift der Freien Universität Berlin entstanden, bietet das Buch eine höchst eindrucksvolle Rekonstruktion der Avantgarde als Doppelbewegung von Zeitriss und Kontinuität. Der fortwährende Neubeginn bildete nicht nur Punktreihen immer neuer Nullsetzungen, sondern Linien kontinuierlicher Äste. Die Avantgarde wird in dieser Sicht nicht schwächer, sondern gewitzter, und dies versucht auch die Gestaltung des Buches nachzuvollziehen. Dem vorzüglichen Text korrespondieren mehr als zweihundert Abbildungen von Baumdiagrammen, die ein veritables Kino der künstlerischen und kunsthistorischen Metaphernbildung vorführen.
HORST BREDEKAMP
ASTRIT SCHMIDT-BURKHARDT: Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarde. Akademie Verlag, Berlin 2005. 473 Seiten, 64,80 Euro.
Genealogie des Neuen. Links: Nathaniel Pousette-Dart: Baumschema der zeitgenössischen amerikanischen Kunst, New York 1938; rechts: Alfred H. Barr: Diagramm zur Stilentwicklung von 1890 bis 1935. Ausstellungskatalog „Cubism and Abstract Art”, New York 1936.
Abb. aus dem bespr. Band
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
Die Tradition der Traditionsüberwinder: Astrit Schmidt-Burkhardts umwälzendes Buch über die Vorhut der Moderne
Selbstbewusster ist die Kunst der Moderne selten bedacht worden. Astrit Schmidt-Burkhardt entwickelt ihre umwälzende Untersuchung zur künstlerischen Avantgarde im Gestus einer Gewissheit, die über einen Zeitraum von zwanzig Jahren buchstäblich erklettert wurde. Die Avantgardebewegungen, so lautet die Quintessenz, haben sich in Form von Stammbäumen ausdrücklich in eine geschichtliche Kontinuität gestellt. Damit aber sind Begriff und Geltung der Avantgarden insofern im Kern berührt, als diese wie eine „Vorhut” im Niemandsland der Geschichte zu agieren beanspruchten.
Nach seinem Siegeszug im Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts von den italienischen Futuristen beerbt, erlebte der Avantgarde-Begriff nach dem ersten Weltkrieg eine zweite Mobilisierung in Dada und De Stijl, um in Theo van Doesburgs emphatischen Militärjargon seine kanonische Formel zu finden; die Avantgarde sei als Speerspitze alle jener Kunstformen zu begreifen, die durch vollständig neue Ausdrucksformen weltweit „aufmarschierten”. Selbstbetrachtung der Künstlerbewegungen geriet zur „Truppenschau” einer visuellen Waffenbrüderschaft, die den Angriff auf die Tradition immer von neuem vortrug.
Das mitreißende Pathos dieses Angriffs auf die Kontinuität der Zeit war Teil eines Klimas, in dem sich Carl Schmitts Theorie des Ausnahmezustandes, Walter Benjamins Begriff des „Chocks” und Joseph A. Schumpeters Kategorie der „kreativen Zerstörung” ausbildeten. Sie alle waren gegen den zeitvergeudenden Zeitfluss der Kontinuität gerichtet. Seither war die Attacke auf die Geschichte ein Signum der Moderne, das im Bild der antihistoristischen Avantgarde die künstlerische Beglaubigung erkannte. Von Arnold Gehlen bis zu Peter Bürger, der mit dem Ausstieg aus der Geschichte allerdings auch die Verfügung über die Tradition verband, ist diese „große Erzählung” gepflegt worden.
Gegenüber diesem Grundmuster besitzt die These des Buches einen geradezu aberwitzigen Charakter. Der hochfliegende Traum des absolut Neuen, dies ist der schwer widerlegbare Tenor, war im Moment seiner Formulierung auf die Geschichte bezogen. Neu war nie die Kunst selbst, sondern die doppelpolige Reflexion ihrer Voraussetzungen.
