Produktdetails
- Verlag: Wunderhorn
- 2000.
- Seitenzahl: 48
- Deutsch
- Abmessung: 225mm
- Gewicht: 194g
- ISBN-13: 9783884231661
- ISBN-10: 3884231669
- Artikelnr.: 24233709
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2000Lob der Flasche
Jacques Roubauds Gedichte lassen Logik lügen
Poesie und Mathematik wissen selber, daß sie nicht gerade Artverwandte sind, aber manchmal versuchen sie, miteinander zu liebäugeln. Der 1931 geborene Jacques Roubaud ist Mathematiker und seit Jahren Mitglied der französischen Gruppe "Oulipo", der "Werkstatt für potentielle Literatur". Diese locker organisierte Werkstatt pflegt eine "Kunst der Kombinatorik" und weist der Mathematik "als begrenzendes und zugleich entscheidendes Element der oulipotischen Methode" eine besondere Rolle zu. Daß den süßen Musen damit der Abschied geblasen wird, mag manchen Verehrer lyrischer Lichtblitze in der Besinnungslosigkeit der Tage verdrießen. Zur Kenntnis nehmen darf man die Arbeit des "Oulipo" dennoch.
Ein schmales Gedichtbändchen der Edition Künstlerhaus im Wunderhorn Verlag führt einen untypischen Roubaud vor, der den typischen Oulipisten nicht ganz verdrängen kann. Die Lyrikerin Ursula Krechel bemüht sich in ihrem Nachtwort redlich, die Verbindung von Lyrik und Mathematik zu erkennen: "Sie ist nicht auf den ersten Blick sichtbar, aber sie kann, wie alles in der Dichtung und in der Mathematik, angenommen und behauptet werden. In beiden Disziplinen gilt es, Relationen zu bilden, Gleichungen als Metaphern zu behandeln, zu forschen mit einer eigens entwickelten Sprache." In der ersten Hälfte des Bändchens sind Roubauds Gedichte der Stadt Paris gewidmet. Es sind fast nostalgisch zu nennende Besinnungen auf Straßen, Standorte und großstädtisches Zubehör. Statt Zebrastreifen hatten die Pariser lange Zeit diese merkwürdigen "passages cloutés", mit großen, in den Asphalt eingelassenen Metallnägeln markierte Furten durch den Straßenstrom. Doch Paris verändert sich schneller als das Herz einer Frau, wie Baudelaire bemerkte, und deshalb sind sogar diese schrulligen Nägel eine bedrohte Spezies. Für Roubaud wird es damit Zeit, sich fast zärtlich über sie zu beugen. Oder über die beiden letzten Exemplare des Urmeters, der Ende des achtzehnten Jahrhunderts in sechzehn Mustern an den belebtesten Stellen von Paris ausgestellt wurde, damit das französische Volk endlich daran Maß nehme. An einem von ihnen, im Jardin du Luxembourg gelegen, hatte der zwölfjährige Roubaud 1944 dies noch tun können. In diesem vielleicht schönsten Text des Bändchens werden die Themen des Wachsens und des Messens, aber auch des altersbedingten Schrumpfens ebenso hintergründig wie vergnüglich durchgespielt. Witzig werden auch touristische Pilgerzentren aufgesucht, nicht die Mona Lisa selber, sondern die Kopie eines Sonntagsmalers in einem Café. Oder dann die für Touristen obligate Kirche Sacré-Coeur, von den Parisern böse als "le biberon" verhöhnt: "Sacré-Coeur! / ich sehe dich / o Nuckelflasche / mit deinem großen kreuzförmigen Nippel".
In den "Sechs logischen Stücken" der zweiten Hälfte des Bändchens schlüpft aus dem überraschenden Roubaud doch wieder ein Kombinatoriker, der allerlei logische Litaneien abspult: "Aber da noch niemand gleichzeitig geglaubt hat, daß es regnete und daß es nicht regnete, ist es unmöglich, daß ich glaube, daß ich glaube, daß es regnet, wohl wissend, daß es nicht regnet." Ursula Krechel will in diesem logisch-meteorologischen Geplänkel "schwindelerregende Ergebnisse" ausgemacht haben. Man wünscht ihr, sie habe recht, und das Gedicht "Es regnet" sei nicht bloß lahme Logik oder lieber Leerlauf. Wer solchen Regentröpfchen-Exerzitien nichts abgewinnen kann, darf sich wenigstens an der Nuckelflasche laben. Oder mit Gewinn am Urmeter Maß nehmen.
RALPH DUTLI
Jacques Roubaud: "Stand der Orte". Gedichte. Aus dem Französischen von Ursula Krechel. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2000. 48 S., geb., 26,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Jacques Roubauds Gedichte lassen Logik lügen
Poesie und Mathematik wissen selber, daß sie nicht gerade Artverwandte sind, aber manchmal versuchen sie, miteinander zu liebäugeln. Der 1931 geborene Jacques Roubaud ist Mathematiker und seit Jahren Mitglied der französischen Gruppe "Oulipo", der "Werkstatt für potentielle Literatur". Diese locker organisierte Werkstatt pflegt eine "Kunst der Kombinatorik" und weist der Mathematik "als begrenzendes und zugleich entscheidendes Element der oulipotischen Methode" eine besondere Rolle zu. Daß den süßen Musen damit der Abschied geblasen wird, mag manchen Verehrer lyrischer Lichtblitze in der Besinnungslosigkeit der Tage verdrießen. Zur Kenntnis nehmen darf man die Arbeit des "Oulipo" dennoch.