Roberto Ohrts „Phantom Avantgarde” hat bereits 1990 entwickelt, dass die Avantgarde geradezu gezwungen war, Familienforschung zu betreiben, weil die Halbwertszeit jedweder Kunstbewegung rapide abnahm. Zum Zeichen dieser höchst produktiven Absurdität, die Geschichte als Kronzeugin ihrer eigenen Überwindung aufzurufen, wurde der Stammbaum. Was als Riss, Schnitt, Schock, „Jetzt” und „Now” auftrat, war das immer neue Austreiben frischer Triebe am Kunstbaum der Moderne.
Das genealogische Grundmotiv war ein Produkt der Beutezüge der Truppen Napoleons. In Paris kamen so unübersehbare, aus ihren historischen Bindungen entwurzelte Mengen an Werken von so viefältigen Stilformen und Schulen zusammen, dass die Systematisierung ein Gebot der puren Masse war. Im selben Zug galt es, dem Bildersturm der Revolution ein Geschichtsbewusstsein entgegenzustellen, das auch die Kunstwerke der Monarchien als schützenswertes Gut zu begreifen vermochte. Auf beide Motive reagierten die Schemata und Kunstbäume des Arcisse de Caumont, die sich vornehmlich der bedrohten mittelalterlichen Architektur Frankreichs widmeten, ebenso wie Ferdinand Oliviers Stammbäume der deutschen Kunst.
Auf zerfressenem Ast
Die Kunst des Mittelalters blieb ein Modell der Stammbäume auch im zwanzigsten Jahrhundert. Nicht zufällig war es der Mediävist Charles Rufus Morey, der seinen Schüler Alfred Barr mit Diagrammen der Kunstentwicklung dieser Epoche beeindruckte. Als erster Direktor des Museum of Modern Art in New York wurde dieser zu einer der drei Hauptfiguren der kunsthistorischen Diagrammatik. Seine Ausstellung „Cubism and Abstract Art” von 1936, die vermutlich wie kein anderes Ereignis das Bild der modernen Kunst geprägt hat, zeigte als Titelblatt ein von oben nach unten auf den Boden der Gegenwart sich hinziehendes Flussdiagramm, das die Zweige des Stammbaums mit den Vektoren von Schlachtplänen verband. Barrs Stammbaumskizzen berührten in ihrer montagehaften Form den Bereich der Kunst selbst, und seine militärischen Diagramme der Kunstgeschichte in Torpedoform hatten den Charakter einer surrealen Konzeptkunst. Die entschiedene Kritik des intellektuell zweifelsohne überragenden Kunsthistorikers Meyer Shapiro konnte diesen Aspekt nicht treffen.
Der Verwendung der diagrammatischen Motive durch Künstler, die das Denken in Kontinuitäten ironisierten und dennoch unentwegt neue Stammbäume und Beziehungsgeflechte produzierten, bildet den so überraschenden wie brillanten Hautptteil des Buches. Im Einklang mit dem Phänomen, dass die Diagrammkunst des zwanzigsten Jahrhunderts weitgehend aus Variationen futuristischer Motive bestand, entwickelt es mit seiner Fülle hier auch ein besonderes Tempo. Ausgerechnet Umberto Boccioni, dessen Simultan-Bewegungsbilder die Zeit in einzelne Momente zu pressen suchten, hat mehrfach Diagramme produziert, in denen er den Kampf gegen den Vergangenheitskult des „Passatismus” als Wurzel immer neuer Stammbäume plakatierte.
Die gewitzten Diagramme Francis Picabias boten bei aller Parodierung des futuristischen Mangels an Humor doch immer auch eigene Selbstinthronisationen, und dasselbe gilt für die surrealistische Hierarchisierung der Künstler. Diese Kanonbildung gibt der Verfasserin Gelegenheit, eine Geschichte des Rankings geistiger Leistung von der Frühmoderne bis in die Gegenwart zu skizzieren.