Ein schmales Gedichtbändchen der Edition Künstlerhaus im Wunderhorn Verlag führt einen untypischen Roubaud vor, der den typischen Oulipisten nicht ganz verdrängen kann. Die Lyrikerin Ursula Krechel bemüht sich in ihrem Nachtwort redlich, die Verbindung von Lyrik und Mathematik zu erkennen: "Sie ist nicht auf den ersten Blick sichtbar, aber sie kann, wie alles in der Dichtung und in der Mathematik, angenommen und behauptet werden. In beiden Disziplinen gilt es, Relationen zu bilden, Gleichungen als Metaphern zu behandeln, zu forschen mit einer eigens entwickelten Sprache." In der ersten Hälfte des Bändchens sind Roubauds Gedichte der Stadt Paris gewidmet. Es sind fast nostalgisch zu nennende Besinnungen auf Straßen, Standorte und großstädtisches Zubehör. Statt Zebrastreifen hatten die Pariser lange Zeit diese merkwürdigen "passages cloutés", mit großen, in den Asphalt eingelassenen Metallnägeln markierte Furten durch den Straßenstrom. Doch Paris verändert sich schneller als das Herz einer Frau, wie Baudelaire bemerkte, und deshalb sind sogar diese schrulligen Nägel eine bedrohte Spezies. Für Roubaud wird es damit Zeit, sich fast zärtlich über sie zu beugen. Oder über die beiden letzten Exemplare des Urmeters, der Ende des achtzehnten Jahrhunderts in sechzehn Mustern an den belebtesten Stellen von Paris ausgestellt wurde, damit das französische Volk endlich daran Maß nehme. An einem von ihnen, im Jardin du Luxembourg gelegen, hatte der zwölfjährige Roubaud 1944 dies noch tun können. In diesem vielleicht schönsten Text des Bändchens werden die Themen des Wachsens und des Messens, aber auch des altersbedingten Schrumpfens ebenso hintergründig wie vergnüglich durchgespielt. Witzig werden auch touristische Pilgerzentren aufgesucht, nicht die Mona Lisa selber, sondern die Kopie eines Sonntagsmalers in einem Café. Oder dann die für Touristen obligate Kirche Sacré-Coeur, von den Parisern böse als "le biberon" verhöhnt: "Sacré-Coeur! / ich sehe dich / o Nuckelflasche / mit deinem großen kreuzförmigen Nippel".
In den "Sechs logischen Stücken" der zweiten Hälfte des Bändchens schlüpft aus dem überraschenden Roubaud doch wieder ein Kombinatoriker, der allerlei logische Litaneien abspult: "Aber da noch niemand gleichzeitig geglaubt hat, daß es regnete und daß es nicht regnete, ist es unmöglich, daß ich glaube, daß ich glaube, daß es regnet, wohl wissend, daß es nicht regnet." Ursula Krechel will in diesem logisch-meteorologischen Geplänkel "schwindelerregende Ergebnisse" ausgemacht haben. Man wünscht ihr, sie habe recht, und das Gedicht "Es regnet" sei nicht bloß lahme Logik oder lieber Leerlauf. Wer solchen Regentröpfchen-Exerzitien nichts abgewinnen kann, darf sich wenigstens an der Nuckelflasche laben. Oder mit Gewinn am Urmeter Maß nehmen.
RALPH DUTLI
Jacques Roubaud: "Stand der Orte". Gedichte. Aus dem Französischen von Ursula Krechel. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2000. 48 S., geb., 26,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Dass Roubaud nicht nur Dichter, sondern auch Mathematiker ist, scheint für Guido Graf von besonderer Bedeutung zu sein. So hebt er wiederholt die Logik und die Rolle von "Zeichen, Zahlen und Buchstaben" hervor, die in Roubauds Dichtung eine Rolle spielen. Darüber hinaus betont Graf das Vorläufige von Bildern und Erinnerungen in den Gedichten, etwa wenn der Autor durch Paris flaniert und dabei die sich stets wandelnde Wahrnehmung beschreibt. Wir werden `Kunstschmiede der Erinnerung`, sagt Roubaud selbst. Graf weist darauf hin, dass die Dichtung jedoch nicht nur von Melancholie geprägt ist, sondern auch von dem spielerischen Umgang mit der "Unzulänglichkeit der Sprache", was ihm offensichtlich ausnehmend gut gefällt. Die Übersetzung durch Ursula Krechel scheint ihm weniger nah am Original orientiert und nicht immer so genau wie die, die Stefan Barmann früher bereits zu einigen der Texte vorgelegt hat. Allerdings sei das von der Übersetzerin auch nicht beabsichtigt, da sie - nach ihren eigenen Worten - eher den `leichten und luftigen Ton` der Dichtung wiedergeben wollte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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