Zum zweiten bedeutenden Baumpfleger wurde der New Yorker Künstler Ad Reinhardt. Dass er bei Meyer Shapiro Kunstgeschichte studiert hat, hielt ihn nicht davon ab, nach dem Krieg Baumkarikaturen zu zeichnen, in denen er die abstrakte Kunst in prächtige Kronen auffächerte, wohingegen der Ast der figürlichen Künstler, vom Wurm zerfressen, abbrach. In den Baumbildern Reinhardts wurde der Kampf der Künstler als Auseinandersetzung von Holzfällern am Stammbaum der Kunstgeschichte ausgefochten.
In der Bundesrepublik der frühen sechziger Jahre trug die Münchner Künstlergruppe SPUR den Traditionsbruch mit unerhörter Insistenz vor, um sich selbst desto nachhaltiger zu historisieren; so hat HP Zimmer die kurze Verbindung der SPUR mit Guy Desbords Situationistischer Internationale und anderen Gruppen in seinen genealogischen Zeichnungen mit einer dynamischen Eindrehung des Baumes in eine Spiralform verbunden. Ein besonderes Verdienst von Schmidt-Burkhardts Werk liegt darin, dass es den selbst gesetzten historischen Stellenwert dieser Künstlergruppe aus der zeitlichen Distanz bekräftigt.
Nach Barr und Reinhardt erschließt die Verfasserin George Manciunas als dritten überragenden Stammbaumkünstler des zwanzigsten Jahrhunderts. Bereits vor zwei Jahren hat sie in einer Berliner Ausstellung zu zeigen verstanden, wie dieser Kopf der Fluxus-Bewegung die kunsthistorischen Stammbäume zu einer veritablen Kunstform entwickelt hat: Fluxus als bewegtes Baumdiagramm. Manciunas diagrammatisches Archiv ist in seiner Mischung aus Pedanterie, Manie und Expansionstrieb gleichermaßen beeindruckend wie irritierend, zumal es die Entwicklungen nicht etwa nach Jahren oder Epochen, sondern nach Tagen nachzeichnet.
Es mag fraglich sein, ob die abschließende Beschäftigung mit Anselm Kiefers Selbsteinordnung in Reihen von Vorbildern noch unmittelbar zum Thema gehört, aber im Verein mit Werken von Gerhard Merz, die den Kunstbaum als entblätterte Minimal Art monumentalisierten, ergibt sich eine eigene Variante der künstlerischen Genealogien.
In einer theoretischen Summe zieht Schmidt-Burkhardt mit Verve die Konsequenzen für die Schärfung der kunsthistorischen Methoden. So überzeugend sie dafür plädiert, die alte Geltung der Kunstgeschichte als allgemeiner Bildwissenschaft, wie sie bis 1933 bestanden hat und seit zirka vierzig Jahren wiedergewonnen wird, zu stärken, so entgeht auch sie der Gefahr nicht immer, die Beschäftigung mit dem Diagramm als paradigmatische Neuerung auszuweisen und damit die Legende, deren Zerstörung sie ihr Buch gewidmet hat, auf ihr eigenes Fach anzuwenden. Hier zeigt sich das Problem, dass die Fachgeschichte oftmals gerade jene Methoden unterschätzt, die sie in ihrer selbstverständlichen Praxis nicht zu theoretisieren brauchte; so war die Beschäftigung mit dem Mittelalter immer auch systematische Analyse von Diagrammen. Die Verfasserin hätte über Gabriele Bickendorfs Standardwerk zur Kunstgeschichte vor Winckelmann die Lücke zwischen dem siebzehnten und dem frühen neunzehnten Jahrhundert schließen können. Damit wären die Wurzeln von Caumonts Wiedergewinnung des Mittelalters deutlicher geworden. Schließlich fehlt der Hinweis auf evolutionäre Stammbäume der Biologie.
Kino der Metaphern
Angesichts der überbordenden Fülle des Werkes sind dies jedoch fast unfaire Einwände. Als kunsthistorische Habilitationsschrift der Freien Universität Berlin entstanden, bietet das Buch eine höchst eindrucksvolle Rekonstruktion der Avantgarde als Doppelbewegung von Zeitriss und Kontinuität. Der fortwährende Neubeginn bildete nicht nur Punktreihen immer neuer Nullsetzungen, sondern Linien kontinuierlicher Äste. Die Avantgarde wird in dieser Sicht nicht schwächer, sondern gewitzter, und dies versucht auch die Gestaltung des Buches nachzuvollziehen. Dem vorzüglichen Text korrespondieren mehr als zweihundert Abbildungen von Baumdiagrammen, die ein veritables Kino der künstlerischen und kunsthistorischen Metaphernbildung vorführen.
HORST BREDEKAMP
ASTRIT SCHMIDT-BURKHARDT: Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarde. Akademie Verlag, Berlin 2005. 473 Seiten, 64,80 Euro.
Genealogie des Neuen. Links: Nathaniel Pousette-Dart: Baumschema der zeitgenössischen amerikanischen Kunst, New York 1938; rechts: Alfred H. Barr: Diagramm zur Stilentwicklung von 1890 bis 1935. Ausstellungskatalog „Cubism and Abstract Art”, New York 1936.
Abb. aus dem bespr. Band
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Als "umwälzende Untersuchung" zur künstlerischen Avantgarde würdigt Rezensent Horst Bredekamp diese kunsthistorische Habilitationsschrift von Astrit Schmidt-Burkhardt. Die Autorin kann nach Ansicht Bredekamps überzeugend zeigen, dass der Anspruch der Avantgardebewegungen der Moderne, mit der Tradition zu brechen und völlig neue Ausdrucksformen zu finden, im Moment seiner Formulierung auf die Geschichte bezogen war. "Neu war nie die Kunst selbst", formuliert Bredekamp pointiert, "sondern die doppelpolige Reflexion ihrer Voraussetzungen". Im Hauptteil des Buchs, den er als ebenso "überraschend" wie "brillant" lobt, untersuche die Autorin die Verwendung diagrammatischer Motive durch Künstler, die das Denken in Kontinuitäten ironisierten und dennoch unentwegt neue Stammbäume und Beziehungsgeflechte produzierten. Im Mittelpunkt sieht Bredekamp dabei drei Hauptfiguren kunsthistorischer Diagrammatik: Alfred Barr, der als erster Direktor des Museum of Modern Art in New York mit Stammbaum-Diagrammen das Bild der modernen Kunst prägte, der New Yorker Künstler Ad Reinhardt, der Baumkarikaturen zeichnete, in denen er die abstrakte Kunst in prächtige Kronen auffächerte, und George Manciunas, Kopf der Fluxus-Bewegung, der die kunsthistorischen Stammbäume zu einer veritablen Kunstform entwickelte. Zusammenfassend charakterisiert Bredekamp das Werk als "höchst eindrucksvolle Rekonstruktion der Avantgarde als Doppelbewegung von Zeitriss und Kontinuität". Dabei hebt er hervor, dass dem "vorzüglichen" Text mehr als zweihundert Abbildungen von Baumdiagrammen korrespondieren, "die ein veritables Kino der künstlerischen und kunsthistorischen Metaphernbildung vorführen".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Astrit Schmidt-Burkhardt hat jetzt in einer herrlich üppigen Habilitation alle "Stammbäume der Kunst" aufgestöbert, die in den letzten Jahrhunderten entworfen wurden, um Ordnung ins Astgewirr der Kunst zu bringen." Monopol, Nr. 6/2005 "Doch hat Astrid Schmidt-Burkhardt mit dem Thema ihrer Habilitation einen Nerv gegenwärtiger künstlerischer Interessen getroffen." sehepunkte 5/2005, Nr. 9 "Als kunsthistorische Habilitationsschrift der Freien Universität Berlin entstanden, bietet das Buch eine höchst eindrucksvolle Rekonstruktion der Avantgarde als Doppelbewegung von Zeitriss und Kontinuität. [...] Dem vorzüglichen Text korrespondieren mehr als 200 Abbildungen von Baumdiagrammen, die ein veritables Kino der künstlerischen und kunsthistorischen Metaphernbildung vorführen." Horst Bredekamp in: Süddeutsche Zeitung, 31.08.2005